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UMWELT/238: Tschernobyl-Folgen - Leukämie bei Kindern in Weißrussland (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 654-655 / 2013 / 28. Jahrgang, 3. April 2014

Tschernobyl-Folgen
Leukämie bei Kindern in Weißrussland

Von Alfred Körblein[1]



Die Leukämiehäufigkeit (Inzidenz) bei Kindern in Belarus ist nach Tschernobyl signifikant angestiegen. Für den Zeitraum 1986 bis 1995 ermittelten Malko und Ivanov 200 zusätzliche Leukämiefälle. Dieses Ergebnis hängt stark von verschiedenen Annahmen ab, unter anderem vom Studienzeitraum, dem Zuschnitt des Zeitfensters für den Test auf Erhöhung, und von der Wahl des Regressionsmodells. Auswertungen mit unterschiedlichen Regressionsmodellen ergeben für den Zeitraum 1987 bis 1995 zwischen 82 und 168 Exzessfälle. Für alle untersuchten Modelle ist die Erhöhung der Leukämieinzidenz in Belarus nach Tschernobyl statistisch signifikant.

Hintergrund

Auf der Internationalen IPPNW-Tagung: Folgen von Atomkatastrophen für Mensch und Natur in Arnoldshain vom 4. bis 7. März 2014 trug der weißrussische Wissenschaftler Prof. Mikhail V. Malko über neue Ergebnisse zur Leukämieinzidenz bei Kindern unter 15 Jahren in Weißrussland nach Tschernobyl vor. Malko nannte in seinem Vortrag 197 im Zeitraum 1987 bis 1995 zusätzlich beobachtete Fälle, mit einem Konfidenzintervall von 110 bis 293 Fällen. Die Erhöhung ist hochsignifikant. Dies ist deshalb so bemerkenswert, weil in offiziellen Berichten, unter anderem im UNSCEAR Report von 2008, behauptet wird, es gebe nach Tschernobyl in Belarus keine auffällige Erhöhung von Leukämien bei Kindern.

In einem Vortrag in Feldkirch im Jahr 2006 hatte Malko noch eine wesentlich kleinere Zahl von zusätzlichen Leukämiefällen bei Kindern genannt: Zwischen 1986 und 1992 wurden in Belarus 83 Exzessfälle ermittelt.

Daten und Methoden

Die Anzahl der Leukämiefälle bei Kindern und die zugehörige Anzahl von Kindern in Belarus für die Jahre 1979 bis 2010 wurden mir im Jahr 2012 von Malko per Email zugeschickt. Dies machte eigene Berechnungen möglich.

Die Datenverarbeitung erfolgte mit logistischer Regression (Statistikpaket R, www.r-project.org) mit linearem und linear-quadratischem zeitlichem Trend. Zur Berechnung des P-Werts wird ein Chiquadrattest verwendet; die Anzahl der Freiheitsgrade entspricht dabei der Größe des Zeitfensters für den Test auf Erhöhung der Leukämierate.

Ergebnisse

Zunächst wird geprüft, ob die von Malko im Strahlentelex vom Februar 2014 [1] berichteten Ergebnisse reproduziert werden können. Eine Auswertung der Daten von 1979 bis 2004 mit einem linearen Regressionsmodell ergibt 86 zusätzliche Leukämiefälle (Exzessfälle) im Zeitfenster 1986 bis 1992. Bei der Analyse der Daten von 1979 bis 2010 errechnen sich mit einem linear-quadratischen Modell 198 Exzessfälle im Zeitraum 1986 bis 1995. Beide Zahlen stimmen gut überein mit den von Malko im Strahlentelex berichteten 83 bzw. 200 Exzessfällen.

Auswertung mit Zeitfenster 1987 bis 1995

Eine logistische Regression der Daten 1979 bis 2010 mit einem linear-quadratischen zeitlichen Trend (Modell 0) ergibt Deviance0=45,05 bei 30 Freiheitsgraden (df0=30). Ohne die Daten im Zeitfenster 1987 bis 1995 erhält man mit einem linearen zeitlichen Trend Deviance1=31,47 (df1= 21). Aus der Differenz von Deviance0 und Deviance1 errechnet sich ein P-Wert von 0,047 (Chiquadrattest mit 9 Freiheitsgraden). Das Modell mit einem linear-quadratischen zeitlichen Trend führt zu einer hochsignifikanten Verbesserung der Anpassung: die Devianz beträgt dann 16,96 (df=20). Die Erhöhung der Leukämieinzidenz bei Kindern im Zeitraum 1987 bis 1995 ist gegenüber dem Trend der restlichen Jahre statistisch hoch signifikant (P=0,0009). Die Anzahl der Exzessfälle errechnet sich zu 74 beim linearen und zu 168 beim linearquadratischen Modell.

