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ETHIK/971: Arzneimitteltests - Erst kommt der Test, dann die Moral (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - I.2011
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Erst kommt der Test, dann die Moral

Von Hubert Beyerle


Wann ist es legitim, dass Gesetze auf ethische Regeln Bezug nehmen? Dieser Frage geht eine unabhängige Forschungsgruppe um Silja Vöneky am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg nach. Die Doktorandin Mira Chang untersucht, wann grenzüberschreitende Arzneimitteltests rechtswidrig sein können.


Im Film ist die Sache ganz einfach: Da gibt es die Guten auf der einen Seite und die Bösen auf der anderen. Im vor wenigen Jahren verfilmten Roman Der ewige Gärtner von John le Carré sind die Bösen die Leute von den skrupellosen Pharmafirmen, die ihre neuen Medikamente in Afrika testen und dabei Tote in Kauf nehmen. Im Nachwort fügt der Autor donnernd hinzu, verglichen mit den tatsächlichen Praktiken sei sein Roman wie eine "Postkarte aus den Ferien".

In Roman und Film ist Schwarz-Weiß erlaubt. Die Wirklichkeit hingegen gestaltet sich komplizierter. Wie kompliziert, das zeigt sich erst durch systematische Forschung. Aber wie forscht man über Gut und Böse, über Recht und Unrecht im Rahmen von allgemein nachvollziehbarer Wissenschaft?

Der Skandal des medizinischen Fortschritts ist alt: Er besteht in der Divergenz zwischen seinen Erbringern und seinen Nutznießern. Denn medizinischer Fortschritt funktioniert - wie jeder andere wissenschaftliche Fortschritt - über Versuch und Irrtum. Nur, dass in der Medizin Irrtum tödlich sein kann. Vieles lässt sich theoretisch klären, aber nicht alles. Und so gibt es bei der Einführung neuer Medikamente irgendwann den Punkt, wo die Tierversuche alle gemacht sind und zum ersten Mal an einem Menschen getestet wird. Er ist in jedem Fall eine Versuchsperson. Und er ist dann Instrument, nicht Zweck.


Arme Länder im Fokus der Pharmaindustrie

Die Globalisierung der Pharmaforschung hat diesen moralischen Konflikt noch verschärft: Immer mehr Medikamente werden in armen Ländern getestet. In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Medikamentenerforschung sukzessive nach Lateinamerika, Asien, Osteuropa und Afrika verschoben. China und Indien insbesondere sind die neuen Hotspots. Es ist ein inzwischen viele Milliarden Euro umfassender Markt. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Angebot und Nachfrage. Einerseits sind Versuche teuer. Es dauert mitunter bis zu zehn Jahre oder noch mehr, bis ein Medikament zugelassen wird. Die Kosten der Markteinführung können Hunderte Millionen Euro, sogar bis zu einer Milliarde Euro betragen. Solche Zahlen sind zwar umstritten, aber in jedem Fall gilt: Tests sind teuer. Da lohnt es sich, sie in ärmeren Ländern zu machen.

Aber nicht nur das Geld treibt die Pharmakonzerne mit ihrer Forschung in die weite Welt: Immer weniger Menschen in den reichen Ländern Europas oder Nordamerikas sind bereit, sich als Testperson zur Verfügung zu stellen. Manche Studien sprechen davon, dass inzwischen mehr als die Hälfte der weltweiten Tests außerhalb der etablierten Märkte USA, EU und Japan gemacht wird. Die globalisierte Medikamentenforschung birgt erhebliche moralische Sprengkraft. Das haben die Pharma firmen und ihre Dienstleister, die Contract Research Organisations, erkannt und weisen immer wieder darauf hin, dass sie sich an "ethische Standards" halten.

Tatsächlich gibt es längst zur Genüge internationale Kodizes, Konventionen und Standards der guten Praxis. Regulierungsbehörden und Pharmafirmen selbst haben sich hier internationale Regeln auferlegt, die zumindest gut klingen. Sie haben Ethik-Ausschüsse etabliert, welche die Einhaltung der Regeln beachten sollen. Im Kern geht es dabei immer um eine Verpflichtung zu "ethischen Prinzipien". Sind damit alle Probleme gelöst?

"Nein", sagt Mira Chang. Die Doktorandin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg sieht diese häufige Referenz an ethische Standards sehr kritisch. "Ethische Standards sind schön und gut. Aber es geht hier nicht allein um Ethik, sondern um zentrale rechtliche Fragen: Medikamententests können Menschenrechte verletzen", sagt sie. "Es gibt zwar internationale Deklarationen, die ethische Standards festlegen. Aber wenn diese von privaten Institutionen stammen, kann deren Legitimität zweifelhaft sein."


Von einer Vertretung aller Ärzte kann keine Rede sein

Die wichtigste Deklaration, die Ethischen Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen, wurde vom Weltärztebund (WMA) im Juni 1964 in Helsinki beschlossen und zuletzt im Jahr 2008 revidiert. Darin heißt es vor allem, das Wohlergehen des Patienten müsse über den Interessen von Wissenschaft und Gesellschaft stehen. Zudem müssten die besonderen Bedürfnisse von ökonomisch und medizinisch benachteiligten Menschen besonders berücksichtigt werden.

Das klingt gut. Ist damit nicht alles gesagt und geregelt? "Nein, ganz bestimmt nicht", sagt Chang. Tatsächlich fängt die Arbeit für den Juristen hier erst an. "Diese Konvention ist kein Rechtstext", so Chang. "Sie ist von einem exklusiven Expertengremium beschlossen worden, dessen Legitimität anzuzweifeln ist. Es dominieren in diesem Gremium europäische und nordamerikanische Ärzteverbände. Von einer Vertretung aller Ärzte kann keine Rede sein und Drittbetroffene, wie Probanden, entscheiden nicht mit." Mitgliedschaft und Stimmberechtigung seien zudem abhängig vom jeweiligen finanziellen Mitgliedsbeitrag. "Das sind schlechte Bedingungen für ein Gremium, dessen ethische Prinzipien weltweit gelten sollen", kritisiert Chang.

In Reinform zeigt sich das ganze moralische Dilemma der medizinischen Forschung im Placebo-Problem. Forscher und Regulierungsbehörden sind sich weitgehend einig, dass Placebo-Tests nötig sind, um einigermaßen sicher zu sein, ob ein Medikament erstens ungefährlich ist und zweitens wirkt. Im Idealfall ist es doppelt-blind angelegt, weder Patient noch behandelnder Arzt wissen also, in welcher Pille was drin ist. Ein Arzt ist aber qua Beruf dazu verpflichtet, die beste verfügbare Medizin zu geben. Wie kann er nun absichtlich einem Teil seiner Patienten ein vermutlich wirksames Medikament vorenthalten?

Das Dilemma: Einerseits werden diejenigen, die den Wirkstoff bekommen, als Versuchskaninchen benutzt, ohne eine wirkliche Sicherheit über die Wirkung zu haben. Und den Empfängern der unwirksamen Placebo-Pillen wird genau dieser Wirkstoff vorenthalten, obwohl er ihnen wahrscheinlich helfen könnte. Beides ist ethisch problematisch. Aus Sicht von Mira Chang kann die Lösung hier nur lauten: "Gibt es ein anderes, bereits bewährtes Mittel, sind unwirksame Placebo-Tests bei lebensgefährlichen Krankheiten nicht zu rechtfertigen."


Forschen im Grenzgebiet zwischen Ethik und Recht

Was moralisch richtig und falsch ist, lässt sich wissenschaftlich nicht endgültig sagen. "Moral kann als empirisches Phänomen zwar Gegenstand der Wissenschaft sein, aber für viele moralische Probleme kann die Wissenschaft nicht nur eine richtige und unbezweifelbare Lösung geben", sagt Silja Vöneky, Professorin an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg und Leiterin der unabhängigen Forschungsgruppe am Heidelberger Max-Planck-Institut. Dabei gibt es allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen Moral und Ethik. "Ethik als Reflexionswissenschaft ist normative Wissenschaft. Es geht bei ihr um die Antwort auf die Frage: Was sollen, was dürfen wir tun? Dabei untersucht die Ethik, ob eine Lösung, eine Antwort in sich stimmig oder widersprüchlich ist", sagt Vöneky.

Die Wissenschaftlerin forscht im Grenzgebiet zwischen Ethik und Recht. Sie und ihre Mitarbeiter gehen der Frage nach, wo und wie explizit ethische Regeln weltweit Einzug in die Rechtssysteme halten und wie sich der Verweis auf ethische Standards legitimieren lässt. Dass rechtliche Regeln möglichst nicht im Widerspruch zu ethischen Prinzipien oder der moralischen Intuition stehen sollten, erscheint als selbstverständlich.

"Trotzdem ist es problematisch, dass Rechtsregeln zunehmend explizit Bezug nehmen auf sogenannte ethische Prinzipien und Ethik-Ausschüsse zu Entscheidungen ermächtigen. Wer sagt denn, dass diese Ausschüsse wirklich kompetent sind? Immer hin gibt es berechtigte Zweifel daran, dass Ärzte allein die richtigen Fachleute für ethische Fragestellungen sind", meint Silja Vöneky.

Ethik-Kodizes und Ethik-Ausschüsse sind ein relativ neues Phänomen. Medizinische Forschung scheint bis vor wenigen Jahrzehnten - jedenfalls praktisch - ein fast rechts- und ethikfreier Raum gewesen zu sein. Der allgemeine Glaube an den Fortschritt war bis in die 1960er-Jahre noch ungebrochen. Als der Mediziner Jonas Salk 1954 in den USA seinen Impfstoff gegen Kinderlähmung im Versuch im Vergleich zu einem unwirksamen Placebo testen wollte, weigerten sich die lokalen Gesundheitsämter teilzunehmen.

Stein des Anstoßes war aber nicht etwa der neue Wirkstoff, sondern das unwirksame Placebo. Das Vertrauen in die Forschung war so groß, dass man es nicht für vertretbar hielt, Kindern den neuen, noch unerprobten Impfstoff vorzuenthalten. Als dann das Ergebnis der Testreihen veröffentlicht wurde, war es ein nationales Ereignis. Da läuteten sogar die Kirchenglocken.

Der Contergan-Skandal zerstörte diesen Optimismus ziemlich schlagartig. Zwischen 1957 und 1961 nahmen weltweit Tausende schwangere Frauen das Medikament Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid. Es hatten kaum Tests stattgefunden, weil es kaum Vorschriften gab. Allein in Deutschland kamen etwa 5000 Kinder mit schweren Schäden zur Welt.


Für Tests braucht man am Ende Versuchspersonen

In der Folge hat sich die Haltung von Fachwelt und Öffentlichkeit gegenüber dem medizinischen Fortschritt entscheidend verändert. Es kam zu einer Welle der Regulierung weltweit. Bevor Medikamente zugelassen werden, sind sie seither strengen Verfahren unterworfen. Das soll die Patienten schützen. Die ethische Kehrseite: Für Tests braucht man am Ende Versuchspersonen.

Damit das ethisch zu rechtfertigen ist, gilt ein zentrales Prinzip: Das freiwillige Einverständnis des Patienten ist absolut essenziell. Es war bereits einer der zehn Punkte des sogenannten Nürnberg-Kodexes, den ein US-Militärtribunal im Ärzteprozess - einem der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse - im Jahr 1947 erlassen hat. Das Tribunal hatte 13 deutsche Ärzte und drei weitere hochrangige Beteiligte wegen medizinischer Menschenversuche schuldig gesprochen und sieben von ihnen zum Tode verurteilt.


Die Tuskegee-Studie wurde nach 40 Jahren abgebrochen

Über Jahre waren diese Prinzipien zwar bekannt, spielten aber fast keine Rolle. Bis in die 1970er-Jahre gab es kaum Vorschriften der Medikamentenregulierung, die diese ethischen Prinzipen rechtlich bindend machten. Erst der Contergan-Skandal und das in den USA ebenso berüchtigte Tuskegee-Experiment ließen im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre das Bewusstsein dafür reifen, dass der Medikamentenmarkt reguliert werden muss.

In der Tuskegee-Studie wurden seit 1932 Hunderten schwarzen US-Amerikanern mit Syphilis die damals bereits bekannten Antibiotika vorenthalten, um den natürlichen Verlauf der Krankheit zu beobachten. Erst in den 1970er-Jahren berichteten die Zeitungen darüber, und es kam zum landesweiten Aufschrei. Das Experiment wurde nach rund 40 Jahren abgebrochen. Noch die Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama entschuldigten sich für die Menschenversuche, die immerhin über Jahrzehnte gelaufen waren.

In ihrer rechtswissenschaftlichen Arbeit versucht Mira Chang, die Sache mit den globalen Medikamententests nicht nur ethisch durchzudeklinieren, sondern mit den Instrumenten des Rechts in den Griff zu bekommen. Was nicht einfach ist, denn noch immer sind die Rechtssysteme im Wesentlichen national, weil die letzten Instanzen der Souveränität die Nationen sind. Wer aber ist zuständig, wenn eine USFirma in Afrika Medikamente testet?

Das ist eine Frage des Völkerrechts - einer Rechtsdisziplin, die in der Zunft immer schon mit dem Idealismus-Verdacht zu kämpfen hat. Insbesondere seit in den vergangenen Jahren individuelle Menschenrechte gegenüber der kollektiven, nationalen Souveränität ständig an Gewicht gewonnen haben, wie sich etwa in der Diskussion um die Legitimität von Kriegseinsätzen auf dem Balkan, Afghanistan oder Irak zeigt.

"Es gibt derzeit einige interessante Entwicklungen im Völkerrecht. Die Menschenrechte werden wichtiger, und Unternehmen sind heute partiell selbst Rechtssubjekte. Das könnte für die Debatte um Medikamententests große Bedeutung haben", sagt Chang. Noch ist es aber nicht so weit. Bisher hilft das betroffenen Patienten wenig. "Denn daraus entstehen kaum Pflichten für die Unternehmen." Aber das könnte sich ändern. Irgendwann einmal könnte sich eine Möglichkeit eröffnen, dass Bürger eines afrikanischen Staates in Europa oder den USA auf Verletzung ihrer Menschenrechte klagen, wenn die Testbedingungen klar den üblichen Mindeststandards widersprochen haben.


Wer nicht hilft, macht sich strafbar

Eigentlich ist das gar nicht so utopisch: Es passiert schon jetzt, weil es in den USA ein ungewöhnliches Gesetz gibt, das eine solche Klage zulässt. Das hat zuletzt der Konzern Pfizer zu spüren bekommen. Pfizer hatte in Nigeria 1996 in einer Meningitis-Epidemie ein etabliertes gegen ein neues Antibiotikum getestet. Es starben elf Kinder, fünf hatten das neue Trovan bekommen, sechs das altbewährte Ceftriaxon - aber laut Urteilsschrift in bewusst zu geringer Dosis.

Der Fall gilt als eines der Paradebeispiele moralischen Versagens der Pharmafirmen. Aber immerhin erhielt Trovan später in den USA eine Teilzulassung. Vergangenes Jahr ließ das zuständige US-Gericht die Klage gegen Pfizer zu. Doch damit ist das Problem nicht wirklich gelöst. Fest steht: Wer nicht hilft, obwohl er es könnte und müsste, handelt unmoralisch und macht sich strafbar. Aber für wen gilt das? Bei unterlassener Hilfeleistung im Straßenverkehr ist klar, dass sie denjenigen betrifft, der vor Ort ist. Aber wer ist bei der Aids-Epidemie in Afrika "vor Ort"?

Changs Lösungsvorschlag für die Medikamententests: Adressat ist das Pharmaunternehmen, das den Test macht. Testen verpflichtet. Und: Wer einen Test macht, der ist auch für ganz andere Dinge verantwortlich, etwa für eine saubere Nachbetreuung der Patienten. Auch das ist keine Selbstverständlichkeit.

Damit würde die Argumentation der Pharmafirmen in sich zusammenfallen. Immer wieder betonen diese zu ihrer Verteidigung: "Wir müssten ja nicht testen. Dann ginge es den Betroffenen noch schlechter, denn sie hätten gar keine Behandlung." Tatsächlich sind die Gesundheitssysteme in vielen Ländern der Welt so miserabel, dass die Teilnahme an einem Test die einzige Behandlungsmöglichkeit ist. Aber spielt dieses "Was-wäre-wenn-nicht?" eine Rolle? "Aus den Unterschieden im Gesundheitssystem kann nicht folgen, dass diese Menschen rechtlich unterschiedlich behandelt werden", sagt Chang.

Wie sieht die Zukunft aus? Tatsächlich lässt sich auch im heutigen, wenig perfekten Rechtssystem einiges verbessern. "Ich denke, wir können bei den Zulassungsverfahren ansetzen", meint die Max-Planck-Doktorandin. So regeln EU-Gesetze zwar, dass Auslandsstudien eine Erklärung beige fügt werden muss, dass sie den ethischen Anforderungen der EU-Richtlinie zur guten klinischen Praxis genügen. Diese EU-Richtlinie verweist dann wiederum auf die oben erwähnte Helsinki-Deklaration. "Diese Bestimmungen sind doch sehr vage", so Chang. "Das sollte man besser rechtlich bindend gestalten."


Die Standards dienen vor allem der Wissenschaft

Eine konkrete Folgerung für rechtliche Normen könnte sein, dass Tests nur dann zugelassen werden, wenn die Absicht besteht, das Medikament auch später im Testland anzuwenden. Man könnte wenigstens im Nachhinein den Bruch der Abmachung sanktionieren. "Mir scheint es ethisch geboten, dort wo Tests gemacht werden, der Bevölkerung einen potenziellen Nutzen zukommen zu lassen, indem vor allem das Arzneimittel dort auch vertrieben wird, wenn es zugelassen wird. Daraus ließe sich auch eine rechtlich bindende Regel machen", meint Mira Chang.

In den vergangenen Jahren hat sich bereits einiges verbessert. In vielen Ländern, etwa in China, haben sich ethische und rechtliche Schutzstandards etabliert, die auf den ersten Blick so gut sind wie die in Europa oder den USA. "Das gilt aber nur prima facie", so Chang. Beim zweiten Blick zeigt sich: Die Standards dienen vor allem der Wissenschaft. Sie sollen die Datenqualität erhöhen und später die Wahrscheinlichkeit einer Zulassung. Nur zum Teil sollen sie die Patienten schützen. Und ob die Standards in der Praxis auch eingehalten werden, ist kaum bekannt. Rechtswissenschaftliche Forschung ist damit teilweise visionär, teilweise aber sehr pragmatisch. Wünschenswert wäre vieles, aber ist es auch realistisch? Und was heißt realistisch? Realistisch heißt für den Juristen, dass eine Position zwingend aus dem entwickelt und abgeleitet werden kann, was allgemein anerkannt ist, etwa der Erklärung der Menschenrechte.

Dabei zeigt sich eine spezifische Eigenart des Rechts, das die Arbeit daran so schwierig, aber auch interessant macht. Das Recht ist zwar menschengemacht, aber lebt doch auch selbst und ist nicht komplett steuerbar. Es entwickelt sich weiter, im Kontext des kulturellen Umfeldes. Was vor 50 Jahren normal war, ist heute unmöglich und umgekehrt. Vor allem sind rechtliche Normen heute viel stärker explizit von ethischen Normen abhängig als früher.


Die Unterschiede sind kulturell geprägt

Heute gilt als selbstverständlich, dass eine juristisch einwandfreie Lösung am Ende auch moralisch überzeugen muss. Dennoch: Die moralische In tuition ist wichtig, aber sie ist nicht alles. "Kontraintuitive Lösungen sind erlaubt, aber sie erfordern einen höheren Begründungsaufwand", sagt Silja Vöneky.

Ethik-Konventionen, Kodizes oder Ethik-Ausschüsse erhalten in letzter Zeit überall - nicht nur in der Medizin - eine zunehmende Bedeutung. Sie können sich in den wesentlichen Fragen auf allgemeingültige Grundsätze einigen. Im Detail eröffnen sich aber erhebliche kulturell geprägte Unterschiede. Etwa zwischen einer utilitaristischen Sicht, die den wissenschaftlichen Fortschritt in der Abwägung recht hoch bewertet, und einer deontologischen Sicht, die den Sinn von ethischen Normen in diesen selbst sieht und tendenziell den Schutz des Individuums höher stellt - etwa in der Form des kategorischen Imperativs, wonach kein Mensch ausschließlich Instrument für jemanden sein darf.

Noch einmal andere Schwerpunkte haben beispielsweise asiatische Wertesysteme. Das Medikamententestproblem befindet sich damit genau im Schnittfeld: Auf der einen Seite steht der Nutzen für die Menschheit, auf der anderen das Recht des Einzelnen auf körperliche Unversehrtheit. Welche Ethik ist richtig? Definitiv lässt sich das nicht klären. "Darum können Ethik-Gremien nicht das letzte Wort haben", sagt Chang.


GLOSSAR

Deontologie
Deontologie bezeichnet eine Klasse von ethischen Theorien, die einigen Handlungen zuschreiben, ihrer selbst willen gut oder schlecht zu sein. Innerhalb der Deontologie gibt es verschiedene Ausprägungen. Während moderate Deontologen Konsequenzen auch eine moralische Relevanz zugestehen, sind im moralischen Absolutismus bestimmte Handlungen unter allen Umständen und ungeachtet ihrer Konsequenzen verboten.

Ethik
Großes Teilgebiet der Philosophie, das sich mit Moral befasst, insbesondere hinsichtlich ihrer Begründbarkeit. Die Ethik untersucht das menschliche Handeln; aus ihr leiten sich unterschiedliche Disziplinen ab, etwa Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie.

Utilitarismus
Gemäß dem Utilitarismus ist die Grundlage für die ethische Bewertung einer Handlung das Nützlichkeitsprinzip. Dabei gilt die Maxime: "Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!"

Weltärztebund
Der Weltärztebund (World Medical Association, WMA) ist ein Zusammenschluss nationaler Ärzteverbände. Er wurde im Jahr 1947 gegründet und repräsentiert nahezu 100 nationale Berufsvereinigungen. Der WMA versucht einen hohen ethischen Standard im Gesundheitswesen zu fördern sowie Mediziner in Form von Deklarationen und Stellungnahmen ethische Leitlinien an die Hand zu geben.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Ethik und Wissenschaft im Widerstreit: Pharmakonzerne testen immer mehr neue Medikamente in armen Ländern. Das birgt moralische Sprengkraft.

Können Arzneimittelversuche gegen internationale Menschenrechte verstoßen? Das erforscht Mira Chang am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

Besinnung auf die Grundwerte: Die Einstellung von Fachleuten und Öffentlichkeit gegenüber dem medizinischen Fortschritt hat sich in den vergangenen Jahren verändert.

Skandale wie jene um das Präparat Contergan (oben) oder der Test des Antibiotikums Trovan an Kindern in Nigeria (ganz oben eine Demonstration gegen den Konzern Pfizer) gelten als Beispiele für das moralische Versagen von Pharmafirmen.

"Es gibt berechtigte Zweifel daran, dass Ärzte allein die richtigen Fachleute für ethische Fragestellungen sind." Silja Vöneky, Leiterin einer unabhängigen Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

Vor 47 Jahren beschloss der Weltärztebund die "Ethischen Grundsätze für medizinische Forschung am Menschen". Die Deklaration wurde zuletzt 2008 revidiert. Das Wohlergehen des Patienten müsse über den Interessen von Wissenschaft und Gesellschaft stehen, heißt es darin.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, I.2011, S. 34-41
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2011