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DAS BLÄTTCHEN/1839: Shakespeares Tyrannen - eine Machtkunde


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
21. Jahrgang | Nummer 21 | 8. Oktober 2018

Shakespeares Tyrannen - eine Machtkunde

von Manfred Orlick


"Wie ist es möglich, dass ein ganzes Land einem unberechenbaren Tyrannen in die Hände fällt?" - Dieser zutiefst beunruhigenden Frage war William Shakespeare in vielen seiner Stücke nachgegangen. Denken wir nur an "Richard III." oder "Macbeth", aber auch an "Coriolan" und "Julius Cäsar". Wie kommt solch eine Gestalt auf den Thron? Und wie kann es sein, dass sich die Masse von einem Führer angezogen fühlt, der zum Regieren völlig ungeeignet ist, der sich vielmehr durch Hinterhältigkeit, Niedertracht und Verlogenheit auszeichnet.

Der amerikanische Shakespeare-Experte Stephen Greenblatt (unter anderem die Biografie "Will in der Welt", 2015) zeigt in seinem neuen Buch "Der Tyrann", wie präzise und genial der englische Dramatiker in seinen Dramen das Wesen der Tyrannei eingefangen hat - und was auch nach 400 Jahren noch so abläuft. Shakespeare hat eine historische Distanz gewählt - nicht nur aus Vorsicht (Ben Jonson landete im Gefängnis und Christopher Marlowe wurde unter mysteriösen Umständen ermordet), sondern um mit dem Kunstgriff der Fiktion die Wahrheit aufzudecken. Greenblatt beleuchtet daher zunächst die Regierungszeit Elisabeth I. mit ihrem aufgeblähten und gut funktionierenden Spitzel- und Geheimsystem.

Bereits in seinen frühen Stücken (so in der Trilogie "Heinrich VI.") folgte Shakespeare dem verschlungenen Pfad der Politik, zeigte, wie mit der Erzeugung von Chaos die Machtergreifung des Tyrannen vorbereitet wird. Geschickt wird auch der Unmut der Ärmsten der Armen ausgenutzt und die Menge mit Volksreden weiter angestachelt, um einen "Sturm zu entfachen". Dabei empfindet die Oberschicht nur Abscheu für das einfache Volk.

In "Richard III." entfaltete Shakespeare besonders eindrucksvoll die Persönlichkeit des egozentrischen Tyrannen, geprägt von Arroganz und grenzenloser Selbstliebe, gepaart mit puren Machthunger, Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit dem Gesetz gegenüber. Er beherrscht meisterhaft die Klaviatur von Gewalt, Betrug und Manipulation; dabei besitzt er die "theatralischen Gaben eines Hochstaplers und Bauernfängers". In "Macbeth" versuchte Shakespeare ebenfalls zu begreifen, wie ein Tyrann fühlt. Der zunächst standhafte und zuverlässige Macbeth, zerrissen zwischen Selbstliebe und Selbsthass, wird zwar erst durch seine Frau zum Mordkomplott angestiftet, das er aber schließlich selbst soweit treibt, nicht nur die gegenwärtige, sondern auch die zukünftige Generation zu vernichten.

In "König Lear" und in seiner Romanze "Das Wintermärchen" setzte sich Shakespeare ebenfalls mit der Problematik des Tyrannen auseinander - hier mit legitimen Herrschern, die lebenslang dem Wahnsinn der Macht verfallen waren und im Alter aus Eitelkeit selbst in Wahnsinn und Verzweiflung versinken. Lear setzt dabei eine Entwicklung in Gang, die in Gewalt und Chaos endet. Bemerkenswert, dass in beiden Stücken ausgerechnet zwei Frauen (Cordelia und Paulina) dem herrischen Verlangen gegenübertreten. Sie verkörpern die sittliche Pflicht des Menschen, während der Wahnsinn der Herrscher im Grunde genommen ein sittliches Versagen ist.

In zehn Kapiteln analysiert Greenblatt die Aspekte des Tyrannen-Seins in den Shakespeare-Dramen, wobei er immer wieder Vergleiche zur historischen Situation des elisabethanischen Herrschaftsapparats herstellt. Der Untertitel "Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert" und der Covertext "Was uns Shakespeare über Trump, Putin & Co. verrät" versprechen zwar Bezüge zur aktuellen Weltpolitik, die sind aber nur zwischen den Zeilen zu finden.

Wollte Greenblatt sich vielleicht wie Shakespeare hinter der historischen Distanz verstecken? Oder war das nur ein verkaufsförderndes Werbeargument des Verlages? Nichtsdestotrotz liefern die reichlich 200 Seiten verblüffende Einsichten - die aktuellen Zusammenhänge muss der Leser allerdings selber herstellen. Ihm gibt der Autor abschließend den Rat und die Aufforderung auf den Weg: "Die größte Chance, den kollektiven Anstand wiederzubeleben, lag für ihn [Shakespeare] im politischen Handeln gewöhnlicher Bürger".

Stephen Greenblatt: Der Tyrann - Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert, Siedler Verlag München 2018, 219 Seiten, 20,00 Euro.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 21/2018 vom 8. Oktober 2018, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2018

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