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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1658: Wachstumspakt ist Mist


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 - Juni 2012
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Wachstumspakt ist Mist
Sozial schädlich, ökologisch brandgefährlich

Von Daniel Tanuro



"Wachstum" ist im politischen Diskurs wieder "in". Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) fordert es seit vielen Jahren. Der neue französische Staatspräsident, François Hollande, hat es zu einem Hauptthema seines Wahlkampfs gemacht. Sozialdemokraten fordern es in allen Ländern, zumal in Deutschland.


Auch die Rechte bemächtigt sich des Diskurses, allen voran Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, und Herman van Rompuy, der Präsident des Europäischen Rats. Selbst Angela Merkel findet: Sparen reicht nicht, es muss auch das Wachstum wieder angekurbelt werden.

Der EGB freut sich zu Unrecht über diese Bekenntnisse - es geht nämlich um Wachstum im Rahmen der neoliberalen Sparpolitik, also eingeschränkt durch das Ausmaß der öffentlichen Verschuldung und gebunden an die Gesetze der Erwirtschaftung von Profiten. So ein reichlich hypothetisches Wirtschaftswachstum wird die Massenarbeitslosigkeit nicht überwinden und eher als Vorwand für neue unsoziale und antidemokratische Angriffe dienen. Vor allem aber wird es die ökologische Krise verschärfen.

Statt sich von dieser Minikorrektur am Sparkurs beirren zu lassen, tut man besser daran, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu intensivieren und ein Kräfteverhältnis aufzubauen, das die Durchsetzung einer Alternative ermöglicht, die den Namen verdient: ein anderes soziales und ökologisches Entwicklungsmodell, das sich nicht auf Wachstum, sondern auf die Umverteilung von Arbeit und Reichtum stützt und die Grenzen der Umwelt respektiert.


Kein dritter Weg im Kapitalismus

"Es zeichnet sich jetzt immer deutlicher ein Konsens darüber ab, dass mehr getan werden muss, um im Rahmen der strukturellen Reformen und Haushaltsreformen Wachstum zu stimulieren und Arbeitsplätze zu schaffen." Diese Erklärung von Präsident Obama auf dem jüngsten G8-Gipfel benennt deutlich die Grenzen des Geredes über die Wiederankurbelung von Wirtschaftswachstum.

Denn das kapitalistische Weltsystem steckt tief in der Sackgasse und ihr Kernproblem lässt sich grob schematisch auf den Nenner bringen: Auf der einen Seite ist es nicht möglich, zum keynesianischen Modell der Wirtschaftswunderjahre zurückzukehren (angesichts der Schuldenberge würde dies eine radikale Umverteilung des Reichtums voraussetzen), auf der anderen Seite wurde das neoliberale Modell, das die Profite wieder in so glänzende Höhen getrieben hatte, 2008 aus der Bahn geworfen und lässt sich auch nicht mehr aufs Gleis setzen, weil die Masse an Schulden den Weg verbaut, dem Kapital weiter künstliche Absatzmöglichkeiten zu schaffen.

Es bräuchte also ein drittes (kapitalistisches) Modell, aber das steht nicht zur Verfügung. Die herrschenden Klassen, besonders in Europa, haben deshalb keine andere Antwort parat als die neoliberale Flucht nach vorn, das heißt die Zerstörung auch noch der letzten Überreste des Wohlfahrtsstaats und das rapide Abgleiten in halb despotische politische Regime. Nur in dem Maße, wie diese Offensive und die damit verbundene soziale und politische Regression die erhofften Ergebnisse zeitigt, wird es in den Haushalten Spielraum für die sogenannte "Wachstumspolitik" geben.

Das ist es, was Obama sagen wollte, als er davon sprach, dass die Wachstumspolitik "im Rahmen der strukturellen Reformen und Haushaltsreformen" zu führen sei. Angesichts der enormen Masse an privaten Schulden, die in Staatsschulden umgewandelt wurden, werden diese Spielräume zwangsläufig eng begrenzt sein und in jedem Fall völlig unzureichend für die Finanzierung der großen öffentlichen Investitionen, die notwendig wären, um die strukturelle Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen.


Die ökologischen Gefahren

Das ist jedoch nicht alles. Den ökologischen Zwängen muss ebenfalls Rechnung getragen werden. Sie stellen einen bedeutenden und radikal neuen Faktor dar und verleihen der Krise des Kapitalismus die Dimension einer systemischen und historischen "Zivilisationskrise" ohnegleichen.

Worum geht es? In erster Linie um die Herausforderung durch die Klima- und Energiekrise. Wenn wir eine Chance haben wollen, das Ziel einer maximalen Temperaturerhöhung auf der Erdoberfläche von 2°C nicht zu überschreiten, wie die Intergouvernementale Expertengruppe für die Entwicklung des Klimas (GIEC) empfiehlt, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:

  • die Treibhausgasemissionen weltweit müssen bis 2050 um 50-85% gesenkt werden;
  • damit muss spätestens 2015 begonnen werden;
  • in den entwickelten Industrieländern müssen die Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 um 80-95% gesenkt werden, bis 2020 um 25-40%;
  • in den sog. Entwicklungsländern müssen die Emissionen um 15-30% reduziert werden (im Verhältnis zum Jetzt-Zustand).

