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GRASWURZELREVOLUTION/1166: Zweifelhafte Helden der Revolution


graswurzelrevolution 357, März 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

TRANSNATIONALES
Zweifelhafte Helden der Revolution

Über Internet-Mobilisierungen und Selbstverbrennungen


Die politischen Revolutionen - die soziale Revolution steht noch aus - in Tunesien und Ägypten haben auch die herrschenden Medien in Europa kalt erwischt.


Als sie sich auf die Suche nach Helden und FührerInnen der Revolution begaben - die Personalisierung eines Werkes anonymer Individuen ist schließlich Teil ihres Metiers -, war der tunesische Diktator schon gestürzt.

In Ägypten wurde dann der Atomenergiepropagandist El-Baradei verfrüht zum medialen Helden gekürt, ohne sich abzusichern, ob er auch wirklich Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Nun aber ist er anscheinend gefunden, der Held der ägyptischen Revolution: Er heißt Wael Ghoneim, ist 30 Jahre alt und war Mitinitiator der Gruppe "Wir sind alle Khaled Said", benannt nach einem Jugendlichen, der im Juni 2010 beim Verlassen eines Cybercafés von zwei Zivilpolizisten zu Tode geprügelt worden ist. (1)

Zu den Demonstrationen am 25. Januar 2011 und danach hatte neben Ghoneims Gruppe noch eine weitere Internet-Gruppe über Facebook aufgerufen, die "Jugendbewegung des 6. April".

Fast wäre deren Mitgründerin Israa Abdel Fattah zur Heldin erkoren worden. Die Bewegung des 6. April hatte im März 2008 über Facebook zur Unterstützung eines Streiks in der Stadt Mahalla al-Kubra aufgerufen, der blutig niedergeschlagen wurde und Fattah zwischenzeitlich zum Abschwören veranlasst hatte. (2)

Doch Wael Ghoneim hatte nun plötzlich mehr Verdienste um die aktuelle Revolution. Er wurde gleich nach seinen Internet-Aufrufen am 28.1.2011 verhaftet, war zehn Tage im Gefängnis und wurde am 9.2.2011 wieder freigelassen. Am selben Abend trat er beim ägyptischen Privatfernsehen Dream TV auf. Dieser Montag war ein entscheidender Tag für die Demonstrationen in Kairo, denn erstmals bröckelte die Beteiligung, nachdem die Armee am Sonntag schon versucht hatte, DemonstrantInnen vom Platz zu drängen, und weniger Menschen als sonst geblieben waren.

Da hatte Ghoneim seinen großen Auftritt: Er sprach unter Tränen vor den Kameras über die durch die Schüsse der Polizei getöteten. Jugendlichen, wies aber jede Schuld von sich: "Das ist nicht unsere Schuld, es ist die Schuld derer, die borniert sind und sich an die Macht klammern!"

Das habe, so BeobachterInnen, viele BürgerInnen dazu verleitet, erneut oder sogar erstmals auf die Straße zu gehen und den Druck zu entfalten, der in der letzten Woche der Herrschaft Mubaraks nötig war, um ihn zu stürzen.

Ghoneim sprach anderntags dann auch auf dem Tahrir-Platz. Er wolle kein Held sein, sagte er, das macht ihn sympathisch. Er hat aber einen Schönheitsfehler: Er ist von Beruf "Marketing-Direktor von Google für den Nahen Osten". (3)

Und auch bei der Bewegung des 6. April gibt zu denken, dass von ihr jemand Ende 2008 in den USA war und dort nach Angaben aus einer Depesche von Wikileaks mit Regierungsvertretern und Think Tanks sprach. "Auch nach seiner Rückkehr soll der junge Dissident in engem Kontakt mit den US-amerikanischen Behörden geblieben sein."

Er habe einen "Regimewechsel" noch vor den Präsidentschaftswahlen 2011 geplant, was die Kairoer US-Botsehafterin als "äußerst unwahrscheinlich" eingeschätzt habe. (4)

Dass das einer US-Politik des "Regime change" ohne Krieg wie im Irak entspricht, ist klar. Nur hat die US-Politik selbst nicht damit gerechnet. Und zum Glück haben doch die Menschen auf der Straße die Revolution gemacht, nicht die Internet-Helden.


