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DAS BLÄTTCHEN/941: Kleine Piratenkunde


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 2/2009 - 19. Januar 2009

Kleine Piratenkunde

Von Helmut Höge


Ein leichter Korken, tanzt ich dahin auf steiler Welle. (Arthur Rimbaud: Le Bateau ivre)


Der Dichter und Abenteurer Rimbaud trieb sich, bevor er 37jährig starb, als Waffenhändler dort herum, wo heute die somalischen Piraten ihr Hinterland haben. Während ihre Hintermänner - wenn man so will, die wirklichen Piraten - in Dubai und den Vereinigten Arabischen Emiraten leben sollen, entlang der früheren Piratenküste also. Das Gebiet, in dem die Seeräuber navigieren, ist größer als das Mittelmeer und das Rote Meer zusammen, sie konzentrieren sich laut FAZ um die "Piratenhochburg Eyl". Ihre Zahl wird auf über tausend geschätzt. Es sind ehemalige Fischer mit Meereskenntnissen, die wegen der systematischen Überfischung der Küstengewässer kein Einkommen mehr hatten, Milizionäre, die zuletzt immer schlechter bezahlt wurden, und Lehrer mit Sprachkenntnissen - für die Lösegeldverhandlungen. Für jedes gekaperte Schiff verlangten sie im Schnitt sechs Millionen Dollar. Politischen Schutz an Land und Absatz für ihre Kaperware fänden sie bei den mächtigen somalischen Stämmen.

Der Dichter und Piratenforscher Bert Papenfuß meint, daß es nur so lange Piraten gab, wie sich die Staaten noch nicht konsolidiert hatten; ab da handelte es sich um bloße Verbrecher und Terroristen. Andersherum hätten Failed States auch immer wieder das Piratentum neu entfacht - wie jetzt vor der somalischen Küste und so wie einst bei den südslawischen Uskoken, den letzten Kämpfen gegen die Türken, die sich schließlich auf einige Adriainseln zurückzogen, Schiffe bauten und als Piraten osmanische Frachter überfielen. Nachdem Venedig ihnen die Unterstützung entzogen hatte, überfielen sie ab 1566 auch christliche Schiffe.

Abenteurer aus ganz Europa schlossen sich ihnen an, die Uskoken waren jedoch aus Not Piraten geworden: Überfälle sind unsere Landwirtschaft! Immer wieder verhandelten sie mit Österreich um Ansiedlungsgebiete, vergeblich. Sie wollten seßhaft und wieder Bauern werden. Die jugoslawienbegeisterte Autorin Rebecca West schreibt: "Sie wurden in die Piraterie wie in ein Gefängnis gezwungen, von Mächten, die vorgaben, über ihre Verbrechen entsetzt zu sein." Der Piratenforscher Ronald Voullié würde sie wohl nicht einmal als Verbrecher bezeichnen, denn sie gehörten zur "Bruderschaft des Meeres", waren also, wie viele Seeräuber vor und nach ihnen, "Likedeeler" (Gleichteiler).

In der Nord- und Ostsee galt das auch für die Vitalienbrüder des Klaus Störtebeker. Diese wurden um 1400 von der Hanse vernichtet. Sie sind für die Friesen, die von ihnen profitierten, noch heute Helden. Der DDR-Geschichtsschreibung galten sie als proletarisch-sozialistische Vorkämpfer. Ihre Führungstroika wurde für die "Arbeiterfestspiele" auf Rügen dementsprechend besetzt: "Störtebekers 'Chefideologe' Magister Wigbold, das war der Kurt Hager, Goedeke, der Haudegen, Mielke und Störtebeker selbst die Lichtgestalt - Honecker." So sieht es rückblickend der heutige Intendant der "Störtebeker-Festspiele" auf Rügen, Peter Hicks.

Die Piraterie, der Raubüberfall, steht laut Karl Marx am Anfang jeder ursprünglichen Akkumulation. Meist kennt man nur die gescheiterten Seeräuber, also diejenigen von ihnen, die gefangengenommen und getötet wurden. Unbekannt sind dagegen all jene Freibeuter geblieben, die erfolgreich waren, also mit ihrer Prise (Beute) entkommen konnten - und ehrenwerte Geschäftsleute wurden. Denen also die ursprüngliche Akkumulation im Sinne von Marx gelang.