Abbildung 1 zeigt die Jahresdaten der Leukämieinzidenz 1979 bis 2010 und die Ergebnisse von Regressionen mit dem linearen Modell (gestrichelte Linie) und dem linearquadratischen Modell (durchgezogene Linie), jeweils ohne Berücksichtigung der Jahre 1987 bis 1995.

Broken-stick Modell

Wie aus Abbildung 1 ersichtlich, ist die starke Krümmung der Regressionslinie wesentlich bestimmt durch die 2 Punkte am Ende des Studienzeitraums, die deutlich oberhalb des Trends liegen. Eine lineare Regression mit einem Knick (broken stick) im Jahr 2008 führt zu einer hochsignifikanten Verbesserung der Anpassung gegenüber dem linearen Modell (P=0,0002). Ein zusätzlicher quadratischer zeitlicher Trend erlaubt eine weitere Verbesserung der Anpassung (P=0,030). Mit dem linearen Modell errechnen sich 82 Exzessfälle (P= 0,034), mit dem linear-quadratischen Modell 145 Fälle (P=0,0067). Die Ergebnisse der beiden Regressionen zeigt Abbildung 2.

Nicht nur in den Jahren 2009 und 2010, auch im Jahr 1979 ist die Leukämierate deutlich erhöht. Um zu prüfen, wie stark sich dieser eine Datenpunkt auf das Ergebnis der Regression auswirkt, wird eine Dummyvariable für 1979 ins Modell aufgenommen. Nun verbessert sich die Anpassung beim linearen Modell signifikant (P=0,027), die Deviance verringert sich von 18,74 (df= 20) auf 14,08 (df= 19). Mit einem zusätzlichen quadratischen zeitlichen Term verringert sich die Deviance nicht mehr signifikant (P= 0,159) auf 12,10 (df=18).

In Tabelle 1 sind die Ergebnisse für das Zeitfenster 1987 bis 1995 und für die einzelnen Modelle zusammengefasst.

Tabelle 1: 
 Regressionsergebnisse mit Zeitfenster 1987 bis 1995
Modell
Exzessfälle
P Wert
deviance
df
AIC
L
LQ
74
168
0,047
0,0009
31,47
16,96
21
20
249,59
237,09
Broken-stick
L
LQ
82
145
0,0337
0,0067
18,74
14,06
20
19
238,87
236,18
Broken-stick, dummy für 1979
L
LQ
96
137
0,0168
0,0094
14,08
12,10
19
18
236,21
236,23

AIC = Akaike-Informationskriterium, ein Maß für die Anpassungsgüte


Modell mit Tschernobylterm

Die Methode, den erwarteten Verlauf der Leukämieinzidenz für einen längeren Zeitraum nach Tschernobyl - hier für die Jahre 1987 bis 1995 - aus den Daten davor und danach zu interpolieren, ist mit recht großen Unsicherheiten verbunden. Besser wäre es, den möglichen Tschernobyleinfluss auf die Daten der Leukämierate zu modellieren.

Der zeitliche Verlauf der Leukämieinzidenz wird mit einem Peak im Jahr 1987 und einem glockenförmigen Zusatzterm (Lognormalverteilung) modelliert. Damit kommt der Tschernobylterm mit 4 Parametern aus, einem für den Exzess im Jahr 1987 und drei für die Lognormalverteilung. Das Modell ist allerdings nicht linear; die Daten werden deshalb mit nichtlinearer statt mit logistischer Regression ausgewertet. Auch hier werden zwei Modelle für den langjährigen zeitlichen Trend verwendet, ein linearer und ein linear-quadratischer. Außerdem enthält das Modell Dummyvariable für den Knick im Jahr 2008 und das Jahr 1979.

Das linear-quadratische Modell führt auch hier zu einer besseren Anpassung an die Daten; die Deviance verringert sich von 21,65 (df=24) auf 19,58 (df=23) (P=0,133, FTest). Abb. 3 zeigt das Ergebnis der Auswertung mit dem linear-quadratischen Modell. Aus der Differenz zwischen der Zahl der beobachteten Leukämiefälle im Zeitraum 1979 bis 2010 und der auf Grund des Verlaufs der Rate ohne den Tschernobylterm erwarteten Fälle (gestrichelte Linie in Abbildung 3) errechnen sich mit dem linearen Modell 89 Exzessfälle (P= 0,0307) und mit dem linearquadratischen Modell 162 Exzessfälle (P=0,0153).

