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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1532: Libyen - Stammesgesellschaft und Moderne


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Libyen
Stammesgesellschaft und Moderne
Die Widersprüche in Gaddafis Herrschaftsordnung

Von Angela Klein


Die Revolte, die die arabische Welt erschüttert, bildet einen zusammenhängenden und demokratischen Prozess. Es ist keine anti-imperialistische Revolte - und noch weniger hat sie antikapitalistische oder gar sozialistische Tendenzen, dennoch wendet sie sich implizit auch gegen den Imperialismus und bringt seine gesamte politische und militärische Ordnung in diesem Teil der Welt durcheinander. In den verschiedenen Regionen der arabischen Welt nimmt sie, je nach Geschichte, gesellschaftlicher Zusammensetzung und kultureller Prägung, unterschiedliche Verlaufsformen und Wesenszüge an.


In Ägypten und Tunesien war die Revolution geprägt durch die Beteiligung der Arbeiterschaft und von Gruppe der radikalen Linken. In Ländern wie Bahrain, Oman, Algerien und Libyen treten jedoch fast ausschließlich nach Freiheit rufende städtische Mittelschichten oder Teile des Bürgertums auf, die es leid sind, dass sich Geschäfte und Reichtum allein in den Händen von Königen und Diktatoren konzentrieren - oder auch Ethnien und Stämme, die wie in Libyen und im Sudan, gegen die Privilegierung einzelner unter ihnen oder auch gegen religiöse Diskriminierung protestieren.

Heute konzentriert sich das Gros der Bevölkerung in den Städten: Staatsangestellte, Sicherheitskräfte, Beschäftigte in der Ölindustrie im Import/Export, in der Daseinsvorsorge, Tourismus, und was alles darum herum ist. Mit dem wachsenden Bildungsniveau der unteren Bevölkerungsschichten ist zudem eine Politisierung eingetreten, zu der auch die (Arbeits-)Migration, die Massenmedien und die neuen Informationstechnologien beitragen. Länder, die wie Libyen von der Ölrente leben, haben kaum einheimische Arbeiter, die meisten importieren sie (aus dem südlichen Afrika oder Südasien); auch Bauern gibt es kaum..


Die Akteure

Hier ist die Revolte im östlichen Landesteil ausgebrochen, das von Gaddafi am wenigsten kontrolliert wird, der Cyrenaica, von dort hat sie sich anfänglich rasch nach Westen bis zur Hauptstadt Tripolis und darüber hinaus ausgebreitet. Zu den Aufständischen gehören Arbeiter und Ingenieure der Ölindustrie, Angestellte, Studierende, Rechtsanwälte, Lehrer, Frauen, aber auch Unternehmer, übergelaufene Soldaten - und Offiziere der Armee und abtrünnige Nomadenstämme. Sie bilden eine noch amorphe, politisch wenig gegliederte Menge - weil in den 42 Jahren Gaddafi-Herrschaft jede oppositionelle Bewegung zertreten wurde und sich nur im Exil formieren konnte. Unter diesen Bedingungen kann man nicht erwarten, dass die Opposition ein Programm hat, das über den Sturz Gaddafis und seines Regimes hinaus geht.-

Auf der anderen Seite begegnet man traditionellen Strömungen wie Nasseristen, Islamisten und Anhängern der Monarchie, über deren Stärke und Einfluss sich jedoch nichts sagen lässt -aber auch neuen Organisationsformen der städtischen Schichten. Und natürlich versuchen auch die USA und die ehemaligen Kolonialmächte, wie auch die arabischen Nachbarstaaten, Einfluss zu nehmen, was jedoch nicht heißt, dass sie die Revolte angefacht hätten oder in ihrem Sinne manipulierten, wie Verschwörungstheoretiker träumen.


Die Phase der Modernisierung

Dieser soziale Flickenteppich ist das Ergebnis der Entwicklung der libyschen Gesellschaft seit dem Putsch des "Bund der Freien Unionistischen Offiziere" 1969 unter der Führung von Gaddafi. Als dieser nach dem Vorbild von Nasser in Ägypten den in der Türkei zur Kur weilenden König Idris I. (zugleich Oberhaupt der Senussi-Bruderschaft) stürzte, bestand die Bevölkerung noch im Wesentlichen aus Nomaden und Oasenbauern. Seit 1961 wurde Erdöl gefördert, doch in geringem Umfang, das meiste davon floss zum niedrigsten Barrelpreis überhaupt geradewegs nach Europa.

Unter Gaddafis Herrschaft hat Libyen eine partielle, an die Ölrente gebundene, Industrialisierung und einen großen Urbanisierungsschub erfahren. Seit 1975 ist die Bevölkerung von 2,5 auf 6,5 Millionen Menschen gestiegen. 85% leben in den Küstenstädten, nur noch 5% sind Vollnomaden: Eine Million Menschen sind "Gastarbeiter" ohne Bürgerrechte.

