Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GRASWURZELREVOLUTION/1822: Stichworte zum Postanarchismus - Privatisierung


graswurzelrevolution Nr. 434, Dezember 2018
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Stichworte zum Postanarchismus 9
Privatisierung - Schwarzfahren oder Jahresticket?

von Oskar Lubin


Auf dem Weg von Düsseldorf nach Köln schlossen wir uns im ICE auf dem Klo ein und hofften, dass der Schaffner nicht an die Tür pochte. In der S-Bahn saßen wir in der Mitte des Wagens und schafften es zwischen den von beiden Seiten kommenden Kontrolleuren (meistens) noch bis zur nächsten Station. Das Schwarzfahren gehörte zum Lebensstil wie die langen Haare, das Blaumachen von Mathestunden und die Kriegsdienstverweigerung. Wer der Bundesbahn schadet, trifft indirekt auch den Staat, dem sie gehört, und überhaupt sollte der öffentliche Nahverkehr gratis sein. Das war vor dreißig Jahren.


So verwegen und subversiv, wie wir uns damals bei der unbezahlten Verkehrsteilnahme vorkamen, erscheint einem heute fast der Kauf einer Jahreskarte für einen der noch nicht privatisierten Bahnbetriebe. Denn zwischen 1988 und 2018 liegt die "neoliberale Offensive" (Pierre Bourdieu). Zwecks auferlegter Haushaltssanierung haben Staat und Städte ihre steuerfinanzierten Betriebe verhökert, Public Private Partnerships haben die Kommunen in die Logik der Profitmaximierung getrieben. Sie geben den Takt der Straßenbahnen vor. Privatisierungen sind seit rund drei Jahrzehnten das staatspolitische Gebot der Stunde (auch "notwendige Reformen" genannt).

Sicherlich war und ist es eine ideologische Behauptung, dass der Staat das Gemeinwohl repräsentiert. Das haben wir Anarchist*innen schon immer gesagt. Nur Selbstverwaltung und freie Assoziation können das Gemeinwohl entstehen lassen und schützen, so viel war klar. Um das auch praktisch offenzulegen, agierten wir wie Schmalspurguerilleros und ließen zum Beispiel keine Klozugfahrt aus.

Dann aber wurde die Ideologie des Sozialstaats von der anderen Seite aus angegriffen - und gründlich zerstört. Dass der Staat zu nichts nütze sei als den Marktkräften ihr freies Schalten und Walten polizeilich zu garantieren, glauben seit der Krise von 2008 vielleicht nicht mehr so viele wie in den Jahren zuvor. Das politische Tagesgeschehen richtet sich dennoch nach diesem Credo. Die Linke, auch die kleine radikale, kämpft vor allem um Schadensbegrenzung. Gegen Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich, gegen die Verschärfung der Asylgesetzgebung, gegen die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes - das sind notwendige Kämpfe gegen die neoliberale Offensive. Aber eine libertäre Antwort auf die Privatisierungen sind sie nicht.

Im Anarchismus wird der Staat im Wesentlichen als Repressionsapparat und als Werkzeug des Kapitals betrachtet. Der Staat sei "nichts anderes", schrieb Bakunin, "als die Garantie aller Ausbeutungen zum Nutzen einer kleinen Zahl glücklicher Privilegierter und zum Schaden der Volksmassen."(1)

Dass sich im Staat tatsächlich auch Kräfte verdichten, die das Gemeinwohl verteidigen, wurde nicht gesehen (oder zwar gesehen, aber konzeptionell nicht zugelassen).

Und Nicos Poulantzas, der marxistische Staatstheoretiker, der den Gedanken von der "Verdichtung eines Kräfteverhältnisses"(2) theoretisierte, wurde 1988 auch von Anarchist*innen nicht in der S-Bahn gelesen. Es gibt also auch Kräfte im Staat, die die Effekte der Lohnsklaverei abschwächen, die sich für Erhalt und Ausbau günstigen Wohnraums einsetzen und die Monsanto die globale Anwendung der Gentechnik verbieten (wollen).

Ist es angesichts von Deregulierungen und forcierter Klimakatastrophe nicht fahrlässig oder gar zynisch, diese Kräfte nicht zu unterstützen?

Muss angesichts der Gewalt der transnationalen Konzerne, ihrem Einfluss auf die Gesetzgebung und ihrer Prägung des Alltags nicht auch auf institutionelle Regeln gesetzt werden? Um emanzipatorische Errungenschaften - die sich zum Teil auch im Staat ablagern - zu bewahren? Eben doch Jahreskarte statt Schwarzfahren?

Sicherlich ist die institutionalisierte Linke mit ihrem Fokus auf staatlich organisierte Regulierung misstrauisch zu beäugen, wie ein paar ökonomisch versierte Genossen es 2012 formulierten, wenn wir "andere Welten und nicht reformierte Versionen der existierenden Ordnung"(3) wünschen. Dieser Aufruf zur Vorsicht vor der Partei- oder Staatslinken ist wohl so alt wie der Anarchismus selbst. Anarchist*innen müssen sich aber auch den Veränderungen stellen, die in der neoliberalen Globalisierung für das soziale und politische Gefüge entstanden sind.

In den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen, in denen die neoliberale und nationalistische Rechte den Alltagsverstand vieler Menschen prägt, ist die Abgrenzung von linken Parteien und Gewerkschaften weniger entscheidend. Viel wichtiger erscheint es, wie die Politikwissenschaftlerin Ruth Kinna es aus anarchistischer Sicht im selben Buch über Anarchismus und Ökonomie schreibt, "einen Weg zu finden, ökonomisches Verhalten zu regulieren ohne sich auf die Zwangsmittel des Staates verlassen zu müssen."(4) Denn, um das nur noch einmal klar zu sagen, weniger Staat darf nicht heißen: mehr Privatisierung. Im Gegenteil: Die Zielvorgabe, den Staat abzuschaffen, hat aus anarchistischer Sicht immer bedeutet, Macht zu verteilen und basisdemokratisch zu regulieren. Zu vergesellschaften und nicht zu privatisieren.


Anmerkungen:

(1) Michael Bakunin: "Drei Vorträge vor den Arbeitern des Tals von St. Imier im Schweizer Jura, Mai 1871". In: ders.: Staat, Erziehung, Revolution. Ausgewählte Texte (1869.1871). Lich/Hessen: Edition AV 2015, S. 351-401, hier S. 360.

(2) Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. [1977]. Hamburg: VSA 2002, S. 154ff.

(3) Deric Shannon, Anthony J. Nocella, II., John Asimakopoulos: "Anarchist Economics: A Holistic View." In: Dies. (Hg.): The Accumulation of Freedom. Writings an Economics. Oakland, CA/Edinburgh: AK Press 2012, S. 11-39, hier S. 24 (Übers. O.L.)

(4) Ruth Kinna: "Preface". In: Shannon/Nocella, II./ Asimakopoulos (Hg.) 2012, S. 5-10, hier S. 9.

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 47. Jahrgang, Nr. 434, Dezember 2018, S. 22
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3,80 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang