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STANDPUNKT/015: Das Gedächtnis der Welt - Bücher und Bibliotheken ... (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015

Das Gedächtnis der Welt
Bücher und Bibliotheken - Schauplätze der Selbstverständigung

Von Hanjo Kesting


In einem kleinen Gedicht von Hans Magnus Enzensberger, geschrieben vor 20 Jahren noch am Anfang des digitalen Zeitalters, standen die Zeilen: "Was Sie vor Augen haben, / meine Damen und Herren, / dieses Gewimmel, / das sind Buchstaben. / Entschuldigen Sie. / [...] Sechsundzwanzig / dieser schwarz-weißen Tänzer, / ganz ohne Graphik-Display / und CD-ROM, / als Hardware ein Bleistiftstummel - / das ist alles. / Entschuldigen Sie."

Enzensbergers Gedicht heißt "Altes Medium" und erinnert an die Tatsache, dass in der Geschichte des Menschen über 3.000 Jahre lang mit einfachsten Mitteln, mit 26 Buchstaben und einem Bleistiftstummel oder auch mit Tinte und Federkiel wahre Wunderwerke zustande gebracht wurden: Die Sonette an Orpheus, Die Göttliche Komödie oder die Jupiter-Sinfonie. Doch geht es nicht um einzelne Meisterwerke: Auf diesen bescheidenen Mitteln beruht im Grunde die gesamte menschliche Kultur, zumindest die Schriftkultur, wie sie in Bibliotheken versammelt ist. Solche Bibliotheken gab es bereits in der Antike, wie die allerberühmteste in Alexandria, die einige Hunderttausende von Schriftrollen umfasst haben soll. Aber schon vorher legten die babylonischen und assyrischen Könige solche Bibliotheken an, mit Keilschrift in Ton gegraben, wie die Bibliothek von Ninive, wo 2.500 Jahre später etwa das Gilgamesch-Epos ausgegraben und entziffert wurde. Es handelt sich um die ältesten Schriftzeugnisse der Menschheit, die heute von den Landsknechten eines Islamischen Staates systematisch zerstört werden.

Da ich die Bibliothek von Alexandria erwähnt habe: Sie wurde im Zuge der Ausbreitung des Islams 642 n. Chr. von den Arabern eingenommen, und sie soll angeblich von ihnen mit der Begründung zerstört worden sein, dass Bücher, die dem Koran widersprechen, unerwünscht, und solche, die mit dem Koran übereinstimmen, überflüssig seien. Dabei handelt es sich jedoch um eine während der Kreuzzüge auf christlicher Seite entstandene Legende, also um Kriegspropaganda. Ihr steht entgegen, dass die islamische Kultur in ihrer Blütezeit nicht nur in hohem Maße eine Schrift- und Buchkultur war, sondern dass das westliche Europa viele Schriften der griechischen Antike erst durch die Vermittlung der Araber kennenlernte. Wenn sich die Kirchenlehrer des Mittelalters von Albertus Magnus bis zu Thomas von Aquin immer wieder auf Aristoteles beriefen, so verdankten sie ihre Kenntnis des griechischen Philosophen weitgehend arabischen Gelehrten und ihren Aristoteles-Kommentaren. Dieser Transfer gehört zu den Gründungsakten der großen geistigen Bewegung, die zuerst von Italien ausging und sich später unter dem französischen Namen Renaissance in ganz Europa ausbreitete. Wenn heute die Frage, ob der Islam zu Europa gehört, so umstritten ist, dann muss daran erinnert werden, dass die interkulturellen Bezüge seit über 1.000 Jahren viel dichter und enger sind, als die heutige Zerstörungswut islamischer Fundamentalisten im Irak und in Syrien vermuten lässt.

