Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2454: Wirtschaft im Abschwung - Der spekulationsgetriebene Kapitalismus


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12 · Dezember 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Wirtschaft im Abschwung
Der spekulationsgetriebene Kapitalismus

von Ingo Schmidt


"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg"
(Pierre de Boisguillebert, 1704)  

Alles wie immer? Erst warnen die Wirtschaftsforscher vor einem Nachlassen der Aufschwungskräfte. Dann diagnostizieren sie eine leichte Rezession, stellen aber bereits die konjunkturelle Erholung in Aussicht. Mit aller gebotenen Vorsicht natürlich.


So war es auch in den Jahren 2007 und 2008. Aber 2008 gab es keinen Abschwung, sondern einen Zusammenbruch. Ist es jetzt wieder soweit oder bleibt es diesmal bei der leichten Rezession?

Spekulationsblasen, die bis zum Börsenkrach 2008 von den meisten Ökonomen als Vorboten künftigen Wachstums fehlgedeutet und erst danach als Krisenverstärker wahrgenommen wurden, gibt es gegenwärtig nicht. Jedenfalls nicht so große wie vor elf Jahren. Dafür hat die Mischung aus Finanzkrise und Staatsinterventionen zum Zweck der Eindämmung der Krise zu politischen Problemen geführt, die heute wie ein Damoklesschwert über der Konjunktur hängen.

Wirtschaftsforscher weisen in diesem Zusammenhang zu Recht, aber etwas verkürzt, auf den amerikanisch-chinesischen Handelskonflikt und das andauernde Brexit-Chaos hin. Beide sind Folge eines seit der letzten Krise grassierenden Rechtspopulismus, teilweise auch Neofaschismus, dessen Mobilisierung Wählerstimmen bringt, aber das Aushandeln von Regierungsmehrheiten und internationalen Abkommen behindert und mitunter ganz blockiert.


Hohe Beschäftigung...

Die politischen Auswirkungen von Wirtschaftskrisen gehören freilich nicht in den Zuständigkeitsbereich der Konjunkturforschung. Abgesehen von dem summarischen Hinweis, dass Donald Trump und Boris Johnson den weltwirtschaftlichen Frieden stören, konzentrieren sie sich ganz auf die Wirtschaftsstatistik. Diese zeigt einen Rückgang der Auftragseingänge, der Kapazitätsauslastung und der Industrieproduktion. Die Aktivität in den Bereichen Bau und Dienstleistungen steigt hingegen noch leicht an. Die Arbeitslosenquote liegt immer noch bei 3 Prozent, dem niedrigsten Wert seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75. Damals schnellte die Quote innerhalb weniger Monate von 1,5 auf 4 Prozent. Nach den Jahren des Wirtschaftswunders ein Schock, wenige Jahre später hätten Regierungen solche Arbeitslosenzahlen als Erfolg präsentiert.

Die Zeiten haben sich nicht nur in punkto Arbeitslosigkeit geändert. Die 1970er Jahre wurden mit Rezession und zwei Ölpreisschocks als Krisenjahrzehnt wahrgenommen und so sind sie auch in die Geschichtsbücher eingegangen. Die durchschnittliche Wachstumsrate betrug damals 2,9 Prozent. Die ablaufenden 2010er Jahre werden, wenn es in den nächsten Monaten nicht einen neuerlichen Konjunkturabsturz geben sollte, als Jahrzehnt des XXL-Aufschwungs und Beschäftigungswunders erinnert werden.

Wenn die Konjunkturprognosen halbwegs richtig liegen, wird das Durchschnittswachstum bei 1,6 Prozent gelegen haben - somit um 0,7 Prozent höher (daher wohl das XXL) als in den 2000er Jahren, in deren Durchschnittswachstum auch die -5,6 Prozent des "Hauptkrisenjahres" 2009 eingegangen sind.

