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INTERNATIONAL/055: Ein unabhängiges Radio von kreativen Frauen in La Paz (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 118, 4/11

La voz de mi deseo - Die Stimme meines Wunsches
Ein unabhängiges Radio von kreativen Frauen in La Paz


Seit 1992 macht die feministische Bewegung Mujeres Creando (Frauen, die erschaffen) in Bolivien durch politische und künstlerische Aktionen auf sich aufmerksam und ist mittlerweile auch in unseren Breiten bekannt. In der Virgen de los Deseos (Jungfrau der Wünsche), dem Haus der Bewegung in La Paz, befinden sich neben einem Café-Restaurant, einer Buchhandlung, einer Kinderbetreuungsstätte und einer Frauenberatungsstelle auch die Radiostation Deseo (Wunsch) und die Radioschule La Voz de mi Deseo (Die Stimme meines Wunsches). Tina Füchslbauer sprach mit Helen Alvarez, der Leiterin der Radioschule, über ihre Medienarbeit.


TINA FÜCHSLBAUER: Seit 2007 gibt es Radio Deseo. Warum habt ihr 2009 auch eine Radioschule eröffnet?

HELEN ALVAREZ: Wir waren von Anfang an damit konfrontiert, wie die verschiedenen Kommunikationsmedien Stereotypen kreieren und wie sie Menschen, die keine politische oder Ökonomische Macht - und deshalb keinen Zugang zu Medien - haben, stigmatisieren. Das spürten wir von Mujeres Creando am eigenen Leib: Entweder sie demütigen oder sie kriminalisieren dich. Wenn wir zum Beispiel Aktionen gestartet haben, sind diese entweder gar nicht erwähnt worden oder auf diskriminierende Art und Weise. Und das erzeugt natürlich ein negatives Bild in der Gesellschaft. Das passiert vielen Menschen und Gruppen.

Deshalb träumten wir von einem eigenen Kommunikationsmedium, und 2007 haben wir uns diesen Wunsch mit dem Radio Deseo erfüllt. Wir haben unser Radio immer als offenen Raum für alle gesehen, die etwas in der Gesellschaft verändern und öffentlich anklagen wollen. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, selbst das Wort zu ergreifen, in der ersten Person zu sprechen.

Die erste konkrete Anfrage gab es von den Trabajadoras del Hogar (Hausangestellten). Sie wollten einen Platz im Radio bekommen, und wir wollten sie auch bei uns haben. Aber charakteristisch für Radio Deseo ist die hohe Qualität seiner Produktionen. Wir haben nicht einfach ein offenes Mikrofon, in das jede/r sprechen kann, wie er/sie will. Also war klar, dass wir zumindest ein Minimum an Kenntnissen vermitteln müssen, wie man eine Radioproduktion macht. Und so wurde die Idee geboren, eine Radioschule zu eröffnen.

TINA FÜCHSLBAUER: Welche Leute nehmt ihr in die Radioschule auf?

HELEN ALVAREZ: Die Personen oder Gruppen, mit denen wir arbeiten, haben als grundlegendes Merkmal, dass sie eben durch die Medien ausgegrenzt, kriminalisiert, stereotypisiert worden sind. Weiters müssen sie etwas Konkretes zu sagen haben, und sie selbst müssen die Protagonistinnen dessen sein, was sie der Gesellschaft durch das Radio mitteilen wollen. Alles, was wir in der Schule machen, wird dann im Radio übertragen.

TINA FÜCHSLBAUER: Eure Bewegung ist feministisch, aber das Radio ist breiter gestreut, nicht wahr?

HELEN ALVAREZ: Es gab immer das Vorurteil, dass nur Feministinnen hierher kommen können, aber die Schule ist auch offen für Gruppen, die nicht feministisch sind, die aber Lust haben, etwas in der Gesellschaft zu verändern.

Natürlich gibt es auch Limits. Zum Beispiel gibt es keinen Zutritt für Mitarbeiterinnen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), denn wir wollen nicht zu einem Boxring der NGOs, die ja hier in unserer Gesellschaft eine sehr invasive Rolle gespielt haben, werden. Es kommen auch keine autoritären Personen hier rein. Wer mitarbeiten will, muss sich von seinen Ämtern und der vertikalen Struktur seiner Organisation lösen. Die Hausangestellten zum Beispiel kamen alle von unterschiedlichen Gewerkschaften, in denen es sehr starke Hierarchien gibt. Wir definierten also ganz klar, dass sie hier nicht als Abgesandte ihrer Gewerkschaften agieren, sondern hier sind, um mit der Thematik zu arbeiten zu arbeiten, um die Ausbeutung am Arbeitsplatz anzuklagen, um die Mechanismen aufzuzeigen, wie junge Frauen angeworben werden, um über Frauenhandel, Prostitution und sexuelle Ausbeutung zu sprechen. Mittlerweile haben wir völlig vergessen, wer welcher Gewerkschaft angehört. Symbol dafür sind die Fußballspiele, die sie jährlich veranstalten. Früher hat jede für das Team ihrer Gewerkschaft gespielt, jetzt spielen sie gemeinsam im Team des Radios.