Bei den USA machte Gaddafi sich unbeliebt, indem er ihre Airbase schloss. Bis zum Fall der Mauer gab er sich eher anti-imperialistisch.

Gaddafi setzte eine Reihe radikaler Reformen durch: Die Ölfelder wurden verstaatlicht, der Ölpreis heraufgesetzt, die Erdöleinnahmen dadurch erheblich gesteigert (sie tragen heute 70% zum Bruttoinlandsprodukt bei, Öl- und Gasexport machen 97% der Gesamtexporte aus). Aus der Ölrente bezahlte Gaddafi ein umfangreiches Wohlfahrtsprogramm: den Hausbau, eine kostenlose medizinische Versorgung, die Einführung von Witwen-, Waisen- und Altersrenten, die allgemeine Schulpflicht bei kostenlosem Unterricht für Sechs- bis Fünfzehnjährige. In Tripolis, Bengasi und Sabha wurden Universitäten errichtet.

Auch die Privatwirtschaft wurde verstaatlicht, die Arbeiter anfänglich sogar zur Kontrolle über die Betriebe ermuntert, in Teilregionen wurde eine Landreform eingeleitet. Der Staat übernahm alle makroökonomischen Funktionen, und die Zentralbank nahm eine gewisse Umverteilung vor, indem sie Bankguthaben deckelte. Der staatliche Sektor dominiert die Wirtschaft, etwa eine Million Libyer sind Staatsangestellte.


Die Staatsordnung

In Kontrast zu diesem Modernisierungsprogramm steht die staatliche Ordnung, die Gaddafi errichtete. Er stärkte nämlich die Rolle der Stämme. Vor dem 17. Februar 2011 ruhte sein Regime auf einer Allianz des kleinen Gaddafi-Stammes, aus dem er kommt, mit zwei der zahlenmäßig größten Stämme: den in Tripolitanien ansässigen Warfalla und den in Fezzan beheimateten Magarha. Diese drei Stämme waren überproportional in Regierung, Militär und Sicherheitsapparat vertreten. Um sie herum scharten sich etwa zwei Dutzend weiterer Stämme. Die Stämme bildeten die zentrale Struktur, über die Öleinnahmen und Staatsämter verteilt wurden. Diese Tendenz trat vor allem seit 1973 hervor, als systematisch Staatsdiener, religiöse Würdenträger, Händler und Unternehmer vom politischen Prozess ausgeschlossen wurden.

Anstelle des Parlaments gibt es einen Allgemeinen Volkskongress mit 2.700 Delegierten, die jedoch nicht gewählt, sondern von 15.000 örtlichen Volkskonferenzen, von Massenorganisationen und Berufsorganisationen (darunter auch die Streitkräfte) entsandt und mit einem imperativen Mandat versehen werden; der Kongress tritt einmal jährlich in der Verwaltungshauptstadt Sirte zusammen. Der Volkskongress beschließt Gesetze und bestellt die Regierung (das nationale Volkskomitee). Der Generalsekretär des Allgemeinen Volkskongresses ist formell das Staatsoberhaupt. Die faktische Macht liegt beim Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Oberst Muammar al-Gaddafi (der in den letzten Wochen mehrfach betont hat, er könne gar nicht zurücktreten, er sei ja nicht mal Präsident).

Es gibt weder eine Verfassung, noch Parteien, noch Gewerkschaften, kein gewähltes Parlament, keine NGOs. 1977 wurden Revolutionskommitees eingerichtet, die von Gaddafi geleitet und nicht an politische Strukturen gebunden sind. Sie sind keiner Institution politisch verantwortlich, üben aber Kontrollfunktionen aus.

Das Idealbild ist das eines homogenen Volkskörpers, der sich um seinen Führer schart wie um einen guten Patriarchen. Es wird noch untermauert durch die hohe Bedeutung, die der Islam unter Gaddafi erhalten hat.


Kurs auf Westen

Doch der Patriarch wurde böse. Zunächst verteilte er die Einnahmen aus der Ölrente sehr ungleich: sein eigener und die mit ihm verbündeten Stämme wurden überproportional mit Geld und Posten bedacht, während andere wie die Stämme im Osten des Landes, aber auch die städtische Bevölkerung vernachlässigt wurden.

Die Petrodollars wurden auch nicht dafür eingesetzt, neben der Ölwirtschaft nennenswert andere Industriezweige aufzubauen, sondern um Anteile an Unternehmen in Italien und in verschiedenen afrikanischen Staaten zu kaufen. So geriet das Land in den 80er Jahren in eine wirtschaftliche Stagnation. 1987 schwenkte die Staatsführung um und setzte auf Liberalisierung: Import-/Exportquoten wurden aufgehoben; der Einzelhandel in den Städten, wieder erlaubt, die Politik der Importsubstitution fallen gelassen.