Im Jahr 1993 wurden von Peenemünde vierzig von der Bundeswehr ausrangierte Kriegsschiffe der NVA nach Indonesien verkauft. Nach Protesten von Pazifisten mußte sich die Regierung Suharto verpflichten, sie in ihren Gewässern nur gegen "Piraten und Schmuggler", die dort "Sea Gypsies" (Seezigeuner) genannt werden, einzusetzen (nach 1945 hatten die Indonesier selbst ihren Unabhängigkeitskampf erst einmal als Piraten und Schmuggler mit englischen Schiffen geführt, gegen Japaner und Holländer).

Um Peenemünde herum war ab 1945 nach dem Failed State Großdeutschland ebenfalls eine der Piraterie günstige - nämlich unübersichtliche - Situation entstanden. Hier waren es eine Frau Gnahb und ihr Sohn Otto, die mit einem Fischkutter den "Stückgutverkehr" zwischen den Schwarzmärkten entlang der Ostseeinseln besorgten, von den Russen geduldet. Sogar ein Shanty von dieser und zugleich über diese "Königin der Ostseepiraten" wurde gesungen.

Als die DDR 1989 unterging, entstand noch einmal eine ähnliche Situation. Im Jahr 1993 reimten der Lausitzer Baggerführer Gundermann und seine "Seilschaft" in einem Lied bereits "Piratenschatz" auf "Arbeitsplatz". Seit Beendigung der Privatisierungstätigkeit der Treuhand geht es in Ostdeutschland aber nicht mehr um Arbeitsplätze, sondern um Immobilien. Beim Anschluß Ost wurde vor allem mit Abschreibungsmöglichkeiten, "Sonder-Afa" genannt, operiert. Auch in Gundermanns Braunkohlerevier, das man in eine Lausitzer Seenplatte verwandeln will, geht es nur noch um kostbare Uferimmobilien. Und in dieser Spannung zwischen den meist aus dem Westen stammenden neuen Grundstücksbesitzern und den arbeitslos gewordenen jungen Ostlern ("Freedom is if there is nothing left to lose", wie es in einem alten Neonazi-Lied heißt) baut sich ein neues Piratenphänomen auf.

Bereits 1998 traf ich an der Mecklenburgischen Seenplatte die ersten Binnensee-Freibeuter. Die beiden Yachtbesitzer orientierten sich äußerlich an der Fernsehserie "Miami Vice", innerlich liebäugelten sie jedoch mit dem Verbrechen. Der eine hatte bereits zu DDR-Zeiten wegen "Arbeitsverweigerung" im Knast gesessen, der andere bekommt noch heute eine Gänsehaut, wenn jemand in seiner Gegenwart von ehrlicher Arbeit spricht. Beide lebten vom "Tschintschen" in Ufernähe. Ihre Gewinnspannen waren an guten Tagen höher als die monatlichen Einkünfte der Saisonkräfte des Malchower Biergartens, wo ihre Yacht "Bounty" an jenem Abend angelegt hatte. Wenn man weiter nach Rügen fährt, kommt man an vielen Loser-Kneipen vorbei, die "Störti", "Zum Störtebeker" oder "De Likedeelers" heißen, und ein in Stralsund gebrautes Bier namens "Störtebeker" wird als "Bier der Gerechten" beworben.

Piraten müssen stets auf Kollisionskurs gehen. Hinter ihnen standen aber oft ganze "Companies", seriöse große Kapitalgeber also. Dies war besonders in Mittelamerika der Fall, wo es ein Pirat dann auch schaffte, berühmt zu werden, ohne zu scheitern: Henry Morgan. Er wurde später Gouverneur von Jamaica.

Die Liste der erfolgreichen Investoren in Kapergeschäfte ist lang. Sogar Voltaire beteiligte sich an einer auf Sklavenhandel spezialisierten "Company". Die Liste der Failed States wird auch immer länger. Im Jahr 1984 gab es weltweit fünfzig Fälle von Piraterie, 1997 waren es 250 und 2000 bereits 471. Deutschland beteiligt sich nun mit einem eigenen Truppenkontingent an der multinationalen Seeräuberjagd, die 1.400 Marinesoldaten bekommen pro Tag und Mann 110 Euro für ihren Einsatz. In der UNO setzt sich dagegen langsam der Plan durch, das Problem von der Landseite aus zu lösen. Welches Problem?


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 2, 12. Jg., 19. Januar 2009, S. 4-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2009