Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GRASWURZELREVOLUTION/1173: Rede der Bürgerrrechtlerin Irina Gruschewaja - Schwarze Wermutpflanze


graswurzelrevolution 358, April 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

ÖKOLOGIE
Schwarze Wermutpflanze

Irina Gruschewaja: "Was sind 20 Kilometer um den explodierten Reaktor, wenn die Strahlen um die ganze Welt gehen?"

Von Irina Gruschewaja


Die Bürgerrechtlerin Dr. Irina Gruschewaja (geb. am 1.9.1948 in Simferopol) war 1989 Mitbegründerin der ersten Bürgerinitiative in Belarus, der "Kinder von Tschernobyl". (1) Bekannt wurde die BürgerInnenbewegung durch ihre politische Tätigkeit gegen das Schweigen, Verheimlichen und Verharmlosen der Folgen von Tschernobyl. Sie gehört dem Vorstand der Stiftung an und ist Präsidentin des Bildungs- und Begegnungswerkes der Stiftung, der Internationalen Assoziation für humanitäre Zusammenarbeit. Am 14. März 2011 hielt sie während einer Anti-Atom-Demo in Münster eine bewegende Rede, die wir hier dokumentieren (GWR-Red.).



Liebe besorgte Bürgerinnen und Bürger!

Es ist für mich auch eine schwere Stunde, weil ich vor allem tiefe Trauer empfinde. Und alle Gefühle, die wir alle in 25 Jahren Tschernobyl erlebt haben, ich persönlich jetzt gerade, sind in diesem Moment wieder hochgekommen. Alle Verluste, die ganze Wut über den Betrug und die Vertröstungen in den ersten Jahren, wollen wir, die Menschen in Weißrussland, nicht wieder erleben.

Wir wurden genauso vertröstet, wie ich die Nachrichten über Japan erlebe. Und wenn ich höre, dass in einer Zone von 20 Kilometern rund um die Reaktoren in Fukushima die Menschen evakuiert wurden, dann weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Was sind 20 Kilometer um den explodierten Reaktor, wenn die Strahlen um die ganze Welt herumgehen?

Wenn die Tschernobyl-Wolke siebenmal um die Erde herumgegangen ist und überall die tödliche Last hinterlassen hat, wo die Verstrahlung nicht einfach im Boden oder in den Lebensmitteln oder in der Luft ist. Wo ist diese denn heute zu finden? Sie ist in den Körpern der Menschen! Das kann man oder will man nicht mehr nachweisen.

25 Jahre, nicht nach Tschernobyl, sondern 25 Jahre mit Tschernobyl haben sehr viele Menschen wachgemacht. Ich betrachte Sie heute als Propheten. Man sagt, es gäbe keine Propheten im eigenen Land.

Das stimmt, wenn es um eine oder zwei Personen geht. Aber ich glaube, wenn jeder Bürger, besorgt um die Zukunft der Kinder und Kindeskinder, zum Propheten wird, dass dann jeder begreift, dass es an ihm liegt, wie wir mit dieser strahlenden Zukunft umgehen. Ich möchte, dass meine Kinder und Enkelkinder strahlen, aber vor Freude.

Ich möchte, dass wir alle, auch wenn das vielleicht makaber klingt, die Gunst der Stunde nutzen, weil wir jetzt alle aufgerüttelt sind, aktiv werden, aktiver als je zuvor, anstatt radioaktiv.

Das ist in meinem Land geschehen, wir haben 120.000 Umsiedler, das sind eigentlich die Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet. Wo sollen diese Flüchtlinge hin? Wo sollen die 200.000 Japaner hin? Und demnächst: Wo sollen wir alle hingehen, wenn uns die Strahlen erreichen?

Belarus, Weißrussland, das ist ein weißes Land, das dem strahlenden, aber schwarzen Tod zum Opfer gefallen ist. Tschernobyl heißt nämlich "schwarze Wermutpflanze". Und mit dieser Pflanze ist das ganze Gelände, wo das Tschernobyl-Atomkraftwerk steht, bewachsen.

Und das nennt sich "wissenschaftlicher Fortschritt": das Atomkraftwerk, das schreckliche Atom, das soll für uns alle der "wissenschaftlich-technische Fortschritt" sein. Und ich frage mich, wo schreiten wir hin, wenn es ein Fortschritt ist?

Wo schreitet die ganze Menschheit hin, wenn nach Tschernobyl ganz klar geworden ist, dass das, was in Belarus passiert ist, komprimiert in der ganzen Zeit passiert - in der ganzen Welt? Japan war vorprogrammiert

Die Menschheit hat unser Opfer nicht richtig wahrgenommen, das Opfer des weißen Landes. Die Menschheit hat sich vertrösten lassen. Im Jahre 1990 haben wir begonnen, über die Folgen von Tschernobyl in der ganzen Welt zu erzählen. 1999 hat Deutschland den Ausstieg aus der Atomkraft proklamiert. Und was erleben wir 20 Jahre danach? Den Ausstieg aus dem Ausstieg. Das ist eine große Herausforderung.

In Japan ist vielleicht ein noch schrecklicherer GAU. Ich weiß nicht, welches Maß eine Katastrophe erreichen sollte, damit wir zu aktiven Propheten werden. Damit wir das erreichen, was uns bewegt und uns umtreibt. Solidarität mit Japan besteht darin, dass wir alle einen neuen Nerv in uns entdecken, einen neuen Sender und eine neue Empfangsmöglichkeit, dass wir die Strahlen, die sonst für unsere menschlichen Sinne nicht wahrnehmbar sind, mit diesem Nerv, den ich uns allen wünsche, empfinden können, dass wir auf diese Gefahr entsprechend reagieren können.

Ich bitte Euch alle: Sorgt dafür, dass die Qualität, die wir, die ganze Menschheit, bis heute durch die Evolution erarbeitet haben, erhalten bleibt, weil wir immer dabei sind, das Leben zu führen und zu überleben, trotz der radioaktiven Strahlen, die immer menschen- und lebensfeindlich gewesen sind. Wenn wir überlebt haben, als Menschen, als Spezies, dann ist die Chronik der Zukunft nach Tschernobyl geschrieben - in Belarus. Für alle doch noch einmal eine Mahnung und eine Möglichkeit, heute zusammen mit Japan das Lebenskonzept zu überdenken und zu versuchen, dem, was unser Leben auf die Aussterbeliste stellt, ein Ende zu setzen.

Ich hoffe, dass wir jetzt durchkommen, ich hoffe, dass diese Schreibtischterroristen nichts erreichen und dass unsere Kinder nur vor Freude strahlen.

Dankeschön.


(1) Siehe: http://www.bag-tschernobyl.net


*


Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 358, April 2011, S. 8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2011