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ETHIK/1005: Zur Diskussion über die Präimplantationsdiagnostik (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 11/2011

Ein Paradigmenwechsel
Zur Diskussion über die Präimplantationsdiagnostik

Von Giovanni Maio


Anfang Juli dieses Jahres hat der Deutsche Bundestag eine gesetzliche Regelung verabschiedet, die die Präimplantationsdiagnostik unter bestimmten Umständen erlaubt. Was bedeutet diese Entscheidung für den Lebensschutz in unserer Gesellschaft? Inwiefern bedeutet sie einen Dammbruch? Im folgenden Beitrag nimmt ein Medizinethiker dazu Stellung.


Die Präimplantationsdiagnostik ist nunmehr gesetzlich geregelt und plötzlich ist es still geworden um diese Thematik. Aber die Ruhe ist trügerisch. Denn mit dem Gesetz ist mehr als nur eine neue Diagnosemethode etabliert. Vielmehr ist ein neuer Umgang mit ungeborenem Leben rechtlich und moralisch legitimiert. Zum ersten Mal wird das ungeborene Leben der freien Verfügung seiner Eltern überlassen. Die einzige Bedingung für die freie Dispositionsbefugnis der Eltern ist das Vorliegen einer schwerwiegenden genetischen Erkrankung.


Es stellt sich aber die grundlegende Frage, ob man denn vernünftigerweise wollen kann, dass diese Praxis zu einer allgemeinen Regel, zum allgemeinen Gesetz werden könnte. Kann man sich tatsächlich widerspruchsfrei ein Gesetz denken, das die bewusste Erzeugung von Embryonen zur Weiterleitung an eine "Prüfbehörde" erlaubt, mit mitgelieferter Genehmigung zur Aussortierung der nicht gewünschten Embryonen? Können wir ohne logischen Widerspruch wollen, dass menschliches Leben auf Vorrat gezeugt (man wird sieben bis neun Embryonen pro PID brauchen) und nur ein Bruchteil dieser Embryonen für erhaltenswert gehalten wird?

Können wir uns als lebende Menschen überhaupt ein Gesetz denken, wonach zum einen jeder Mensch unverfügbar ist, und es gleichzeitig eine legale Präimplantationsdiagnostik gibt, im Zuge derer dieses unverfügbare Leben der totalen Verfügbarkeit zugeführt wird? Kann man dies gleichzeitig denken, ohne inneren Widerspruch? Indem eine "Ethik"-Kommission diese Befugnis zur Ausselektion von menschlichem Leben noch bestätigt, erhält die PID einen geradezu moralischen Anstrich.

Wenn aber das Ausmustern von menschlichem Leben mit dem neuen Gesetz nunmehr moralisch vertretbar sein soll, dann ist damit eine neue Ära eingeläutet. Das ungeborene Leben ist zu einem Leben auf Vorbehalt geworden, zu einem Leben, zu dem man erst Ja sagt, wenn man sicher ist, dass es auch so ist, wie man es sich gerne wünscht. Die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik ist insofern ein Paradigmenwechsel, über dessen Tragweite nachgedacht werden muss, damit die Zukunft der Gesellschaft nicht der Normativität des Faktischen überlassen wird.


Jeder Mensch war einmal ein Embryo

Meist wird eingewandt, dass die beschriebene Entwicklung gar nicht neu sei, sondern doch schon längst Usus und somit geltende Praxis. Die bedingungslose Annahme eines jeden Lebens habe man doch ohnehin schon längst aufgegeben, wenn man im Mutterleib einen Abbruch vornehmen kann, wann immer man will und sogar bis zur Geburt. Hier muss man jedoch genauer hinschauen. So gilt es zu bedenken, dass der Schwangerschaftsabbruch nur dann rechtmäßig vorgenommen werden kann, wenn die körperliche oder seelische Gesundheit der Frau durch die Schwangerschaft gefährdet wird. Liegt eine solche Gefährdung nicht vor, bleibt der Schwangerschaftsabbruch nach (immer noch) geltender Rechtslage rechtswidrig.

Wie also will man die Präimplantationsdiagnostik rechtfertigen, wenn hier weder eine Schwangerschaft noch eine gesundheitliche Gefährdung vorliegt? Das Einzige, was vorliegt, ist ein nachgewiesener Gendefekt. Wenn man nun postulierte, dass allein der Nachweis dieses Gendefektes ausreichen soll, um zu rechtfertigen, dass der Embryo nicht weiterleben dürfe, so nähme man unweigerlich eine Bewertung des Embryos vor, und zwar in der Weise, dass man sagte, es sei in jedem Fall besser, dass ein Embryo mit Gendefekt nicht ist, als dass er ist. Wenn wir aber wirklich so argumentieren wollen, dann haben wir es hier mit einer Einführung einer neuen Kategorie von Leben zu tun, nämlich der Vorstellung des Lebens als das Nichtseinsollende.

Jeder Mensch war einmal ein Embryo. Ist es dann nicht ein Widerspruch, wenn man als Mensch eine Schutzwürdigkeit für sich in Anspruch nimmt und gleichzeitig diese einem Embryo nicht nur komplett abspricht, sondern genau das Gegenteil davon postuliert? Mit der Präimplantationsdiagnostik ist unweigerlich die Feststellung getroffen, dass es Leben gibt, das als wertvoll befunden wird und dass es zugleich auch Leben gibt, das in sich nicht sein soll.


Diktat der Planung und Kontrolle

Gedankliche Grundlage der Zulassung der PID ist die Zulassung der Aussage, dass es menschliches Leben gibt, das per se eine Zumutung darstellt. Diese Gedankenfigur eines nicht zumutbaren Lebens aber muss verstören, weil mit dem Embryo "etwas" für unzumutbar gehalten wird, was wir alle einmal gewesen sind. Die fehlende Verstörung ob dieser Gedankenfigur lässt sich nur dadurch erklären, dass man den Embryo zuerst zu einem Objekt gemacht hat, von dem man sich bequem abgrenzen kann. Erst mit der Strategie, den Embryo sozusagen emotional von uns fernzuhalten, indem wir ihn komplett von uns abtrennen, gelingt es, die PID für einen Fortschritt zu halten, obwohl sie das Gegenteil davon ist. Es ist die Herauslösung des Embryos aus den Beziehungsstrukturen und seine Reduzierung auf ein herzustellendes und prüfbares Produkt, das es erst ermöglicht, die Präimplantationsdiagnostik als einen Akt der Humanität zu bezeichnen.


Die Ausklammerung des Embryos aus dem Beziehungsgeflecht des Menschen hat Parallelen zur Ausklammerung auch des ungeborenen Kindes im Mutterleib aus den relationalen Bezügen. Wenn man den Schwangerschaftsabbruch als eine automatische und zwingende Antwort auf ein ungeborenes Kind mit Behinderungen ansähe, so wäre dieses Verhalten genauso kritikwürdig wie die Präimplantationsdiagnostik. In den Debatten wurde immer argumentiert: Wenn wir den Abbruch nach Pränataldiagnostik erlauben, müssten wir auch die Präimplantationsdiagnostik erlauben.

Eine solche Schlussfolgerung ist aber problematisch. Erstens ist der Abbruch ja nur bei Gesundheitsgefährdung erlaubt, ansonsten nur straffrei. Zweitens ist der Abbruch auch ohne Gesundheitsgefährdung zwar de facto nicht verhinderbar, er wird also möglich, aber dieses Möglichwerden ist nicht gleichzusetzen mit einer moralischen Vertretbarkeit eines solchen Abbruchs ohne medizinische Indikation. Daher verfangen sich die Debatten in der Bestätigung des Faktischen, ohne die grundlegendere Frage zu stellen, ob wir denn das Faktische tatsächlich begrüßen können oder ob wir nicht vielmehr zugeben müssten, dass wir dem ungeborenen Leben nicht gerecht werden, indem wir es ab dem Moment des Vorhandenseins eines Gendefektes automatisch und wie selbstverständlich töten.

Der Schwangerschaftsabbruch ist zu einer Art Normalität geworden, aber ist er denn deswegen tatsächlich auch in ethischer Hinsicht für gut zu befinden? Jeder Abbruch bleibt doch ein großes ethisches Problem, und der Mensch kann heute die Augen nicht davor verschließen, dass, ganz gleich wie häufig dies jeden Tag geschehen mag, er sich schuldig macht ob der Tötung ungeborenen Lebens. In der Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik wird so getan, als sei die weit verbreitete Tötung ungeborenen Lebens kein Grund zur moralischen Verurteilung, sondern dann als gerechtfertigt anzusehen, wenn sie in freier Entscheidung des Individuums vorgenommen wird.

Für eine ethische Durchdringung der Implikationen der Präimplantationsdiagnostik ist es notwendig, die Debatte in einem etwas größeren Kontext zu sehen. Wichtig ist doch die Frage, welches Denken letztlich dazu geführt hat, dass wir es heute geradezu für selbstverständlich ansehen, dass man Kinder erst testet und prüft, bevor man sich zu ihrer Existenz bekennt. Wichtig ist die grundlegende Hinterfragung eines Denkens, das dem Diktat der Kontrolle folgt und dabei den Sinn für das Ungeplante vollkommen übersieht.

Nicht zuletzt unterstützt durch ein generelles Machbarkeitscredo der modernen, technizistisch denkenden Medizin wird dem modernen Menschen stets suggeriert, dass Machbarkeit und Kontrolle dem unkontrollierbaren und unmachbaren Schicksal stets vorzuziehen seien. Das Diktat der Planung und Kontrolle durchzieht das gesamte Leben des modernen Menschen wie selbstverständlich, und so nimmt es nicht wunder, dass er zunehmend glaubt, nicht nur sein eigenes Leben unter Kontrolle bringen zu müssen, sondern zugleich auch das Leben seiner Nachkommen.


Wenn das gesamte Leben bestimmt ist durch das Paradigma der Qualitätskontrolle und der Sicherheitsgarantien, so ist es nur eine logische Fortentwicklung dieses Zugangs, wenn heute Planung, Qualitätskontrolle und Sicherheitsgarantie auch für das werdende Leben gefordert wird. Viele aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen machen deutlich, dass die allergrößte Mehrheit von Frauen ihre Entscheidung, eine vorgeburtliche Diagnostik vorzunehmen, nicht nur als frei wählbare persönliche Entscheidung werten, sondern vielmehr als moralisch notwendige, weil es ihnen als unverantwortlich erschiene, ein Kind mit Behinderungen auf die Welt zu bringen. Die Pränataldiagnostik wird also wahrgenommen als Ausdruck eines besonderen Verantwortungsbewusstseins.

Dies heißt im Umkehrschluss, dass es den meisten Paaren als unverantwortlich erscheint, ein Kind mit Behinderungen auf die Welt zu bringen. Die Geburt eines Kindes mit Behinderungen wird somit nicht mehr als etwas einfachhin Gegebenes empfunden, als ein Geschick, das die Solidarität der gesamten Gesellschaft einfordert. Vielmehr wird diese Geburt immer mehr als Resultat der eigenen Unterlassungen gedeutet, am Ende gar als Versagen des Reproduktionsmanagements. Das ungeborene Leben ist immer mehr zu einer Art "Produkt" geworden, das bestellt, geprüft, abbestellt und weggeworfen werden kann. Durch die vorgeburtliche Diagnostik wird Leben immer nur als grundsätzlich abrufbar betrachtet und nicht (mehr) bedingungslos angenommen. Das Kind wird also nicht mehr als etwas einfachhin Da-Seiendes betrachtet, sondern es wird immer mehr das Resultat der eigenen Entscheidungen, zum Produkt der eigenen Wahl.


Abschied von der bedingungslosen Annahme des Lebens

Genau vor diesem Hintergrund muss man die Präimplantationsdiagnostik betrachten, wenn man die ethische Tragweite ihrer Zulassung tatsächlich ermessen möchte. Von einer bedingungslosen Annahme haben wir uns im Angesicht der Praxis vorgeburtlicher Diagnostik längst schon verabschiedet. Viele Studien belegen, dass die Schwangerschaft bedingt durch die vorgeburtliche Diagnostik in zwei Phasen aufgeteilt wird. In einer ersten Phase der bedingten Schwangerschaft sind Frauen verunsichert angesichts der vielen Untersuchungsmöglichkeiten, ob sie sich wirklich zu ihrem Kind bekennen sollen oder ob sie dem Rat vieler Gynäkologen zu einem Schwangerschaftsabbruch folgen sollten. Erst wenn die ersten drei Monate vorbei sind und der Schwangerschaftsabbruch schwieriger geworden ist, setzt die zweite Phase der Identifikation mit dem Kind ein.

Tatsächlich also prüfen wir vorgeburtlich schon viel, und tatsächlich fällt es vielen schwer, hier bedingungslos Ja zu sagen. Aber was bedeutet das? Wenn wir uns von dieser Kultur der bedingungslosen Annahme verabschiedet haben, dann ist das umso tragischer und müsste man erst recht etwas dagegen tun. Man müsste diese Praxis grundlegend hinterfragen; die Auswahl von Kindern über die Pränataldiagnostik kann nicht einfach hingenommen werden. Die Pränataldiagnostik ist von ihren Ursprüngen her entwickelt worden, um das Kind vor möglichen Krankheiten im Mutterleib zu schützen und um die Mutter besser auf das Kind vorbereiten zu können.

Dass die Pränataldiagnostik nunmehr fast nur noch als Ausmusterungsinstrument praktiziert wird, stellt eine Zweckentfremdung einer medizinischen Maßnahme dar. Dieser Missbrauch einer medizinischen Diagnostik kann so nicht hingenommen werden; schon gar nicht könnte man aus diesem Missstand nun den Schluss ziehen, dass mit der Präimplantationsdiagnostik eine neue Dimension zur Verstärkung dieser Unkultur betreten wird.


Kann man vor diesem Hintergrund ein Gesetz zur Zulassung der PID aus Vernunftgründen haben wollen? Und was wäre, wenn die Menschen ein solches Gesetz nur deswegen wollen, weil sie wissen, dass sie selbst keine Embryonen mehr sein werden? Sie selbst wird das Vernichten eben ganz sicher nicht betreffen. Daraus wird deutlich, wie fragwürdig die Argumentation vieler Menschen ist, dass man mit der PID einen Gewinn an Freiheitsgraden erreichen könnte. Bei genauer Betrachtung geht die PID zwar mit der Erweiterung von Freiheitsgraden einher, aber eben nur für die Eltern.

Diese Freiheit kann man nur erwerben, indem man die Freiheit des ungeborenen Lebens negiert. Echte Freiheit aber kann doch nur die sein, die mit dem anderen und nicht auf Kosten eines anderen erworben wird. Genau besehen geht es bei der PID um die scheinbar unumstößliche Prämisse, dass jeder Mensch selbst entscheiden dürfe, ob man mit einem einfachhin gegebenen oder einem selbst ausgesuchten Kind leben möchte. Weil der Mensch diese Prämisse nicht hinterfragen möchte, leugnet er einfach die Existenz des vorgeburtlichen Lebens mit einem Gendefekt und tut so, als ginge es in dieser Debatte allein um die Selbstbestimmung der Paare.


Genau das wurde im Bundestag suggeriert, als die Position, die PID zu verbieten als "paternalistisch" und als "bevormundender Staat" etikettiert wurde. Stattdessen wurde der am weitesten gehende der drei Gesetzesentwürfe als eine Huldigung an den mündigen Bürger gefeiert. Wenn man die Problematik der PID reduziert auf die Frage der Selbstbestimmung der Paare, so wird systematisch und kategorisch die Existenz des ungeborenen Lebens einfach ausgeblendet, ja weggeleugnet, weil diese Existenz dem modernen Menschen im Weg steht und ihn in seiner Freiheit zu behindern scheint. Vollkommen fremd ist der Gedanke geworden, dass Freiheit auch die Einsicht in die Notwendigkeit sein kann. Und was gibt es Notwendigeres als die Anerkennung der Existenz eines menschlichen Lebens? Noch fremder ist die Vorstellung geworden, dass auch und gerade ein Leben mit einem Kind mit Behinderungen ein volles Leben sein kann, wenn man sich nur der moralischen und sozialen Solidarität der eigenen Umgebung sicher wäre.