TINA FÜCHSLBAUER: Leute unterschiedlichster Welten treffen bei euch aufeinander...

HELEN ALVAREZ: Klar, das war für alle ein sehr intensiver Prozess. Zu Beginn hatten die Hausangestellten Angst, es würde ihnen gesagt werden, sie wären Lesben, wenn sie hierher kämen. Aber sie haben neue Arten von Beziehungen kennengelernt, haben auch Kontakt zu Männern und Frauen, die allesamt Zugang zu Bildung hatten, und dennoch sind sie diejenigen, die den "Gebildeten" zeigen, wie man eine Radiosendung macht, und sie sind für viele Motivation, selbst auch ein Programm zu machen. Das ist sehr schön anzusehen. Sie haben es jenen, die ihnen das nicht zugetraut hätten, gezeigt. Und es sind interessante Beziehungen der Solidarität und des Respekts entstanden.

Die Frauen, von denen viele aus sehr konservativen Gemeinden voller Tabus kommen, stehen hier in gleichberechtigter, wertschätzender Beziehung zu den homosexuellen Frauen und Männern. Das hat sie dazu gebracht, ihre eigene Situation der Ausbeutung zu reflektieren und zu schauen: "Wie geht es mir mit dem anderen, dem Fremden?" Uns hat es natürlich erlaubt, umgekehrt dasselbe zu machen: Barrieren zu überschreiten und über Themen zu sprechen, die bisher nicht hinterfragt wurden.

In der Welt der Aymara wurde beispielsweise das Thema der sexuellen Gewalt nicht angesprochen. Für sie existierte die Vergewaltigung nicht. Es wurde als völlig normal angesehen, dass sich der Mann die Frau nehmen kann, wann er will. Das wird jetzt in Frage gestellt, und man sieht, dass es eine Art ist, sich den weiblichen Körper anzueignen. Derzeit arbeiten die Hausangestellten an einem Programm, das völlig neu ist: Sie werden über Sexualität sprechen. Und über Lust. Früher kamen sie nur dann in den Medien vor, wenn sie ein Delikt begangen hatten, zum Beispiel einen Diebstahl. Das war sehr stigmatisierend.

TINA FÜCHSLBAUER: Welche Reichweite hat das Radio? Ihr werdet ja auch im Ausland gehört...

HELEN ALVAREZ: Wir haben kein Rating. Aber über die Anzahl der Personen, die unsere Frauenberatungsstelle aufsuchen, die unsere Kindertagesstätte, die Radioschule besuchen, und über die Radiowerbung, die in Auftrag gegeben wird, sowie über die Menschen, die über Radio etwas verlauten lassen, wissen wir, dass wir viele Zuhörerinnen haben.

Und im Chat unserer Homepage teilen uns die Leute mit, was sie denken. Sie schreiben uns da auch: Ich höre euch von Japan aus... - Ich höre euch von Europa aus zu... - Ich höre euer Radio in den frühen Morgenstunden in Spanien... - Man kann uns ja live über das Internet hören.

TINA FÜCHSLBAUER: Gibt es Reaktionen der anderen Kommunikationsmedien?

HELEN ALVAREZ: Ja, alle kriegen mit, was wir machen. Und alle Medien von La Paz - Radio, Presse, Fernsehen -, alle sind gekommen, um Reportagen über unsere Radiogruppen zu machen. Klar, weil es ja wirklich erwähnenswert ist, was wir machen. Dieselben Medien, die uns früher diskriminiert haben, kommen jetzt angelaufen.

TINA FÜCHSLBAUER: Du warst früher Chefredakteurin der Tageszeitung La Prensa. Durch deine kritische Haltung hast du wohl einige Feinde unter deinen ExkollegInnen?

HELEN ALVAREZ: Ja, deshalb sage ich, falls ich mir jemals wieder eine Arbeit suchen müsste - ich klopfe auf Holz -, würde mich wohl keiner mehr anstellen.

TINA FÜCHSLBAUER: Ich danke für das Gespräch.



Webtipps:
www.radiodeseo.com
www.soytrabajadoradelhogar.blogspot.com

Zur Autorin:
Tina Füchslbauer verbrachte einige Monate in der Virgen de Los Deseos in La Paz, wo sie Helen Alvarez und ihre Crew regelmäßig mit Apfelstrudel das Leben versüßte; nun ist sie wieder zurück in Linz.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 118, 4/2011, S. 12-13
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
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http://www.frauensolidaritaet.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2012