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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1969: Flüchtlingshilfe in Hamburg-St. Pauli


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10, Oktober 2015
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Flüchtlingshilfe in Hamburg-St. Pauli
"Diese Bewegung ist eine Stätte der Solidarisierung"

...und außerdem steigert sie die Mobilisierungsbereitschaft gegen Nazis. CHRISTIAN HAASEN ist mit dabei.

Interview von Manuel Kellner


SoZ: Die Welle der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge ist beeindruckend. Du bist Teil der Bewegung in Hamburg, insbesondere im Stadtteil St. Pauli. Wie erlebst du diese Bewegung und was sind ihre besonderen Kennzeichen?

Christian Haasen: Ich erlebe eine äußerst interessante Dynamik. Die Flüchtlingshilfe ist in Hamburg spontan entstanden und hat eine regelrechte Gegenwelt der Solidarität geschaffen. St. Pauli ist das Zentrum, da kommen täglich Hunderte zusammen, organisieren sich selbst, verwalten und verteilen die vielen eingehenden Spenden. Hier ist ein Aufnahmelager für über tausend Flüchtlinge in einer Messehalle eingerichtet worden. Eine zweite Messehalle ist den Helferinnen und Helfern zur Verfügung gestellt worden. Im Minutentakt kommen Leute im Auto, auf Fahrrädern und zu Fuß, die Gebrauchsgüter bringen. Viele von ihnen fragen, was sie tun können, um zu helfen, viele Jugendliche, Künstlerinnen und Künstler, auch ganz normale, eher "spießig" wirkende Leute, selbst Jungunternehmer, die mehrere Tage in der Woche kommen um zu helfen. Dreißig oder vierzig von ihnen haben ihre Jobs unterbrochen oder ihren Jahresurlaub genommen, um ihre Zeit der Flüchtlingshilfe zu widmen.

Einer der Hauptorganisatoren ist ein DJ, der erstmal keine Aufträge mehr annimmt und täglich von 7 Uhr morgens bis in die Nacht anwesend ist und sich einsetzt. Über Facebook und durch Mund-zu-Mund-Propaganda waren zu einem Treffen im Ballsaal des FC St. Pauli über tausend Leute gekommen, die teilweise draußen ausharren mussten, weil der Saal überfüllt war. Diese Versammlung brachte nicht nur die enorme Hilfsbereitschaft der Anwesenden zum Ausdruck, sondern auch viel Kritik an der Stadt, die aufgefordert wurde, mehr Geld einzusetzen und überhaupt ihrer Verantwortung gerecht zu werden, damit die Flüchtlinge menschenwürdig untergebracht, informiert und versorgt werden. Gleichwohl ging es vor allem um die praktischen Aufgaben, die Verteilung der Hilfsgüter, den Sprachunterricht, die Integration in die sportlichen Aktivitäten, die Gesundheitsversorgung, die Hilfe bei Behördengängen.


SoZ: Du bist selbst in dieser Bewegung aktiv. Wie spielt sich das für dich ab?

Christian Haasen: Ich arbeite als Arzt und mache mich regelmäßig für ein paar Stunden frei, gehe hin und lasse mich einteilen, um zum Beispiel Wäsche oder Drogerieartikel zu sortieren. Die Drogerie-Kette Budnikowski hat neben der Kasse ihrer Filialen einen Karton stehen. Viele, die da einkaufen gehen, kaufen zusätzlich Artikel, die auf der Seite der Flüchtlingshilfe im Internet als dringend erforderlich benannt werden, und legen sie in den Karton. Budnikowski liefert diese Sachen an die Flüchtlingshilfe aus, die sie verteilt. Viele, vor allem kleinere Unternehmen liefern Produkte oder fragen nach, was denn so gebraucht wird.

Es werden immer mehr Flüchtlinge, aber auch immer mehr Helferinnen und Helfer, immer mehr Spenden. Manchmal gibt es sogar einen Aufnahmestopp für Sachspenden, um mit dem Sortieren und Verteilen nachzukommen. Wie viele Sachen haben so viele Menschen in ihren Schränken, die sie eigentlich nicht brauchen! Hier werden sie einer nützlichen Bestimmung zugeführt.

