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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2409: Der Frauenstreik in der Schweiz am 14. Juni setzt neue Maßstäbe


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 · Juli/August 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Ein Riesenerfolg
Der Frauenstreik in der Schweiz am 14. Juni setzt neue Maßstäbe

vom Redaktionskollektiv der Bewegung für den Sozialismus, Zürich


Ohne zentrale Führung, aber mit Hunderten von lokalen Initiativen ist der Schweizer Frauenstreik zu einer richtigen Bewegung geworden.


Es ist 17 Uhr und Zürich steht still. Schon seit über einer Stunde strömen Menschen auf das Central, dem Besammlungsplatz der Zürcher Demonstration zum schweizweiten Frauen*streik/feministischen Streik. Der Platz ist viel zu klein und die Demoteilnehmer*innen sammeln sich in den Straßen und im benachbarten Hauptbahnhof. Auch in Bern, Basel, Genf, Lausanne oder Lugano spielen sich ähnliche Szenen ab. Es ist der 14. Juni 2019 und Frauen* haben schweizweit zum zweiten Mal in der Geschichte gestreikt.


Lasst uns streiken!

Seit Monaten haben sich in der Schweiz Dutzende lokale und regionale Kollektive auf diesen Streik vorbereitet. Anders als 1991, dem ersten schweizweiten Frauenstreik, gab es keine zentrale Führung der Streikvorbereitungen. Stattdessen wurde die Hauptarbeit lokal in den Kollektiven geleistet und auf nationaler Ebene die unterschiedlichen Vorbereitungen koordiniert. Eine Übersicht hatte niemand so wirklich und genau das machte die Stärke des Streiks aus: Überall wurden Komitees, Gruppen, Blöcke gebildet. In Zürich bspw. bildeten sich neben dem Stadtzürcher Kollektiv und dem Zürich Oberland- oder Winterthur-Kollektiv auch Hochschul-, Gymnasien-, Gastrokollektive oder Gruppen von Betreuerinnen*, Migrantinnen*, Großmüttern* und es entstanden Arbeitsgruppen zur Vorbereitung der Demo, der Reden, der Musik oder der verschiedenen Aktionen. Frau konnte sich dort einbringen, wo sie sich betroffen fühlte und sich einbringen wollte.

Aufgrund dieser vielfältgen Beteiligung und Betroffenheit gab es auch unzählige Forderungen. Diese reichten von bezahlter Hausarbeit über sexualisierte Folter als Asylgrund bis zu Arbeitszeitverkürzung für alle bei gleichem Lohn. Neben Geschlechteridentität, Arbeit oder Körper ging es auch um Ökologie, Grenzen, Krieg und Räume. Die inhaltliche Vielfalt war enorm und die Ablehnung des patriarchal kapitalistischen Systems klar zu spüren.


Die größte Mobilisierung seit langer Zeit

In den letzten Wochen vor dem Streik wurde erstmals erkennbar, dass die Mobilisierung wirklich groß werden könnte. Dass sie so groß werden würde, damit hat aber niemand gerechnet. Weit über eine halbe Million Menschen haben sich am Streiktag beteiligt, allein schon an den zentralen Demonstrationen in den verschiedenen Städten und Orten beteiligten sich eine halbe Million Menschen, überwiegend Frauen*. Dabei erlebten viele größere Städte die massivsten Demonstrationen ihrer neueren Geschichte.

Die Demonstrationen waren aber längst nicht das einzige. In allen größeren Städten und Dutzenden kleineren Ortschaften gab es Arbeitsniederlegungen und verlängerte Pausen, Streikmittage, Stadtrundgänge, Vorträge, Versammlungen, Blockaden und am Abend Demonstrationen. (Die Karte auf 1406.ch zeigt die unglaubliche Vielfalt und Breite an Streikaktivitäten.)

In Zürich bspw. begann der Streiktag bereits kurz nach Mitternacht. Mit einem Autokorso durch die Zürcher Innenstadt wurde der Frauen*streik "eingehupt". Über den Mittag kam es dann unter anderem zur Besetzung des wichtigen Verkehrsknotenpunktes am Central unter dem Motto: "Wenn Frau* will, steht alles still". Am Nachmittag rief die Betreuer*innengruppe "Trotzphase" zum Streiktreffen auf der Bäckeranlage auf. Hunderte Frauen* folgten dem Aufruf und machten klar, dass sie die Geringschätzung der Sorgearbeit, die schlechte Bezahlung und die prekären Arbeitsbedingungen, Unterbesetzungen und die hohen Belastungen in der Kinderbetreuung nicht länger tolerieren werden. Am Nachmittag solidarisierten sich Frauen* mit politisch gefangenen Frauen* in der Schweiz und international und umschlossen das Bezirksgefängnis mit einem 400 Meter langen Transparent.


Zapfenstreich

Um 15.24 Uhr - einem von zwei zentralen Momenten des Tages - verließen überall in der Stadt Frauen* ihre bezahlte oder unbezahlte Arbeit und strömten auf die Straßen und Plätze. Beeindruckend, wie sich die Stadt mit violett gekleideten Frauen* füllte. Die Polizei war ob der schieren Menge der teilnehmenden Frauen* und den immer wieder entstehenden spontanen Demonstrationszügen und Aktionen komplett überfordert. Gegen 17 Uhr strömten dann zehntausende Frauen* Richtung Central, das bald aus allen Nähten platzte. Als sich die zentrale Demonstration mit über 160.000 Menschen dann in Bewegung setzte, war bald klar: Das muss eine der größten Demonstrationen sein, die Zürich je gesehen hat. Anschließend wurden auf dem Helvetiaplatz bis in die Nacht hinein Reden gehalten, gefeiert und gesungen.

Auch in anderen Städten und Kantonen fanden 24 Stunden lang verschiedenste Aktionen, Demonstrationen und Streiks statt. Die Städte wurden teilweise lahmgelegt und überall waren Streikfahnen und Transparente zu sehen. Im Tessin organisierte das Kollektiv "Io l'8 ogni giorno" (Ich kämpfe jeden Tag) eine Karawane durch den ganzen Kanton, in Baden gab es Sternmärsche zu einem gemeinsamen Z'Mittag und im Lorraine-Quartier in Bern wurden Barrikaden aufgestellt und das "Jinwar-Dorf - Dorf der freien Frau*" errichtet. In Basel wurde in der Nacht auf den Freitag der Roche-Turm, das höchste Haus der Schweiz, mit dem Frauenstreiklogo angeleuchtet, und die Kathedrale in Lausanne leuchtete in lila Farben. In jedem kleinen und großen Ort trafen sich Frauen*, diskutierten, blockierten und demonstrierten, und die Solidarität untereinander war enorm!

Diese Vielseitigkeit der Aktionen und die Art und Weise, wie sich Frauen* beteiligen konnten, machte die Stärke des umfassenden Streiks aus.


Das war erst der Anfang

Die feministischen Kollektive in der ganzen Schweiz sagen schon seit Monaten, dass der 14. Juni 2019 nicht das Ende, sondern der Startschuss für eine breite feministische Vernetzung in der Schweiz und darüberhinaus sein wird. In den Tagen nach dem Streik ist klargeworden, dass das ernst gemeint ist: Transparente sind noch immer überall zu sehen, und neue Aktionen sowie weitere Treffen sind angekündigt oder haben bereits statt gefunden. Zusammen mit der Klimastreikbewegung erlebt die Schweiz zur Zeit einen Aufschwung sozialer Bewegungen, die von hunderttausenden Aktivist*innen getragen werden und in ihrer selbstorganisierten Form einzigartig sind. Es ist das erste Mal seit langem, dass die antikapitalistische, feministische und ökologische Linke einen Grund hat, sich auf die kommenden Monate zu freuen.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 34. Jg., Juli/August 2019, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
Telefon: 0221/923 11 96E-Mail: redaktion@soz-verlag.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2019

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