Tabelle 2: Datensatz Leukämien bei Kindern in Belarus

year
Children (<15y)
population

cases
Infants (<1y)
population

cases
1979
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2197443
2184401
2185220
2196446
2215184
2238730
2264573
2290397
2314080
2331089
2344892
2353946
2351700
2339599
2316682
2282179
2235517
2176313
2104380
2012911
1922525
1855584
1785975
1707691
1632793
1562768
1504105
1460952
1432677
1421557
1403003
1409198
117
95
96
84
88
90
85
98
118
85
100
107
93
107
72
93
83
71
73
53
52
55
63
60
53
58
38
47
42
48
56
62
151593
154432
157899
159364
173510
168749
165034
171611
162937
163183
153448
142167
132045
127971
117384
110599
101144
95798
89586
92645
92975
93691
91720
88743
88512
88943
90508
96721
103626
107876
109263
108050
8
5
7
8
6
9
6
8
16
8
5
10
9
11
3
4
1
3
3
2
0
0
0
2
1
0
0
0
4
1
6
3

Diskussion

Bei allen Unterschieden in der Schätzung der Größe des Effekts ergibt sich bei den verschiedenen Regressionsmodellen übereinstimmend eine statistisch signifikant erhöhte Leukämieinzidenz bei Kindern in Belarus nach Tschernobyl. Lediglich das lineare Modell mit Zeitfenster 1987 bis 1995 scheidet wegen schlechter Anpassung aus. Hier noch einmal die Ergebnisse für die Anzahl der Exzessfälle bei den einzelnen Modellen, jeweils mit einem linearen (L) und einem linearquadratischen (LQ) zeitlichen Trend:

1. Für das Zeitfenster 1987 bis 1995 ergeben sich 74 (L) bzw. 168 (LQ) Exzessfälle. Allerdings scheidet das lineare Modell wegen schlechter Anpassung an die Daten aus.

2. Läßt man einen Knick im zeitlichen Verlauf im Jahr 2008 zu, so errechnen sich 82 (L) bzw. 145 (LQ) Exzessfälle. Beide Modelle erlauben eine gute Anpassung an die Daten.

3. Mit dem Knick im Jahr 2008 und ohne das Jahr 1979 errechnen sich 96 (L) bzw. 137 (LQ) Exzessfälle.

4. Das Modell mit dem Tschernobylterm, einem Knick im Jahr 2008 und ohne 1979 ergibt 89 (L) bzw. 162 (LQ) Exzessfälle.

Die Krümmung der Regressionslinie beim Modell (1) wird im wesentlichen bestimmt durch die deutlich erhöhten Punkte an den beiden Enden des Untersuchungszeitraums. Ohne die Daten der Jahre 1979 und 2009 bis 2010 ist die Krümmung nicht signifikant.

Das Modell mit dem glockenförmigen Tschernobylterm kommt ohne Festlegung eines Zeitfensters aus und ist biologisch plausibel. Das Maximum der Leukämieinzidenz zeigt sich im Jahr 1991, fünf Jahre nach Tschernobyl. Außerdem findet sich ein hochsignifikanter Peak schon im Jahr 1987, im ersten Folgejahr von Tschernobyl.


[1] Dr. Alfred Körblein,
alfred.koerblein@gmx.de


Anmerkung

(1) Mikhail V. Malko. "Kein Wissenschaftsbetrug", Strahlentelex (2014) 650-651:01-03
www.strahlentelex.de/Stx_14_65 0-651_S01-03.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_654-655_S07-09.pdf


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Grafiken der Originalpublikation:

Abbildung 1: Jahresdaten der Leukämieinzidenz bei Kindern 1979 bis 2010 und Ergebnisse von Regressionen mit einem linearen (gestrichelte Linie) und einem linear-quadratischen (durchgezogene Linie) zeitlichen Trend, jeweils ohne die Jahre 1987 bis 1995.

Abbildung 2: Jahresdaten der Leukämieinzidenz bei Kindern 1979 bis 2010 und Ergebnisse von Regressionen mit einem linearen (gestrichelte Linie) und einem linear-quadratischen (durchgezogene Linie) zeitlichen Trend und Knick im Jahr 2008.

Abbildung 3: Jahresdaten der Leukämieinzidenz bei Kindern 1979 bis 2010 und Ergebnis einer Regression mit einem Peak im Jahr 1987, einem glockenförmigen Zusatzterm (Lognormalverteilung), einem Knick im Jahr 2008 und einer Dummyvariablen für 1979. Die gestrichelte Linie kennzeichnet den erwarteten ungestörten Verlauf der Daten.

*

Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, April 2014, Seite 7 - 9
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2014