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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1534: Serie zu Krisentheorie und -politik, Teil 4


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

SERIE ZU KRISENTHEORIE UND -POLITIK
IV. Disproportionalität
Über die Anarchie der Märkte, der sowjetischen Planung und des westlichen Finanzkapitals

Von Ingo Schmidt


"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg" (Pierre de Boisguillebert, 1704)

In dieser Ausgabe der SOZ nehmen wir unsere Serie zur Krisentheorie[*] wieder auf; Im November 2010 hatten wir diskutiert, ob das Zurückbleiben der Konsumgüternachfrage hinter den Produktionskapazitäten eine Krisenursache ist.


Diesmal geht es um die Disproportionen zwischen verschiedenen Wirtschaftssektoren. Anders als im Fall der Unterkonsumtion, die wegen nicht ausgelasteter Kapazitäten in der Konsumgüterindustrie zum Rückgang der Nachfrage nach Investitionsgütern und somit zu einem allgemeinen Nachfragemangel führt, geht es bei der Disproportionalitätentheorie darum, dass in einem Sektor zuviel, in einem anderen zuwenig produziert wird. Die Proportionen zwischen verschiedenen Arten angebotener Waren und den jeweils nachgefragten Mengen stimmen nicht überein. Das Problem besteht mehr in der Struktur von Angebot und Nachfrage als in einem allgemein unzureichenden Nachfrageniveau, unabhängig von einzelnen Wirtschaftssektoren. Das ist ein kleiner theoretischer Unterschied, jedoch mit weitreichenden politischen Implikationen.


Lassen sich Krisen vermeiden?

Beginnen wir mit der Theorie. Im I. Band des Kapitals (1867) erklärt Marx, dass mit der Ausbreitung der industriellen Fertigung eine Vergesellschaftung der Produktion einhergeht, die in Widerspruch zur Anarchie der Märkte gerät, auf denen einzelne Unternehmen ohne Wissen über die Nachfrage nach ihren jeweiligen Produkten drauflos konkurrieren und dabei regelmäßig an der begrenzten Kaufkraft der umw0rbenen Kundschaft scheitern.

Im II. Band des Kapitals (1885) arbeitet er die Bedingungen heraus, unter denen Angebot und Nachfrage nach Investitions- und Konsumgütern und der Ersatz verschlissener Produktionsanlagen in beiden Sektoren miteinander übereinstimmen. "Richtige Proportionen" hält er theoretisch für möglich, in der Wirklichkeit aber gibt es Disproportionen, weil die Anarchie der Märkte die Unternehmen daran hindere, ihre Investitions- und Produktionspläne auf die jeweilige Nachfrage abzustimmen. Selbst wenn sie diese richtig einschätzen könnten, würden sie über die Nachfrage hinaus produzieren, weil sie ihre Konkurrenz ausstechen wollten - und damit die nächste Krise produzieren.

Aus dieser Analyse zog Engels im Anti-Dühring (1878) die Schlussfolgerung, dass die Anarchie der Märkte durch sozialistische Planung ersetzt werden müsse, wenn Krisen und ihre negativen Folgen für die Arbeiterklasse vermieden werden sollten. Diesen Gedanken modifizierte Hilferding dahingehend, die Planung würde bereits unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen einsetzen, ein "organisierter Kapitalismus" würde deshalb einen "krisengemilderten" Übergang zum Sozialismus ermöglichen. Die theoretischen Grundlagen für die Strategie des organisierten Kapitalismus legte Hilferding im Finanzkapital (1910) und der darin enthaltenen Disproportionalitätentheorie.

Hilferding zufolge entziehen sich Konzerne und Kartelle dem Preiswettbewerb durch monopolistische Preissetzung. Dadurch können sie sich Monopolprofite zulasten nichtmonopolistischer Betriebe und Wirtschaftssektoren aneignen und heizen damit die Akkumulation in den kartellisierten Sektoren weit über die Nachfrage nach ihren Produkten hinaus an. Die Folge sei eine Disproportion zwischen Kartellen und Konzernen einerseits und kleineren, weiterhin der freien Konkurrenz unterworfenen, Betrieben andererseits.

Die hieraus resultierenden Krisen ließen sich aber vermeiden, weil die Entstehung monopolistischer Industrien an deren Verschmelzung mit dem Bankkapital gebunden sei. An der Spitze des so entstandenen Finanzkapitals sei aber, ganz im Gegensatz zu den zersplittert vor sich hinwurstelnden Kleinbetrieben, ausreichend Wissen über die Nachfrage in einzelnen Sektoren vorhanden. Zudem böten finanzielle Verflechtungen zwischen einzelnen Zweigen des Finanzkapitals die Möglichkeit, durch entsprechende Steuerung der Investitionsmittel das Angebot an die Nachfrage anzupassen und Krisen zu vermeiden.

Dazu komme es nur nicht, weil das von blinder Profitgier getriebene Finanzkapital die rücksichtslose Ausbeutung von Arbeitern, nichtmonopolistischen Betrieben und Kolonien der rationalen Allokation des Kapitals vorziehe. Der Staat, insbesondere wenn er von Sozialdemokraten regiert wird, könne die krisen- und kriegstreibenden Tendenzen des Finanzkapitals allerdings einschränken.


Staatliche Ausgabenprogramme...