Dass es trotz dieser langfristigen Verlangsamung des Wachstums zu einem massiven Rückgang der Arbeitslosenquote von 11,2 Prozent 2005 auf die gegenwärtigen 3 Prozent gekommen ist, grenzt tatsächlich an ein Wunder. Liberale Ökonomen führen den seit 2005 stattgefundenen Beschäftigungszuwachs auf die Lohnsenkungen zurück, die im Zuge der Agenda 2010 ermöglicht wurden. In deren Folge haben die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen weiter eingeschränkt als zuvor. Unternehmen haben die dadurch ermöglichten Zusatzgewinne gern eingestrichen, sich selber aber in Investitionszurückhaltung geübt.

Die langfristige Verlangsamung des Wirtschaftswachstums ging mit rückläufigen Zuwächsen beim Aufbau von Produktionskapazitäten einher. Diese haben, zusammen mit der Verschiebung von der Industrieproduktion zu personenbezogenen Dienstleistungen, zu einer Verlangsamung der Produktivitätszuwächse geführt.


...niedrigere Produktivität...

Dies konnte in den letzten Jahrzehnten außer in Deutschland auch in Großbritannien und Japan beobachtet werden. Höhere, allerdings ebenfalls hinter den Werten der Nachkriegsprosperität zurückbleibende, Produktivitätssteigerungen waren dagegen aus den USA und Frankreich zu vermelden. In den USA war der Rückgang der Arbeitslosenquote von 10 Prozent auf dem Höhepunkt der letzten Krise auf aktuell 4 Prozent allerdings auch mit einem Rückgang der Erwerbsquote von 66 auf 63 Prozent verbunden. In Deutschland ist die Erwerbsquote hingegen seit Verkündung der Agenda 2010 von 57 Prozent auf aktuelle 61,5 Prozent gestiegen. In Frankreich liegt die Erwerbsquote bei 72, in Großbritannien bei 79 Prozent.

Die Verlangsamung des Produktions- und Produktivitätswachstums seit den 70er Jahren fällt in eine Zeit, die nicht nur mit Globalisierung, sondern auch mit einer Revolution in der Informationstechnologie und damit verbundenen Automationsprozessen verbunden wird. Diese haben ohne Zweifel stattgefunden, anderslautenden Prognosen zum Trotz aber nicht zum Ende der Lohnarbeit geführt. Daher sind auch gegenwärtig durch die Medienwelt geisternde Warnungen, in den nächsten ein, zwei Jahrzehnten würde die Hälfte aller heute bestehenden Arbeitsplätze verschwinden, mit Vorsicht zu genießen.


...und geringe Inflation

Die Förderung des Niedriglohnsektors durch die Agendapolitik mag nicht viel zum Beschäftigungswachstum beigetragen haben. Aber sie hat dafür gesorgt, dass die schon vorher zum Stehen gekommene Profit-Lohn-Spirale mittlerweile ganz eingerostet ist. Übrigens nicht nur in Deutschland.

Länder mit zweistelligen Inflationsraten, in den 70er Jahren schon fast eine Normalität, sind heute fast so selten wie Länder, die als Teil akuter Finanz- und Wirtschaftskrisen schon mal drei- oder gar vierstellige Inflationsraten aufweisen. Von konjunktureller Überhitzung, also einer im Zuge des Aufschwungs steigenden Inflationsrate, kann keine Rede mehr sein.

Mit dem Ende der Inflation ist aber auch das Ende von während des Aufschwungs steigenden Zinssätzen gekommen. Wirtschaftspolitiker sorgen sich, weil damit die Möglichkeit entfällt, im Abschwung mit Zinssenkungen Investitions- und Konsumanreize zu schaffen. Die Frage ist allerdings, weshalb es angesichts niedriger Zinsen überhaupt zu einem Abschwung kommen soll. Zumal nicht Kredite, sondern auch Arbeitskräfte und Rohstoffe billig zu haben sind. Vor der Krise 2008 hatte der Ölpreis mit 145 US-Dollar ein Allzeithoch erreicht, brach während der Krise auf 50 Dollar ein, pendelte bald danach aber bereits wieder zwischen 100 und 110 Dollar. Aktuell ist ein Barrel Rohöl für die Hälfte zu haben.


Spekulation...