Ich nenne Bibliotheken das Gedächtnis der Welt: das wäre eine gute Formel für den "Tag des Buches", der alljährlich begangen wird. Er verdankt sein kalendarisches Datum am 23. April dem Umstand, dass es der gemeinsame Todestag von Shakespeare und Cervantes ist - zweier Schriftsteller, die einander nicht kannten, sich niemals trafen, nichts voneinander wussten, Spanier und Katholik der eine, Engländer und Protestant der andere, und die doch auf eigenartige Weise miteinander verbunden sind: als die beiden großen Portalfiguren der neueren Literatur. Der eine, Shakespeare, als Dramatiker, der andere, Cervantes, als Romanschriftsteller, der eine als Ursprung und Summe des modernen Theaters, der andere als Ursprung und Summe der modernen Erzählkunst. Dass beide am selben Tag des Jahres 1616 starben, könnte man mit Hegel eine List der Vernunft nennen oder auch einen sinnreichen Knalleffekt der Kulturgeschichte.

Die immaterielle Macht der Literatur

Die Literatur ist eine immaterielle Macht, die man aber nicht unterschätzen sollte. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, notierte Franz Kafka im Tagebuch: "Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule." Über diese Notiz kann man lange nachdenken. Hat Kafka die Bedeutung dieses Ereignisses nicht erkannt? Man kann die Notiz aber auch anders lesen: In der Zeit des Ersten Weltkriegs erreichte das französische Kolonialreich seine weiteste Ausdehnung, das britische Empire stand auf dem Gipfel seiner Macht und in der Nachfolge des Zarenreiches wurde die Sowjetunion begründet. All das spielt in Kafkas Tagebuch kaum eine Rolle. Aber 100 Jahre später ist von den großen Imperien wenig oder nichts geblieben, während Kafka, damals ein völlig unbekannter Autor, ein geistiges Weltreich darstellt, beständiger als alle realen Reiche und so unzerstörbar wie der Don Quijote oder die Dramen von Shakespeare.

Die Literatur, nochmals erwähnt, ist eine immaterielle Macht, auch wenn sie im Lauf der Jahrhunderte ihre äußere Gestalt verändert hat. Zunächst bestand sie nur als mündliche Überlieferung, später als Schrift und Buch, heute auch in elektronischer Form, als E-Book, in dem man zwar noch lesen, aber nicht mehr real mit den Fingern blättern kann. Wer sein Leben mit Büchern verbringt, dem fällt die Vorstellung schwer, das gedruckte Buch könnte dereinst nur noch eine Nebenrolle spielen. Aber den Weltuntergang bedeutet es nicht, nicht einmal den Untergang des Abendlandes. Solange Menschen sich in die Göttliche Komödie vertiefen werden, solange wird Dantes Werk seine Macht ausüben, unabhängig davon, ob man ihm in gesprochener, gedruckter oder elektronischer Form begegnet. Gravierender ist der Einwand, dass es allzu viele Menschen gibt - unter den Lebenden eine Mehrheit -, die in ihrem Leben der Literatur niemals begegnen, weder in der einen noch der anderen Form. Das aber ist kein Einwand gegen die Literatur, sondern eines der größten Übel einer Wirklichkeit, die ohne Literatur und damit ohne das wichtigste Medium menschlicher Zivilisation auskommen muss.

Von Hölderlin stammt das Wort: "Was bleibet aber, stiften die Dichter". Auf den ersten Blick könnte man das für poetischen Hochmut halten. Der Sinn des Satzes ist aber ein anderer: Gemeint ist, dass die Dichter die Kenner des tieferen Gesetzes sind, das in der Welt wirkt, und dass sie nicht gegen dieses Gesetz verstoßen dürfen, wenn ihre Werke glaubwürdig und von Dauer sein sollen. Thomas Mann hat dieses Gesetz sinngemäß den "Geist der Erzählung" genannt. Dieser Geist der Erzählung entscheidet darüber, was im kulturellen Gedächtnis einer Zivilisation aufbewahrt bleibt und was mit Recht vergessen werden kann. Die Kultur gründet sich nicht nur auf das Gedächtnis, sie ist selbst dieses Gedächtnis. Als solches ist sie der Schauplatz unserer Selbstverständigung. Wenn wir diesen Schauplatz verlassen, leben wir im Zustand der Selbstvergessenheit. Man könnte sagen, die überlieferten Geschichten haben eine größere Bedeutung als die Geschichte, die man aus den Geschichtsbüchern lernen kann. Dieser Gedanke ist übrigens schon im Gilgamesch-Epos erkennbar. Nicht die geschichtlichen Fakten sind entscheidend, sondern die Art und Weise, wie sie in unserem Gedächtnis weiterleben.

Das Gedächtnis und der Gedächtnisverlust

Dieses Weiterleben bezeichnet man auch als Tradition oder Überlieferung. Wie steht es damit im Bereich der Literatur? Es werden bei uns zwar noch immer viele Bücher gedruckt, aber der Anteil der älteren Bücher, der sogenannten "Klassiker", schrumpft. Verlage, die auf Klassiker-Ausgaben gesetzt haben, existieren kaum noch, und der Deutsche Klassiker Verlag, der vor über 30 Jahren von Siegfried Unseld als Suhrkamp-Tochter gegründet wurde, ist ein gewaltiger Torso, der am Ende des 19. Jahrhunderts abbricht und trotz einiger großartiger Ausgaben weit davon entfernt ist, ein deutsches Gegenstück zur französischen Bibliothèque de la Pléiade zu sein. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass Werkausgaben von Klassikern aus der Mode gekommen sind. Von den großen Erzählern des 19. Jahrhunderts - Tolstoi, Dostojewski, Dickens, Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola - sind in den letzten 25 Jahren zwar noch einzelne Titel, aber keine Werkausgaben mehr erschienen. Dafür kann man die Bücher dieser Autoren heute, umfangreich wie nie zuvor, im Internet finden, im Original und in - meist veralteten - deutschen Übersetzungen. Wer sich auf die Suche macht, für den tut sich ein ungeheurer Reichtum auf, der mit dem Reichtum großer Bibliotheken durchaus konkurrieren kann. Nur ist zu fürchten, dass die Zahl der Menschen, die sich diesen Reichtum erschließen wollen und können, immer kleiner wird.

Als Thomas Mann 1939 vor den Studierenden der Universität Princeton einen Vortrag über den Zauberberg hielt, empfahl er ihnen, das Buch zweimal zu lesen, und er begründete diese - wie er sagte - "arrogante Forderung" mit den Worten: "... die besondere Machart [des Buches], sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, dass das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, - wie man ja auch Musik schon kennen muss, um sie richtig zu genießen." Was soll man von einer solchen Forderung halten angesichts der veränderten Lesegewohnheiten von heute? Für den Zauberberg, dieses vom feinen Netz der Leitmotive umsponnene Meisterwerk mit seinen über 1.000 Seiten, reicht eine Lektürewoche kaum aus. Eine Woche, die man überdies von äußeren Störungen möglichst freihalten sollte. Wer täglich viele Mails oder Tweets liest und schreibt, ist vielleicht gar nicht mehr in der Lage, solcher Literatur, gerade in ihren Großformaten, gerecht zu werden. Als in London im März der Schreibtisch von Charles Dickens, ein nationales Heiligtum, vom Dickens-Museum erworben wurde, äußerte die Biografin Claire Tomalin die Befürchtung, die Romane von Dickens seien für ein junges Publikum von heute "zu anspruchsvoll". Wenn das zutrifft, dann sind die Reichtümer des Internets eine Sesam-Schatzkammer, deren Lösungswort immer weniger Menschen kennen. Da ich mit Enzensberger begonnen habe, will ich mit ihm auch schließen. In einem anderen seiner Gedichte - es trägt den Titel "Gedankenflucht" - heißt es: "alles kommt über Satellit, / wird gespeichert d. h. vergessene".


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschienen seine Bücher Augenblicke mit Jean Améry (Wallstein Verlag Göttingen) und Das Geheimnis der Sirenen. Bilder und andere Abenteuer (Wehrhahn Verlag Hannover).

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015, S. 66 - 69
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2015

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