Internet-Euphorie der Intellektuellen

Von den herrschenden Medien wird via des Heldenmythos Wael Ghoneim eine schon beängstigende Internet-Euphorie geschürt, die auch Fürsprecher unter Intellektuellen findet. Der von mir sehr geschätzte tunesische Intellektuelle Abdelwahab Meddeb (5) sprach in der französischen Tageszeitung Le Monde sogar von einer Zeitenwende für die Revolutionen des 21. Jahrhunderts:

"Was für eine Beschleunigung der Geschichte! Von der Selbstverbrennung des Mohamed Bouazizi am 14. Dezember 2010 bis zur Flucht von Ben Ali am 14. Januar 2011 ist nicht einmal ein Monat vergangen. [...] Es ist eine Revolution, die im Kern über das Medium Internet gemacht wurde - von einer digitalen und Blogger-Generation. Und ihr rasend schneller Ablauf korrespondiert mit der Geschwindigkeit und Augenblicklichkeit, die das Instrument produziert. Nunmehr haben wir mit dieser Jasmin-Revolution einen neuen Begriff der Zeit in der Historie. Die Geschichte wird einer Verdichtung unterworfen, die durch die Veränderung der Koordinaten in Raum und Zeit bestimmt wird. Wir haben eine historische Sequenz erlebt, die auf die Sekunde genau das Altbekannte mit dem Unbekannten überdeckt und die Entfernungen so verkürzt, dass wir den Orten des Geschehens nah sein können.

Die Menschheit eignet sich durch diese Technik nunmehr das theologische Konzept der Allgegenwart an, bindet es in den Alltag ein und macht es sich selbst zunutze." (6)

Demgegenüber möchte ich die Euphorie für das Medium Internet bei aller Wertschätzung für ihren Beitrag zu den arabischen Revolutionen doch etwas dämpfen. Bisher ist noch jede Revolution als eine Beschleunigung der Zeit beschrieben worden. Der Pariser Mai 1968 benötigte auch praktisch nur zehn Tage, um de Gaulle zur Flucht nach Baden-Baden und an den Rand des Regierungssturzes zu bringen. Auch hat sich noch jede Revolution die Techniken ihrer Zeit zunutze gemacht.

Die StudentInnen vom Mai hingen während der großen Demo mit ihren Ohren fest an kleinen Transistorradios, um de Gaulles Reden zu hören und sofort lautstark zu kommentieren.

Bei den Arbeiteraufständen in Osteuropa, von Ost-Berlin 1953 bis zu Prag 1968, wurde kolportiert, die Welt hätte nie davon erfahren, wenn nicht westliche Fernsehteams gefilmt und das Westfernsehen gesendet hätten.

Desgleichen ist heute für Ägypten zu konstatieren, dass die aufwühlende und zuletzt mobilisierende Sendung mit Ghoneim im Privatfernsehen stattfand und, dass er damit breite Schichten auch der älteren Bevölkerung erreichte, und dass neben dem Internet auch der arabische Fernsehsender Al Jazeera großen Einfluss auf die Mobilisierung der Massen in Tunesien und Ägypten hatte. Nicht nur das Internet wurde von den Diktatoren bekämpft, auch Al Jazeera. Niemand würde deshalb auf die Idee kommen, das Fernsehen oder gar das Privatfernsehen zum revolutionären Medium zu erklären. Bei aller Sympathie für die jugendlichen BloggerInnen sollten wir nicht vergessen, dass Google und Facebook millionenschwere multinationale Kapitalkonzerne mit eigenständigen Geschäfts- und politischen Strategien sind und dass ein Marketing-Direktor vom Quasi-Monopolisten Google nun wirklich nicht zum Revolutionshelden taugt.

Und übrigens: Die Revolution gemacht haben die Menschen, die Polizeischüssen und Panzern widerstanden. Das wird über der Internet-Euphorie zu schnell vergessen. Sie hätten statt durch Internet-Aufrufe auch anders "mobilisiert werden können.


Die Ambivalenz der Selbstverbrennungen

Nach langer vergeblicher Suche in Tunesien haben die herrschenden Medien Europas dann doch noch den tunesischen Revolutionshelden gefunden - und zwar einen, der wirklich auch von der revoltierenden Bevölkerung nahezu einstimmig als solcher anerkannt wird, als Märtyrer der Revolution" nämlich: Es ist Mohammed Bouazizi, der sich in der Kleinstadt Sidi Bouzid vor einer staatlichen Einrichtung selbstverbrannte, damit wie ein Symbol wirkte und die tunesische Bewegung zum Sturz der Diktatur in Gang setzte.

