Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → FAKTEN

INTERNATIONAL/040: Pakistan - Auf der Abschussliste, Journalisten von Staat und Extremisten bedroht (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Januar 2012

Pakistan: Auf der Abschussliste - Journalisten von Staat und Extremisten bedroht

von Zofeen Ebrahim


Karachi, 12. Januar (IPS) - "Das hier könnte mein letztes Interview sein" - in Jamal Tarakais Stimme schwingt unüberhörbar Nervosität mit. In der Telefonleitung nach Quetta knistert es. Der 35-jährige Journalist aus der Unruheprovinz Belutschistan im äußersten Westen Pakistans fürchtet, dass er jederzeit ermordet werden könnte.

Tarakais Angst ist begründet. In den vergangenen zwei Jahren hat sich eine Welle der Gewalt gegen Medienvertreter in Belutschistan entladen. Allein 2011 starben zehn Journalisten, während sie ihrem Beruf nachgingen. Drei von ihnen wurden von Sprengsätzen zerfetzt oder gerieten bei Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppen und Sicherheitskräften in die Schusslinie. Die übrigen wurden gezielt erschossen.

"Wenn jemand für mein Leben garantieren könnte, würde ich diesen Beruf auf der Stelle aufgeben", sagt Tarakai. Er bereut es zutiefst, im vergangenen Mai auf einem Platz in Quetta die brutale Ermordung von fünf unbewaffneten Ausländern durch pakistanisches Militär gefilmt zu haben. Eines der Opfer war eine hochschwangere Frau.

Ein Kollege aus derselben Stadt schrieb im November in der englischsprachigen Zeitung 'Express Tribune', dass die Journalisten "wegen ihrer Arbeit und ihrer Sympathien für die leidende Bevölkerung" sterben mussten.

Belutschistan, die größte und zugleich am wenigsten entwickelte Provinz in Pakistan, gilt als Rückzugsort extremistischer Gruppen. Seit dem Sturz der afghanischen Taliban 2001 soll die militante Organisation 'Quetta Shura', die von Islamisten aus dem Nachbarland angeführt wird, in Quetta einen Stützpunkt errichtet haben. Daraufhin rückte die pakistanische Armee in die Provinz ein.


Grausam zugerichtete Leichen

Medien im In- und Ausland berichten regelmäßig über Entführungen und von Kugeln durchlöcherte Leichen, die deutliche Folterspuren aufweisen. Zielscheibe der Gewalt sind auch ethnische Muslime. "Belutschistan ist durch seine Stammestraditionen, unterschiedliche separatistische und religiöse Gruppen sowie die Präsenz von Sicherheitskräften und Geheimdienst für Journalisten zu einem äußerst heiklen Pflaster geworden", meint Tarakai.

"Die Geheimdienste jagen dich, weil du mit westlichen Diplomaten gesprochen hast. Sie wollen genau wissen, was durchgesickert ist", berichtet Shazada Zulfikar, der als freier Reporter für mehrere nationale und internationale Nachrichtenmedien arbeitet. "Außerdem geraten wir ins Kreuzfeuer verschiedener Gruppen."

Malik Siraj Akbar suchte kürzlich um Asyl in den USA nach. Er sei von staatlichen Geheimdiensten bedroht worden, sagt er IPS in einem Skype-Telefonat. In anderen pakistanischen Konfliktgebieten wie den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) seien Journalisten wesentlich sicherer. In den FATA sei ein überschaubarer Konflikt zwischen Islamisten und der Armee im Gang.

"In Belutschistan herrscht dagegen ein Guerillakrieg. Mindestens fünf bewaffnete Gruppen kämpfen hier gegen die Sicherheitskräfte. Beteiligt sind außerdem Geheimdienste, Paramilitärs, fünf anti-nationalistische Gruppierungen und einige religiöse Organisationen", berichtet Akbar, der sich in zurzeit in Washington aufhält. "Als Journalist wird man von mindestens 15 Gruppen sowie von mächtigen Stammeschefs, Parlamentariern, Senatoren und Drogenhändlern bedroht."

Zudem erschweren widersprüchliche Informationen die Berichterstattung. Manchmal behaupteten bewaffnete nationalistische Gruppen, sie hätten mehr als ein Dutzend Paramilitärs getötet. Letztere dementieren dies oft entschieden. Wenn die Zeitungen über die Aussagen der Nationalisten nicht berichten, beschimpfen diese sie als 'Marionetten und Agenten der Regierung'", sagt Akbar. "Erscheinen solche Artikel, beschweren sich Regierung und Armee über eine Glorifizierung der Rebellen."


Journalisten arbeiten mit der Schere im Kopf

Mehrere Zeitungen in Belutschistan hätten in den vergangenen Jahren darauf verzichtet, Leitartikel und Kommentare zu veröffentlichen, so der Reporter. "Wir hatten hervorragende Meinungsseiten mit fundierten Debatten und guten Artikeln. Dies alles existiert nicht mehr."

Die Journalisten trauen sich demnach nicht mehr, über Vermisste zu schreiben und bestimmte Fotos mit ihren Berichten zu veröffentlichen. Ebenso vermeiden sie Reizwörter, die den Hass ihrer Gegner schüren können. Termini wie 'Märtyrer', 'Freiheitskämpfer' und 'Aufständischer' seien heikel, gesteht Akbar. Religiöse Gruppen wie die verbotene 'Lashkar e-Jhangvi' verlangten wiederum von den Redaktionen, dass sie Schiiten als 'Ungläubige' bezeichneten. Andernfalls würden die Medien bedroht.

Mehrere Journalisten in Belutschistan lehnten ab, mit IPS zu telefonieren, da sie fürchteten, ihre Gespräche könnten abgehört werden. Allein schon über die Krise im Land zu sprechen, erscheint ihnen zu heikel. Drohanrufe und -SMS sind für sie mittlerweile Teil des gewohnten Alltags.


Unbekannter Feind

"Niemand wendet Gewalt an, um dich am Schreiben zu hindern", sagt Zulfikar. "Doch wenn man hört, was die Folgen sein können, bekommt man Angst." Der Feind sei unbekannt und stehe entweder auf der Seite des Staates oder der von Extremisten. Riaz Mengal, Vorsitzender eines Journalistenverbands, kritisiert, dass bisher kein Täter zur Verantwortung gezogen worden sei. Er selbst war 2007 vom Sohn eines früheren Ministers entführt worden, nachdem er über den Schmuggel von Autos berichtet hatte.

"Wenn Regierung und Geheimdienste wollten, könnten sie die Mörder finden", sagt Tarakai. Akbar sieht die Sicherheitskräfte hingegen als mitschuldig an vielen Verbrechen. "Es ist ein offenes Geheimnis, dass die militanten Gruppen, die Journalisten getötet haben, unter dem Schutz des Armeegeheimdienstes standen." (Ende/IPS/ck/2012)


Link:
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106412

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 12. Januar 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2012