"Die Wucht des Schicksals rund um Schwangerschaft und Geburt haben mich still werden lassen", hat eine prominente Bundestagsabgeordnete und Ministerin im Bundestag als Argument für die PID bemüht und erntete damit viel Applaus. Bezeichnenderweise wurde nicht bemerkt, wie irrational die Bemühung des Schicksals für die Befürwortung der PID ist. De facto lautet die Argumentation so: Das Schicksal kann den Menschen angesichts der Geburt eines behinderten Kindes hart treffen. So weit wird man uneingeschränkt zustimmen können. Wenn man aber dann die Präimplantationsdiagnostik als Methode befürwortet, so wird die Argumentation vollkommen schief.

Es ist eben gerade nicht so, dass man mit der PID das Unbill des Schicksals in die eigene Hand nehmen würde. Stattdessen setzt man sich einfach über das Schicksal hinweg. Denn das menschliche Leben mit dem Gendefekt ist ja nicht mittels der Technik verhinderbar, sondern das Leben existiert, und es ist die Technik, die dieses Leben nur ausfindig macht, um es dann zu entsorgen. Mit einer Meisterung des Schicksals hat das nichts zu tun; vielmehr handelt es sich hier um die Verleugnung des Schicksalhaften, indem man ein Leben, das existiert, aus dem Weg räumt, damit man das Schicksal nicht erdulden muss. Vollkommen verkannt wird, dass das Schicksal im Sinne des Geschickten schon da ist; man wählt nur eine bestimmte Methode, um damit fertigzuwerden.


Leben mit Behinderung präventiv verhindern?

Die Methode der PID lautet: Aussortieren. Eine alternative Methode könnte sein: Lernen, damit umzugehen, Sich-Anfreunden. Und wenn man sich nicht damit anfreunden kann, dann gäbe es immer noch die Methode, tatsächlich dem Schicksal zuvorzukommen, und das kann nur der freiwillige vernunftgeleitete Verzicht oder die aus Einsicht gefällte Entscheidung zur Adoption sein. Nun wird argumentiert, dass es paternalistisch wäre, den Wunsch der Eltern nach einem eigenen gesunden Kind zu verwehren. Aber ist es wirklich paternalistisch, wenn man zu bedenken gibt, dass der Wunsch nach einem eigenen Kind nicht um jeden Preis erfüllt werden sollte? Der Preis zur Erfüllung dieses Wunsches wird eben dann zu hoch, wenn man sich dafür über viele andere Leben hinwegsetzen muss.

Insofern ist die PID keine Bewältigung, sondern eine Verdrängung des Schicksals und ein verzweifelter Versuch, das vorhandene Leben für nichtig zu erklären, obwohl jeder weiß, dass es existiert, und zwar für sich und nicht nur für die Eltern, die es lieber entsorgen möchten. Der Embryo ist da, und er ist da, wie er ist. Kein Mensch hat ihn gemacht, wie er ist, sondern er ist einfachhin da in seinem So-Sein. Viele Menschen sind heute davon überzeugt, dass dieses So-Sein nicht als solches akzeptiert zu werden braucht, weil man sich heute als freier Mensch versteht. Unter Freiheit versteht man letzten Endes die Autorisierung dazu, das schicksalhaft Gegebene abzulehnen.


Innerhalb dieser Konzeption von Freiheit, die lediglich als Freiheit "von" und nicht als Freiheit "zu" begriffen wird, fragen sich viele Menschen, warum sie ein Kind mit Behinderungen als Schicksal empfinden sollten, wenn man doch heutzutage durch die technischen Möglichkeiten ein Kind ohne Behinderungen haben könne. Sie sagen: Schicksal muss nicht sein, also braucht auch ein Kind mit Behinderungen nicht sein. Und es wird suggeriert, die Entscheidung für ein Kind ohne Behinderungen sei ein Zugewinn an Freiheit, ein Ausdruck des Aufgeklärtseins in einer aufgeklärten Zeit.

Innerhalb dieses Argumentationsgangs wird so getan, als könne man ein Leben mit Behinderungen präventiv verhindern, indem man es verwirft. Dass aber das Verwerfen kein Verhindern, sondern eher ein Aus-dem-Weg-Räumen bedeutet, wird kaum mehr wahrgenommen. Besonders augenscheinlich wird die Schieflage solcher rhetorischen Bemühungen bei der ebenfalls von einem CDU-Politiker in der Debatte verwendeten Argumentation, die Präimplantationsdiagnostik stärke das "Ja" zum Kind. Tatsächlich ist mit der Präimplantationsdiagnostik sekundär ein Ja zum Kind verbunden, aber dieses Ja ist erst möglich geworden durch ein kategorisches Nein zu einem anderen Kind, das genauso existiert hat.