Die Selbstverbrennung ist sozusagen der technische Totalkontrast zur Internet-Mobilisierung: Hier waren sozusagen archaische und Zukunfts-Technologien revolutionär vereint am Werke.

Die Selbstverbrennung hat seither in einer Vielzahl arabischer Länder NachahmerInnen gefunden, bis heute ohne den Erfolg von Bouazizi. Und auch hier zieht der tunesische Intellektuelle Abdelwahab Meddeb wieder Parallelen:

"Im Unterschiedlichen suche ich das sich Ähnelnde zu erfassen, ohne die Verschiedenartigkeiten zu übersehen. Ein solchermaßen vorgewarnter Blick hätte bereits bemerkt, dass sich Mohamed Bouazizi in seiner ihm eigenen Islam-Interpretation - und in Ähnlichkeit zu einer aktualisierten christlichen Erlöser-Figur - in unserem profanen historischen Bewusstsein direkt zur Seite von Jan Palach gesellt, des Selbstverbrenners vom Prager Frühling." (7)

Meddeb will damit zeigen, dass sich in diesem Initialakt der tunesischen Revolution durchaus eine universelle Dimension ausdrückt, die Revolution also nicht nur auf die arabische Welt oder Afrika ausstrahlt.

Nehmen wir nur das Beispiel der Selbstverbrennungen der Buddhisten in Vietnam oder - für uns GraswurzelrevolutionärInnen näher und persönlicher - die Selbstverbrennung von Hartmut Gründler im Jahr 1977 vor dem SPD-Parteitag, aus Protest gegen die Atompolitik von Helmut Schmidt.

Selbstverbrenner, die sich heute in arabischen Ländern anzünden, verlieren nichts als ihr Leben. Die Selbstverbrennung ist allerdings kein Selbstmordattentat. Man tötet keine anderen Menschen, nur sich selbst. Hartmut Gründler konnte sich damals an gewaltfreie Aktionsgruppen wegen Unterstützung wenden, weil es eine Diskussion gab, ob Gewaltfreiheit nur erfordere, Mitmenschen und auch Herrschende nicht zu verletzen und umzubringen, oder auch bedeute, keine Gewalt gegen sich selbst anzuwenden.

Die GraswurzelrevolutionärInnen in gewaltfreien Aktionsgruppen haben damals gegen Leidensideologien argumentiert und widersprochen, wenn jemand meinte, Gewaltfreiheit erfordere, Leiden freiwillig auf sich zu nehmen. Darum haben sie Gründlers Aktion nicht unterstützt, ohne ihm ihren Respekt vorzuenthalten natürlich. Diesen Respekt habe ich auch vor Bouazizi. Aber Märtyrer und Held ist er für mich nicht. Die tunesische Revolution hätte auch durch andere Ereignisse ausgelöst werden können. Sie braucht keine Helden. Auch keine, die schon tot sind.

Die Menschen auf der Straße kämpften mit beeindruckendem Mut für ein freies Leben, nicht für den Tod. Ja, sie riskierten dafür ihr Leben, sie gaben es aber nicht freiwillig hin.

Die Todesschüsse der Polizei blieben der Skandal, an deren Unhaltbarkeit das System schließlich zerbrach.

Slipperman


Anmerkungen:

(1): Vgl. die Artikel: Wael, le blogueur héros da la place Tahrir, in: Libération, 9.2.2011; Profil de face, in: Libération, 21.2.2011.

(2): Vgl.: Die Kinder des 6. April und der Tag der Entscheidung, in: Süddeutsche Zeitung, 31.1.2011.

(3): Wael, le blogueur héros da la place Tahrir, in: Libération, 9.2.2011, S. 6.

(4): Zitate nach dem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, 31.1.2011.

(5): Äußerst lesenswert m.E. sein Buch: Die Krankheit des Islam, Heidelberg 2002.

(6): Abdelwahab Meddeb: La "révolution du jasmin, signe de la métamorphose de l'histoire, in: Le Monde, 17.1.2011.

(7): Meddeb, ebenda.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, 357, März 2011, S. 10
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2011