Die meisten Menschen hier sind politisch unorganisiert, viele gehören der eher linksalternativen Szene von St. Pauli an. Auch der FC St. Pauli engagiert sich, stellt Räume zur Verfügung, hat über sein Internetforum "Kiezhelden" kurzerhand 50.000 Euro Spenden mobilisiert und die Flüchtlinge zum Freundschaftsspiel gegen Borussia Dortmund eingeladen. Eine afghanische Familie hat bei der Gelegenheit für die anwesenden Flüchtlinge Essen zubereitet und gesagt: "Wir wissen, was ihr durchmacht, wir waren selber Flüchtlinge."


SoZ: Hat diese Bewegung ein politisches Potenzial, findest du Anknüpfungspunkte für deine Sicht auf die Fluchtursachen, für deine Kritik an der kapitalistischen Klassengesellschaft und der von ihr geprägten ungerechten Weltordnung?

Christian Haasen: Extrem interessant finde ich, wie hier viele ganz verschiedene Menschen zusammenkommen und miteinander reden, die sonst nie in Kontakt gekommen wären. Da entstehen viele Gespräche, auch über die Stadtpolitik, über Solidarität, über Fluchtursachen und die offizielle Politik. Viele, die helfen, haben selber Migrationshintergrund, viele haben türkische Wurzeln. Da kommt es bei der gemeinsamen Hilfsarbeit zu Gesprächen zwischen linksalternativen und "normalen" Deutschen oder zu Gesprächen mit verschleierten muslimischen Frauen über soziale und politische Fragen.

Viele Jugendliche machen mit. Meine 14jährige Tochter kommt mit ihren Schulfreundinnen, ist regelrecht angestachelt, stellt mir viele Fragen. Das aktive Mitmachen bei der Flüchtlingshilfe führt bei vielen zur Politisierung. Darum sagen wir auch denen, die etwas spenden und fragen, was sie sonst tun können: Entscheidend ist, mitzumachen, aktiv zu werden.


SoZ: Ist die Bewegung auf St. Pauli beschränkt?

Christian Haasen: St. Pauli ist ohne Zweifel das Zentrum. Spenden kommen aber mittlerweile aus ganz Hamburg und Umgebung. Viele kommen nach St. Pauli, hier finden sich jeden Tag Hunderte bei den Messehallen ein, die eine starke Anziehungskraft entwickelt haben. Aktive Hilfsinitiativen gibt es auch in anderen Stadtteilen, obwohl sie noch nicht die Ausmaße wie in St. Pauli erreicht haben. Von hier aus werden inzwischen alle Flüchtlingsheime in Hamburg beliefert. Am Hauptbahnhof ist eine Außenstelle mit Infopoint eingerichtet worden, wo auch Essen ausgegeben und über Weiterreisemöglichkeiten informiert wird, z.B. wie man nach Schweden kommen kann, ohne über Dänemark zu reisen.


SoZ: Wie reagiert die Bewegung auf den ansteigenden Zustrom von Flüchtlingen einerseits und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen durch die deutsche Bundesregierung andererseits?

Christian Haasen: Das ist ganz klar. Mehr Flüchtlinge bedeuten mehr Anstrengungen, sie aufzunehmen, zu versorgen und zu integrieren, aber keineswegs eine Abkehr von der Hilfsbereitschaft. Zur Wiedereinführung der Grenzkontrollen ist die einhellige Reaktion eindeutig negativ. Diese Maßnahme widerspricht der zuvor von Angela Merkel vollmundig verkündeten Hilfsbereitschaft und verschärft die ohnehin so harte Lage der Flüchtlinge.

Die Politisierung in der Bewegung führt zur Kritik an der Regierungspolitik, aber auch zu einer wachsenden Bereitschaft, sich gegen Neonazis und andere Rassisten zu mobilisieren, so kamen in Hamburg 20.000 zu einer Gegendemonstration gegen den rechten Mob, mehr als je zuvor.

Die Bewegung gibt nicht zuletzt den Flüchtlingen selbst eine öffentlich wahrnehmbare Stimme. Viele Menschen mit Migrationshintergrund, die (oder deren Eltern) ihre Heimat verlassen mussten, antworten ihnen mit ihren eigenen Erfahrungen. Wie gesagt, diese selbstorganisierte Bewegung ist eine Stätte der Solidarisierung und der Politisierung im emanzipatorischen Sinne.


Christian Haasen ist Arzt und Mitglied der Internationalen Sozialistischen Linken (ISL) in Hamburg.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10, 30. Jg., Oktober 2015, S. 15
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2015

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