Eine neue Konzeption von Mündigkeit?

Eine prominente CDU-Politikerin hat in der Bundestagsdebatte erklärt: "Ein Totalverbot geht vom bevormundeten Menschen aus, die Zulassung vom mündigen Menschen." Und im gleichen Atemzug betonte sie, dass sie den Bürgern einen verantwortungsvollen Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik zutraue. Wenn man sich diese Argumentation zu eigen machen wollte, müsste man in dieser Logik auch das geltende Verbot der Klonierung als Bevormundung deuten und es dem mündigen Bürger überlassen, ob er diese Technik in Anspruch nehmen möchte oder nicht.

Nun könnte man einwenden, dass es bei der Klonierung ja um das Recht eines Dritten geht, nämlich den Klon. Aber dieses Argument ist nicht stichhaltig, weil es bei der PID genauso um das Recht eines Dritten geht, für das sich aber in der Debatte offensichtlich nur eine Minderheit wirklich interessiert hat. Wenn man nun sagt, man traue den Bürgern einen verantwortungsvollen Umgang mit der PID zu, hat man damit ja vorausgesetzt, dass die Anwendung der PID in bestimmten Konstellationen überhaupt kein Problem sei, sondern erst die willkürliche und unverhältnismäßige Anwendung der Präimplantationsdiagnostik.

Doch diese Vorannahme ist nicht durchzuhalten. Dann müsste man sagen, dass es nicht nur hinnehmbar, sondern gut ist, Embryonen auszusortieren, um kein behindertes Kind zu bekommen. Man müsste sagen, dass es gut ist, Leben zu zeugen, um es dann bei Nichtbestehen der Qualitätsprüfung einfach zu entsorgen, vorausgesetzt, man macht es zu dem Zweck, kein behindertes Kind zu bekommen. Erst wenn man die PID für andere Zwecke vornähme, wie zum Beispiel zur Geschlechtsselektion, wäre es nicht verantwortungsvoll, und die Politikerin traut den Bürgern zu, dass sie nur für die ersten Zwecke die PID wählen werden. Diese Argumentation ist unhaltbar: Warum wird denn eine kontrollierende Ethikkommission etabliert, wenn die Politik diese Verantwortung den Bürgern wirklich zutraute?

Mehr noch: Wenn so argumentiert wird, wird grundlegend verkannt, dass schon das "Herstellen" von Embryonen auf Probe und das bewusste Einkalkulieren der Vernichtung dieser Embryonen per se ein Problem darstellt, ganz gleich zu welchem Zweck. Diese Argumentation stellt daher eine problematische Beschönigung und Bagatellisierung der Präimplantationsdiagnostik dar und führt letzten Endes aufgrund der rein rhetorischen Verwendung in die Irre.


Noch bedenklicher als diese Verdrehung ist die der Argumentation zugrunde liegende Vorstellung von Mündigkeit. Denn letzten Endes wird doch, wenn man so argumentiert, dass es mündig ist, wenn man sich die Kinder aussucht, die man haben möchte und diejenigen aussortiert, die einem im Wege stehen, Mündigkeit verstanden als Aufforderung zur Befolgung nur der eigenen Interessen. Mündig sein hieße nach dieser implizit vermittelten Vorstellung also, konsequent seinen Interessen zu folgen, und sei es auf Kosten von Embryonen. Eine alternative und seit der Aufklärung wirkmächtige Vorstellung von Mündigkeit ist aber die Fähigkeit des Menschen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, und das hieße, dass der Mensch dann mündig wäre, wenn er nicht nur nach seinen Neigungen, sondern vor allen Dingen nach seiner Vernunft handeln würde.