Die Probe aufs Exempel dieser Theorie kam während der Weltwirtschaftskrise. Den Vorschlag der Gewerkschaftsökonomen Woytinski, Baade und Tarnow, durch kreditfinanzierte Staatsausgaben Arbeitsplätze zu schaffen, lehnte Hilferding unter Verweis auf die Unvermeidbarkeit kapitalistischer Krisen als revisionistisch ab. Lenin hätte daran seine Freude gehabt. Die Idee, das kapitalistische Akkumulations- und Krisengesetz samt dem daraus erwachsenen Imperialismus an die Kandare sozialdemokratischer Politiker zu legen, hatte er zu Lebzeiten nach Kräften verspottet. Dass einige von ihnen sich von den Vorstellungen, die sie vor der Krise selbst verbreitet hatten, unter dem Druck von Depression und Massenarbeitslosigkeit mit einem "Zurück zu den marxistischen Wurzeln" verabschiedeten, hätte ihn gewiss amüsiert.

Allerdings dürfen die Konflikte zwischen Lenins Kommunisten und Hilferdings Sozialdemokraten nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die kommunistische Bewegung ihren Hilferding im Analysetornister mit sich herumschleppte. Lenin hatte ihn selbst hineingesteckt: Seine Imperialismusanalyse übernimmt Hilferdings ökonomische Analyse des Finanzkapitals nahezu vollständig und unterscheidet sich nur in ihren politischen Schlussfolgerungen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs suchte er eine politische Alternative zum organisierten Kapitalismus, den die Mehrheitssozialdemokratie mit ihrer Unterwerfung unter die Burgfriedenspolitik der Herrschenden betrieb, und fand sie in den schwächeren Gliedern der imperialistischen Kette, in denen die Monopolprofite nicht zur Bestechung einer Arbeiteraristokratie ausreichten.

Ob diese Analyse zutreffend war oder nicht, spielte schon bald keine Rolle mehr. Nach Revolution, Bürgerkrieg und Auslandsintervention waren die Bolschewiki schon froh, dass sie mit der Neuen Ökonomischen Politik eine Art freier, von Klein- und Kleinstbetrieben getragener Konkurrenzwirtschaft errichten konnten. Das Hilferding'sche Erbe, ergänzt um Lenins Faible für den Taylorismus, meldete sich erst Mitte der 20er Jahre wieder zu Wort, als in der Sowjetunion über Industrialisierung und angemessene Planungsmethoden gestritten wurde.


... und Plankennziffern

Pate standen dabei die westlichen Konzerne sowie die von Engels bis Hilferding propagierte zentrale Wirtschaftsplanung; nach Ausschaltung der linken wie der rechten Opposition wurde das Modell von Stalin auch umgesetzt. Im Gegensatz zur sozialdemokratischen Konkurrenz im Westen, die bestenfalls Ministerämter bekleiden konnte, von den inneren Zirkeln der Herrschaft aber stets ausgeschlossen blieb, waren die sowjetischen Planer Alleinherrscher auf den Kommandohöhen der Wirtschaft. Eine Bourgeoisie existierte nicht mehr und konkurrierende Strömungen der Arbeiter- bzw. Bauernbewegungen waren ausgeschaltet worden. So kam es, dass Hilferdings Idee einer rationalen Planung großbetrieblicher Produktion in der von den Sozialdemokraten verabscheuten Sowjetunion dem Praxistest unterworfen werden konnte.

Gemessen am Wirtschaftswachstum waren die Ergebnisse zunächst beeindruckend, beruhten aber auf Grundlagen, die langfristig selbstzerstörerisch waren. Während die Produktionskennziffern in den Wirtschaftsplänen den Anschein erweckten, Arbeitskräfte und Produktionsmittel seien dem jeweiligen Bedarf entsprechend auf die verschiedenen Wirtschaftsbereiche verteilt worden, herrschte in Wirklichkeit die Anarchie der Schwarzmärkte, und auch die der Produktion.

Die sowjetischen Arbeiter hatten schnell begriffen, dass sie den Plan grüßen mussten wie Schillers Schweizer den Geßlerhut, danach aber ihrer eigenen Wege gehen konnten. Dabei arbeiteten sie teilweise mit den Managern zusammen, die Arbeitskraft und Produktionsmittel nach Kräften requirierten, um für alle Planvorgaben gewappnet zu sein. Unter diesen Bedingungen wussten die Wirtschaftsplaner nicht einmal, wie die Ressourcen tatsächlich auf die Betriebe und Wirtschaftszweige verteilt waren. Ihre Plankennziffern waren reine Luftnummern, gesellschaftlich notwendiges, aber falsches Bewusstsein. Daraus ließen sich keine Hinweise zur Organisation eines nicht nur nominell, sondern auch real vergesellschafteten Produktions- und Austauschprozesses gewinnen. Der Widerspruch zwischen Planwunsch und Produktionswirklichkeit hat entscheidend zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen.

Danach fand der Planfetischismus, Ironie der Geschichte, ausgerechnet bei den Herren des Finanzkapitals ein neues Zuhause. Deren Profitplanungen sind von der realen Wertschöpfung oft noch weiter entfernt als die Plankennziffern der untergegangenen Sowjetunion und können nur durch wiederkehrende Wirtschaftskrisen auf den Boden der Tatsachen geholt werden. Gesellschaftliche Planung ist in der Tat notwendig, um Krisen der kapitalistischen Wirtschaft und ihres Staates zu vermeiden. Bis Arbeiter- und andere soziale Bewegungen aber eine Form gefunden haben, diese Planung wirkungsvoll und demokratisch zu gestalten, wird sich der Kapitalismus weiter von Krise zu Krise stolpern.


[*] Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil I, II + III finden Sie im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Medien -> Alternativ-Presse
SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1449: Serie zu Krisentheorie und -politik, Teil 1
SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1460: Serie zu Krisentheorie und -politik, Teil 2
SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1467: Serie zu Krisentheorie und -politik, Teil 3


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 26.Jg., April 2011, S. 19
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2011