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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2179: 100 Jahre russische Revolution, Teil 7


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10 Oktober 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

100 Jahre russische Revolution, Teil 7
Oktoberrevolution - Putsch oder Aufstand?

von Manuel Kellner


Der Sturz der Kapitalherrschaft durch Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte hat viele spätere antikapitalistische Bewegungen inspiriert. Die bürokratische Diktatur diskreditierte jedoch die sozialistische Idee. 1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst. Was bleibt hundert Jahre nach der Oktoberrevolution?(*)


Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution verbreiten die bürgerlichen Medien ihre alte Leier: Die Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiki am 25. Oktober 1917 a. St. (7. November) sei der Putsch einer kleinen Minderheit gewesen.

Für die Süddeutsche Zeitung z. B. liegt die Würze in der Kürze: "Im Oktober putschen die Bolschewisten erneut - diesmal erfolgreich: Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter seinem Kampfnamen Lenin, reißt die Macht an sich." "Erneut" schreibt die Süddeutsche, weil sie die bewaffneten Demonstrationen in Petrograd Anfang Juli ebenfalls und kontrafaktisch als missglückten "Putschversuch" der Bolschewiki bezeichnet - obwohl die Bolschewiki in diesen Tagen alles dafür getan hatten, die Bewegung in friedliche Bahnen zu lenken.

Die geschichtliche Forschung kommt zu anderen Ergebnissen. Kein Wunder, wo doch Zeitzeugen - ausgewiesene politische Gegner der Bolschewiki! - schon ganz anders geurteilt hatten. So schrieb der Menschewik N. N. Suchanow: "Es ist sichtlich unsinnig, von einem Militärputsch statt von einem Volksaufstand zu sprechen, wenn hinter der Partei der überwältigende Teil der Bevölkerung steht und die Partei de facto bereits die gesamte reale Macht und Autorität erobert hat."

Der bürgerliche deutsche Wissenschaftler Oskar Anweiler stellte fest: "In den Arbeiterräten der weitaus meisten Industriestädte hatten die Bolschewiki die Mehrheit, ebenso in den meisten Soldatenräten der Garnisonsstädte." Die englische Historikerin Beryl Wiliams schrieb im gleichen Sinne: "Die Massen sahen die Sowjetmacht... als Lösung ihrer Probleme an, und nur die Bolschewiki wurden wirklich mit der Sowjetmacht identifiziert... Ihre Partei konnte sich nun auf einer Welle der Sympathie an die Macht tragen lassen."

Michael Smilg-Benario (Von Kerenski zu Lenin. Die Geschichte der zweiten russischen Revolution, Wien 1929) spricht zwar in einer Kapitelüberschrift von einem "Staatsstreich", schildert aber dann die überwältigende Hegemonie der Bolschewiki in den Räten vor dem Aufstand, die völlige Ohnmacht der Regierung Kerenski und den weitgehenden Verlust an Einfluss der "gemäßigten" Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die nur noch im Zentralexekutivkomitee der Sowjets eine Mehrheit hatten.

Am 10. Oktober (23. Oktober) sprach sich das ZK der Bolschewiki für den Aufstand aus, ohne ein konkretes Datum zu nennen. Beide Seiten - die bereits weitgehend isolierte Provisorische Regierung und hochrangige Offiziere auf der einen, revolutionäre Matrosen, Soldaten und aus den Belegschaften der Industriebetriebe hervorgegangene Rote Garden auf der anderen Seite bereiteten sich vor aller Augen auf die entscheidende Auseinandersetzung vor.

Das Revolutionäre Militärkomitee unter Trotzkis Leitung war eine offizielle Einrichtung der Sowjets, der Räte. Dieses Komitee gab am 24. Oktober a. St. das Signal zum Aufstand am 25. Oktober mit einer defensiv gehaltenen Losung: "Die Revolution ist in Gefahr! Abwehr der Verschwörer!" In wenigen Stunden waren in der Hauptstadt Petrograd alle wichtigen Schaltstellen besetzt, und schließlich wurde auch die Regierung verhaftet. Dabei gab es nur ganz wenige Opfer, viel weniger als beim Februaraufstand, als die Zarenherrschaft zusammenbrach - und sehr viel weniger als auf deutschen Autobahnen an einem beliebigen Wochenende des Jahres 2017. Lynchmorde von Seiten der aufgebrachten Menge waren Einzelfälle. Führende Bolschewiki wie Wladimir Antonow-Owsejenko verhinderten solche Racheakte mit Appellen, die Ehre der Revolution nicht zu beflecken.

Zeitgleich trat der neu gewählte Sowjetkongress in der Hauptstadt zusammen, der II. Gesamtrussische Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Mit 390 von 650 Delegierten hatten die Bolschewiki dort eine absolute Mehrheit. Gemäß ihrer Losung "Alle Macht den Räten!" übergaben die Aufständischen diesem Rätekongress die Macht. Die bolschewistische Mehrheit bildete die Regierung, den ersten Rat der Volkskommissare und später eine Koalitionsregierung mit den linken Sozialrevolutionären. Die Rätemacht war in den ersten Jahren der Revolution radikal demokratisch, mehrere Parteien und Strömungen waren in ihr vertreten.

Das Ausbleiben der ersehnten sozialistischen Revolutionen im Westen, vor allem in Deutschland, und ein brutaler, von den Westmächten durch ihre militärischen Interventionen befeuerter Bürgerkrieg waren die wichtigsten Faktoren, die die Verwandlung der Rätemacht in die Diktatur einer Minderheit aus Partei- und Staatsführung verursachte. Trotzdem bleibt der erste Ausbruch aus dem kapitalistischen Weltsystem ein wichtiger Teil des Erbes, auf das sich der Kampf für den Sozialismus im 21. Jahrhundert stützen kann.


Anmerkung:
(*) In Teil 6 ging es um die Vorbereitung des bewaffneten Aufstands im September 1917.


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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2172: 100 Jahre russische Revolution, Teil 6


Zum Oktoberaufstand siehe auch:
Ernest Mandel: Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution. Zur Verteidigung der Oktoberrevolution. Köln 1992

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10, 32. Jg., Oktober 2017, S. 21
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2017

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