Vernunft würde dann bedeuten, die Freiheit in Anspruch zu nehmen, sich von seinen Neigungen und partikularen Interessen gedanklich lösen zu können, um zu prüfen, was denn in einem allgemeinverbindlichen Sinn eine gute Entscheidung wäre. Mündig wäre also derjenige, der im Gefolge seiner Vernunft sich aus Freiheit für das entschließt, was man als allgemeinverbindliches Gesetz für alle postulieren könnte. Folgt man dieser kantischen Konzeption von Mündigkeit, so wird deutlich, dass eine solche Mündigkeit nicht gleichzusetzen ist mit einem neoliberalen Laissez-faire, sondern Mündigkeit setzt eine Einsicht in die Notwendigkeit voraus.


Das Notwendigste, was es gibt, ist die Anerkennung der Faktizität eines Lebens und seiner grundsätzlichen Unverfügbarkeit. Menschliches Leben ist einfachhin da, und ab dem Moment, in dem es da ist, muss es der Verfügungsgewalt eines Dritten entzogen sein. Wenn man von diesem Notwendigen komplett absehen möchte und den Schutz des Lebens nicht an sein Sein bindet, sondern an die Wünsche der erwachsenen Menschen, dann kann das nicht dadurch begründet werden, dass man es dem mündigen Bürger überlässt, ob er die Unverfügbarkeit des Lebens respektieren möchte oder nicht. Und erst recht ist das kein Meilenstein zur "Humanisierung der Gesellschaft", wie in der Bundestagsdebatte behauptet wurde.

Vielmehr bedeutet eine solche Argumentation nicht weniger als eine ethische Resignation und ist Ausdruck einer Politik, die sich vorrangig nach Meinungsumfragen richtet. Statt die PID zuzulassen, wäre ein politisches Signal notwendig gewesen, das den gegenwärtigen Trend, das Ungeborene der Verfügung Dritter preiszugeben, kritisch reflektiert. Stattdessen ist mit der Einführung der PID dieser Trend nicht nur bestätigt und für gut befunden worden, sondern er erhält noch beschleunigenden Rückenwind.

Dies bedeutet konkret, dass zukünftige Eltern sich nun umso mehr rechtfertigen müssen, wenn sie sich als Risikopaar für ein Kind mit Behinderungen entscheiden wollen. Die bedingungslose Entscheidung für ein behindertes Kind wird nunmehr noch schwieriger werden als dies bis anhin schon war. Das Gesetz suggeriert, dass man ja "etwas" gegen ein behindertes Kind tun könne; wenn ein behindertes Kind zur Welt kommt, wird man umso selbstverständlicher fragen, ob man "es" nicht hätte auch verhindern können. Die Existenz eines Menschen mit Behinderungen wird immer mehr die Frage der "Sorgfaltspflicht" aufwerfen, dieser Mensch wird immer mehr als "Betriebsunfall" eines nicht ausreichend genetisch beratenen Elternpaares gewertet werden.


Folglich wird es nicht als Akt der Humanität gelten, wenn man Ja zu jedem Leben sagt, sondern human ist heute, das Leben zu verhindern, das unserer Selbstbestimmung (scheinbar) im Weg steht. Dieser subtil sich einschleichende Prüfungsimperativ im Umgang mit menschlichem Leben ist das Kernproblem der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik in unserem Land. Bedenkt man aber, dass kein Mensch unter uns lebt, der es gerne gehabt hätte, dass man ihn zunächst gut geprüft hätte, bevor man ihn weiterleben ließ, wird deutlich, dass man nach diesem neuen Gesetz nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren kann. Daher erscheint es im Nachgang zu diesem Gesetz umso notwendiger, neu darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und wie es gelingen kann, dass eine Kultur sich etabliert, bei der das Selbstverständlichste wieder selbstverständlich wird: dass jedes Leben, auch das kränkeste, in sich wertvoll ist und unsere Achtung verdient.


Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M.A. (phil.) (geb. 1964) studierte Medizin und Philosophie an den Universitäten Freiburg, Straßburg und Hagen. Nach seiner Promotion zum Dr. med in Freiburg absolvierte er eine Facharztausbildung für Innere Medizin Im Jahr 2000 habilitierte er sich an der Universität zu Lübeck für Ethik und Geschichte der Medizin. 2002 wurde er in die Zentrale Ethikkommission für Stammzellenforschung berufen. Seit 2005 ist er Professor für Bioethik und Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und leitet das dortige interdisziplinäre Ethikzentrum.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 11, November 2011, S. 576-581
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2011