Klagen über zu hohe Kosten gehören zum kapitalistischen Geschäftsmodell. In letzter Zeit ist aber selbst von einigen diesem Modell zugetanen Ökonomen zu hören, nicht die Kosten, sondern die Nachfrage sei die Achillesferse der Konjunktur. Jahrzehntelang hat die Mainstreamökonomie Nachfrageprobleme entweder geleugnet oder mit der politischen Fesselung der Marktkräfte erklärt. Damit lieferte sie das ideologische Rüstzeug für die Agenda 2010 und andere "Marktentfesselungsprogramme".

Auf Arbeitsmärkte und Sozialstaat angewendet, sorgten sie für niedrigere Lohnkosten. Diese führten aber nicht automatisch zu steigenden Investitionen und einem davon angetriebenen allgemeinen Wirtschaftsaufschwung. Die hierfür notwendige Nachfrage wurde durch die Entfesselung der Finanzmärkte geschaffen.

Mögen die Zinsen damals auch höher gewesen sein als heute - während des Dot.com-Booms in den 90er Jahren lag der Zentralbankzinssatz in den USA zwischen 4,5 und 6,5 Prozent -, die Kredit-Wertpapierkurs-Spirale führte zu steigender Investitions- und Konsumgüternachfrage. Und trieb die Gewinnerwartungen in Höhen, die durch noch so viel Kostensenkung und tatsächliche Produktionsausweitung nicht erfüllt werden konnten. Dieses von einer sich selbst antreibenden Spekulation abhängige Akkumulationsmodell erhielt mit dem Platzen der Dot.com-Blase einen erheblichen Dämpfer und brach mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 zusammen.

Seither sind private Haushalte vorsichtiger geworden. In den USA ist die Sparquote von 2,5 Prozent vor der Krise auf gegenwärtig 8 Prozent gestiegen. Entsprechend ist der Anteil der privaten Schulden am Bruttoinlandsprodukt von fast 100 auf 75 Prozent gesunken. Auch die Aktienkurse haben sich nicht, wie vor der Krise, von der Gewinnentwicklung abgelöst. Nur die Immobilienmärkte neigen wieder in erheblichem Maße zur Blasenbildung. Die Kehrseite der nicht nur in den USA eingekehrten Vorsicht: Absatzerwartungen und daran orientierte Investitionen entwickeln sich nur schleppend. So paradox das klingen mag: Spekulationsblasen sind zur Voraussetzung der Kapitalakkumulation geworden.


...und Angst

Wenn die Blasen zu groß werden, kommt es zum Krach. Wenn sie zu klein sind, kommt der Aufschwung kaum über Stagnationsniveau hinaus, um dann trotzdem zu erlahmen. Zum Platzen gefüllte Spekulationsblasen erzeugen Euphorie und Größenwahn bei einigen, Angst bei anderen. Kommt es zur Krise und zur Rettung "systemrelevanter" Banken unter Einsatz von Steuergeldern, die für soziale Zwecke angeblich nicht vorhanden sind, machen sich Wut, Hass und Zynismus breit. Bleibt danach alles beim alten, kommt Hoffnungslosigkeit hinzu.

Der spekulationsblasenabhängige Kapitalismus bereitet der Bündelung und Verstärkung mieser Stimmungen durch eine neue Rechte den Boden. Angst ist der Nährboden der extremen Rechten. Sie zu stoppen würde erfordern, den Menschen neue Sicherheit - jenseits des Kapitalismus - zu geben. Dazu fehlt linken Parteien und Bewegungen (noch) die Kraft. Suchen sie jedoch das Bündnis mit moderaten Kräften des Kapitals, tragen sie zur Fortführung genau jenes Kapitalismusmodells bei, aus dessen Krise, die neue Rechte hervorgegangen ist.

*

Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12, 34. Jg., Dezember 2019, S. 11
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
Telefon: 0221/923 11 96E-Mail: redaktion@soz-verlag.de
Internet: www.sozonline.de
 
Die Soz erscheint monatlich und kostet 3,50 Euro.
SoZ-Probeabo: 3 Ausgaben für 10 Euro
Normalabo: 58 Euro
Sozialabo: 28 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang