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GERIATRIE/311: Tabus im Alter - Depressionen, Suizidalität und Sucht (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2020

Tabus im Alter
Depressionen, Suizidalität und Sucht

von Stephan Göhrmann


Depressionen und Suchterkrankungen sind häufig eine therapeutische Herausforderung. Wie sehen Symptomatik und Therapie bei älteren Patienten aus? Referenten der neunten Fachtagung der Ameos Kliniken in Lübeck klärten auf.


Allgemeinmediziner, Psycho- und Physiotherapeuten, Mitarbeiter in psychiatrischen und Suchtberatungsstellen sowie Sozialarbeiter - die Tätigkeitsfelder der Teilnehmer einer Fachtagung in den Ameos Kliniken Lübeck zeigten die Vielfalt der Veranstaltungsthematik. "Suchterkrankungen kennen keine Altersgrenze. Aber es gibt Unterschiede zwischen den Altersgruppen", leitete Dr. Markus Weber, Chefarzt und therapeutischer Leiter am Klinikum in Lübeck, seinen Vortrag ein. Er forderte altersspezifische Therapien. Denn was die älteren Menschen eine, sei die Lebenserfahrung. Zementierte Vorstellungen über Verhaltensweisen und eine Tabuisierung von Suchterkrankungen und Depressionen sind dabei häufig eine therapeutische Herausforderung.

Prof. Jörn Conell, Honorarprofessor für Psychiatrische Krankheitslehre und Psychopharmakotherapie sowie Ärztlicher Direktor der Ameos Kliniken in Neustadt, Lübeck und Eutin, stellte sich daher zu Beginn seines Vortrages die Frage, was man gegen eine Tabuisierung von Depressionen im Alter tun könne und welche Spezifika bei älteren Patienten zu erwarten seien.

Im Alter verläuft eine Depression oft chronisch und entsteht reaktiv, ist damit auf psychogene Momente wie die Übersiedlung ins Altersheim oder den Tod von Angehörigen, Verwandten oder Freunden zurückzuführen. Das wirkt sich auch auf die Suizidalität aus. Für die Behandlung älterer Patienten mit depressionsassoziierten Aktivitätseinschränkungen und milden kognitiven Einbußen präsentiere sich eine "Problem Solving Therapie" (PST), zu Deutsch Problemlösungstraining, als effektiver Behandlungsansatz. Studien zufolge ließen sich Suizidgedanken durch eine PST signifikant senken.

Depressionen würden im Alter oft übersehen. Eine Therapie bleibe daher oftmals aus. Vor dem Hintergrund des steigenden Durchschnittsalters von depressiven Menschen (in den letzten 20 Jahren von 53 Jahre auf 57 Jahre gestiegen) steige damit das Risiko, eine Depression zu übersehen. Dass das Krankheitsbild bei älteren Menschen schwieriger zu diagnostizieren ist, liege unter anderem daran, dass ältere Patienten mehr Krankheiten aufweisen. Depressionen rückten so in den Hintergrund. Erschwerend komme hinzu, dass ältere Menschen Präventionsangebote seltener annehmen. Conell hält eine Förderung niedrigschwelliger Beratungsangebote für ältere Menschen daher für wichtig.

Auffällig ist, dass ältere Menschen häufig vor einem Suizidversuch vermehrt den Hausarzt aufsuchen. Das Thema Suizid ist dabei oftmals gerade eben nicht Thema. Stattdessen werde über banale Dinge geredet.

Was bedingt die Suizidalität von älteren Menschen? Neben der jeweiligen Persönlichkeit und individuellen Stresserlebnissen im Alter sind dies psychosoziale Einschränkungen, Erkrankungen und mit dem Alter einhergehende Gebrechen. Psychische und kognitive Grenzen im Alter können die eigene individuelle Zielsetzung und die persönliche Erwartungshaltung, die ein Mensch an seine Lebensgestaltung stellt, beeinflussen. "Eine Modifikation der Ziele, die Anpassung an neue Gegebenheiten ist ausschlaggebend", sagte Conell. Gelinge dies nicht, sei die Wahrscheinlichkeit, an depressiven Leiden zu erkranken höher - was sich auch auf die Suizidalität auswirke.

Ältere Menschen nehmen sich seltener gewaltsam das Leben. Stattdessen bringt die Leichenschau oft einen positiven Alkoholnachweis zum Vorschein. "Fakt ist, dass das Suizidrisiko durch Suchterkrankungen erhöht wird", beschrieb Conell das kumulative Problem, das aus Depression, Suizidalität und Sucht besteht.

Besondere Beachtung verlangt daher eine Suchtproblematik, die durch Therapien hervorgerufen werden kann. Dr. Dirk Wolter, Leiter der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen am Zentrum für psychosoziale Medizin des Klinikums Itzehoe, befasst sich mit Suchtproblemen, die mit der Vergabe von Benzodiazepinen und Opioidschmerzmitteln einhergehen können.

Obwohl Benzodiazepine nicht bei Menschen mit Suchterkrankungen verschrieben werden sollten, zeigt sich, dass vor allem bei Menschen mit Vorsuchterkrankungen die Verschreibungen höher ausfallen. Sie wirken dosisabhängig angstlösend oder sedierend. Allerdings unterscheiden sie sich in ihren pharmakokinetischen Eigenschaften, ihrer Fettlöslichkeit, was sich wiederum in der Wirkdauer bemerkbar macht. Liegen kompliziert aufgebaute Wirkstoffeigenschaften vor, werden sie von älteren Menschen langsamer verstoffwechselt. Die Stoffwechselwege sind bei älteren Menschen um das Fünffache verlängert. Für den Körper bedeutet das, dass er mit fünf Mal so viel Wirkstoff versorgt wird. Leber- und Niereninsuffizienz können die Folge sein, beider Erkrankungen, die bei älteren Menschen ohnehin häufig vorkommen. Wolter warnt daher vor einer schleichenden Intoxikation. Ein Ungleichgewicht der Wirkung ist oft erst nach Wochen bemerkbar. Auf den ersten Blick fällt der Zusammenhang oft nicht auf.

Für die Suchtproblematik müssen neben einer möglichen Überdosierung auch die Wirkmechanismen von Benzodiazepinen im Körper betrachtet werden, denn sie verstärken die Wirkung der GABA-Rezeptoren und greifen ähnlich wie Alkohol, Cannabinoide oder Nikotin in die Dopaminausschüttung ein. Die Gefahr einer "Niedrigdosisabhängigkeit" besteht. Auffällig ist jedoch, dass Menschen bis 65 Jahre eher zu Suchterkrankungen neigen. Bei älteren Menschen (über 65 Jahre) sind sie weniger ausgeprägt. Bei ihnen erinnere das Verhalten eher an zementierte Gewohnheiten. Bei Angsterkrankungen sollte man daher abwägen, ob eine langfristige Verschreibung keiner Verschreibung von Benzodiazepinen vorzuziehen sei. Im Falle einer Verschreibung rät er Hausärzten, einmal im Quartal anzusprechen, ob das Medikament nicht doch abgesetzt werden könne. "Ein Entzug ist einer weiteren Einnahme immer vorzuziehen", sagte Wolter.

Eine weitere Wirkstoffgruppe, die ebenfalls Suchterscheinungen mit sich bringen kann, sind die Opioidschmerzmittel. Schmerzen sind im Alter ein bekanntes Problem. Wolter führt das auf die zunehmende Intensität von Schmerzen im Alter zurück. Er sieht zudem Probleme in der Behandlung von Schmerzen. In der Theorie werden den Patienten Bewegung, Physiotherapie, Tätigkeiten, die Freude bereiten, und sozialer Kontakt nahegelegt. Erst spät in der Behandlungsreihenfolge sollen Medikamente eingesetzt werden. In der Realität sehe das genau andersherum aus.

Nachdem die Weltgesundheitsorganisation Opiatanalgetika im Jahre 1986 für die Behandlung von Tumorschmerzen vorschlug, wurden diese weltweit auch bei nichttumorbedingten Schmerzen eingesetzt.

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2,5 Mio. US-Bürger gelten zurzeit als schmerzmittelabhängig. Die steigenden Zahlen von Abhängigen und die damit verbundene Sterberate wird von Beobachtern dramatischer eingeschätzt als HIV in den USA.
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Die USA befinden sich aktuell in einer Opioidschmerzmittelkrise. Fünf Prozent der sogenannten "heavy users" sind für die Einnahme von bis zu 70 Prozent der Gesamtmenge verantwortlich. Mittlerweile liegt die Todesrate, die auf einer Überdosis dieser Schmerzmittelgruppe zurückzuführen ist, über der durch Kokain- und Heroinüberdosis bedingten Todesrate. Die Lebenserwartung in den USA ist erstmals in einer Industrienation gesunken. Viele sehen einen Zusammenhang mit dem steigenden Opiatkonsum. US-Studien gehen davon aus, dass 53 Prozent der Konsumenten das Schmerzmittel missbräuchlich einnehmen. Bei 23 Prozent ist von einer Abhängigkeit auszugehen. In Deutschland gibt es keine belastbaren Zahlen, die ähnliche Aussagen zulassen. Dennoch haben die Langzeitverordnungen hierzulande zugenommen. Gerade bei älteren Patienten (ab 74 Jahren) ist eine häufige Verschreibung zu erkennen.

Im Alter sind Suchtprobleme seltener. Die Nebenwirkungen sind ausschlaggebend. Ältere Konsumenten haben ein erhöhtes Fraktions- und Herzinfarktrisiko und die Immunabwehr ist geschwächt. Der richtige Umgang mit den Medikamenten sei wichtig. Man behandele Schmerzleiden, keine Schmerzursachen. Wenn ein Therapieerfolg ausbleibt, müsse die Therapie überdacht werden. "Das passiert häufig nicht", sagte Wolter.

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Kino und Soziale Medien senken einer Studie zufolge das Suizid- und und Depressionsrisiko älteren Menschen.
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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2020 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202004/h20044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, Nr. 4, April 2020, Seite 38 - 39
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2020

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