Die UN-Sanktionen 1993 nach dem Attentat auf eine amerikanische Passagiermaschine (Lockerbie) und seine eigene Öffnung gegenüber dem Westen nach dem Fall der Mauer, trieben Gaddafi Jahre später zu großzügigen Entschädigungen; die Sanktionen wurden daraufhin bis 2003 vollständig aufgehoben. Den letzten Anstoß zu seiner vollständigen Wende vom enfant terrible zum "besten Freund" der Machthaber im Westen gab der Irakkrieg: Gaddafi gab seine "antiimperialistische" Linie auf und suchte von nun an die Zusammenarbeit mit den USA und der EU.

Die Regierung buhlte jetzt um ausländische Investitionen zur Modernisierung des Ölsektors und schloss Abkommen mit westlichen wie asiatischen Ölgesellschaften zur gemeinsamen Exploration und Förderung von Öl. Die Ministerpräsidenten von Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland machten ihm seine Aufwartung, einige küssten ihm gar den Ring, Berlusconi übergab ihm 2008 5 Mrd. Dollar als Wiedergutmachung für die Verbrechen aus der italienischen Kolonialzeit. Ihnen allen ging es vorrangig um zwei Dinge: um Ölkonzessionen und um die Dienste Gaddafis bei der Jagd auf afrikanische Flüchtlinge - seine Schiffe sollten deren Boote aufbringen und sie in ihre Herkunftsländer zurücktreiben. Diese Rolle als Wachhund vor der europäischen Festungsmauer hat Gaddafi bedenkenlos gespielt.

Staatliche Betriebe wurden wieder privatisiert (so die Sahara-Bank) und Freihandelszonen geschaffen - dazu gehören die Städte Az-Zawiyya und Misurata. Ende März 2007 eröffnete in Bengazi die erste Börse Libyens.

Die Liberalisierungspolitik führte zu einem starken Wirtschaftswachstum - seit 2003 beträgt es über 5%, seit 2005 zwischen 6 und 9%. Das Geld bleibt jedoch ein Rentiereinkommen, es wandert in die Schatullen des Gaddafiklans und seiner Freunde, oft über den Umweg ausländischer Beteiligungen. Eine eigenständige industrielle Entwicklung wurde dadurch nicht vorangetrieben, hingegen das Land mehr und mehr für ausländische Direktinvestitionen geöffnet. (Noch nach der jüngsten Verhängung von Sanktionen und der Einfrierung ihrer ausländischen Konten sitzt die Gaddafi-Familie im Inland auf einem geschätzten Polster von. 100 Mrd. US-Dollar, zum Teil in Devisen. U. a. kontrolliert sie die Zentralbank.)


Die Explosion

In den Städten stoßen die Widersprüche am härtesten aufeinander: Während Libyen eins der höchsten Pro-Kopf-Einkommen des afrikanischen Kontinents aufweist, liegt die Arbeitslosigkeit - das ist vor allem eine Jugendarbeitslosigkeit - bei etwa 30%. Ein Drittel der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre, die Perspektivlosigkeit groß. Die hohe Arbeitslosigkeit tritt zudem in Widerspruch zum erheblich gestiegenen Bildungsstand.

Hinzu kommt die Wut über ein Regime, das seit Jahren die eigene Bevölkerung mit einer Vielzahl von Repressionsapparaten - Milizen, Söldner, Bespitzelungsapparate, Polizei - terrorisiert. So hat sich ein großer Frust aufgestaut - in dieser Beziehung nährt sich die libysche Revolution aus denselben Quellen wie in den anderen arabischen Ländern.

Der entscheidende Impuls für den Aufstand ging auch hier weitgehend von unorganisierten Kräften aus: Erste größere Proteste gab es Mitte Januar, als eine aufgebrachte Menge gegen Verzögerungen bei der Errichtung von Sozialbauten demonstrierte. Am 15. Februar folgten nach Internetaufrufen in mehreren größeren Städten Protestmärsche gegen Korruption und Willkür; am "Tag des Zorns", dem 17. Februar, gab es Demonstrationen in allen großen Städten; Polizei und Söldner gingen mit scharfer Munition, zum Teil mit Panzern gegen die Demonstranten vor.

Politisch wie sozial ist Gaddafis Regime an seinen inneren Widersprüchen zerbrochen. Die Modernisierung rechtfertigt die Tyrannei nicht mehr, zu sehr ist das Land für den Gaddafi-Klan zum Selbstbedienungsladen verkommen.

Der Aufstand hat eigene Institutionen hervorgebracht: eine Übergangsregierung, aber auch einen Libyschen Nationalrat und eine Koalition von Jugendorganisationen. Von den beiden Letzteren hört man nicht mehr viel, der Bürgerkrieg hat Gaddafis ehemalige Generäle, Minister und Diplomaten an die vordere Front gespült, die Militarisierung des Konflikts stärkt die konservativen Kräfte.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 26.Jg., April 2011, S. 15
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2011