Um zu ermessen, was das bedeutet, müssen wir drei Tatsachen bedenken:

  1. Kohlendioxid ist das wichtigste Treibhausgas;
  2. CO2 ist das unvermeidliche Produkt jeder Verbrennung von Kohlenstoff, vor allem von fossilen Brennstoffen;
  3. die fossilen Brennstoffe decken 80% des Energiebedarfs der Menschheit.

Ein nach menschlichen Zeitmaßstäben irreversibler Klimawandel, der schwere ökologische und soziale Folgen hätte, lässt sich also nur vermeiden durch eine schnelle Abkehr von der Verbrennung von Kohle, Erdgas und Öl. Dazu braucht es nicht nur einen riesigen, weltweiten Übergang zu erneuerbaren Energien, sondern auch eine Konversion der petrochemischen Industrie, die als Hauptrohstoff Erdöl verarbeitet.

Das technische Potential der erneuerbaren Energien reicht für den energetischen Umbau mehr als aus, aber ihr ökonomisches Potential, d.h. ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber fossilen Brennstoffen, ist absolut unzureichend und wird dies in den kommenden zwei bis drei Jahrzehnten wahrscheinlich auch bleiben. Der Umbau erfordert darüber hinaus gigantische Investitionen in ein neues Energiesystem, und das heißt Energie, die in der Anfangsphase überwiegend fossile Energie sein wird, also noch mehr Emissionen von Treibhausgasen...

Der langen Rede kurzer Sinn: Der grüne Kapitalismus ist ebenso eine Illusion wie der soziale Kapitalismus. Unter den oben beschriebenen Bedingungen würde eine Wiederankurbelung des kapitalistischen Wirtschaftswachstums nicht nur mit einer drastischen Verschärfung der neoliberalen Sparpolitik und der Beschneidung demokratischer Rechte einhergehen, sie würde auch eine wahre ökosoziale Katastrophe auslösen, in einem kaum vorstellbaren Umfang.

Es geht hier nicht darum, Endzeitstimmung zu verbreiten. Doch die Folgeabschätzungen in den Klimamodellen müssen ernst genommen werden - dabei sind diese konservativer als die Tatsachen, die wir bereits beobachten können. Die Verpflichtungen, die von den Regierungen bislang eingegangen wurden (aber werden sie auch eingehalten werden?) werden den Temperaturanstieg in den kommenden 80 Jahren auf 3,5 bis 4eiben (im Vergleich zur vorindustriellen Epoche). Der Meeresspiegel würde bis zum Ende des Jahrhunderts dadurch um mindestens einen Meter steigen, der Zugang zu Trinkwasser würde sich drastisch verschärfen (darunter leiden jetzt schon etwa eine Milliarde Menschen), extreme Wettersituationen würden sich häufen, die landwirtschaftliche Produktivität würde auf Weltebene sinken und die Biodiversität zusehends abnehmen. Für über eine Milliarde Menschen würden sich die Existenzbedingungen dramatisch erschweren, mehrere hundert Millionen Menschen wären in ihrer Existenz gefährdet.

Der überwältigende Teil der Opfer wären - und sind schon - die Armen in den armen Ländern - die für den Klimawandel keine oder kaum Verantwortung tragen.

Wir tun daher gut daran, die Vorstellung, eine Wiederankurbelung des Wachstums könnte die sozialen und ökologischen Probleme auch nur ansatzweise lösen, fahren zu lassen. Das Gegenteil trifft zu. Vor allem die anhaltende Massenarbeitslosigkeit - 24 Millionen Menschen sind in der EU offiziell als erwerbslos registriert! - ist keineswegs das Produkt mangelnden Wirtschaftswachstums, sondern das Produkt der neoliberalen Politik, die die Produktivitätsgewinne fast ausschließlich den Aktionären zugute kommen lässt, statt sie in eine Verkürzung der Arbeitszeit zu stecken.

Der energetische Umbau wird nicht aus dem Wahnbild eines grünen, zwangsläufig neoliberalen, Kapitalismus folgen können, er kann nur die Folge eines öffentlichen Willensakts für Investitionen in Energieeffizienz und in erneuerbare Energien sein. Dazu müssen illegitime Schulden gestrichen und die Bereiche Finanzen und Energie öffentlich angeeignet werden.


Umverteilen kommt vor Umsteuern

Man muss also mit dem Neoliberalismus brechen - das aber ist der einzige heute real existierende Kapitalismus. Auf der Tagesordnung steht die Ausarbeitung eines völlig anderen Entwicklungsmodells auf europäischer Ebene - das könnte den Kämpfen eine Perspektive geben. Um beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu bleiben, bedeutet das: Nicht Wachstum, sondern die radikale Umverteilung der Einkommen schafft Arbeitsplätze; nicht der "Wiederaufschwung" des Kapitals, sondern der Kampf gegen das Kapital, nicht die Anhäufung weiteren Reichtums, sondern die Umverteilung des Reichtums (in den sog. entwickelten Ländern).

Wir sollten sogar noch weiter gehen und das Wort "Schrumpfung" nicht scheuen. Nicht im politisch-philosophischen Wortsinne, sondern im wörtlichen Sinn - denn eine Abkehr von fossilen Brennstoffen innerhalb von zwei Generationen wird in den entwickelten Industrieländern nicht möglich sein ohne eine Reduktion der materiellen Produktion und der Transportwege. Dazu aber braucht es politische Entscheidungen wie z.B. den Verzicht auf die Herstellung unnützer und schädlicher Güter.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 27.Jg., Juni 2012, Seite 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2012