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ETHIK/1075: Die Diskussion über organisierte Sterbehilfe (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 8/2012

Gegensteuern ist notwendig
Die Diskussion über organisierte Sterbehilfe

Von Alexis Fritz



Seit April dieses Jahres liegt ein Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium vor, der die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung verbieten will. Er wird allerdings die bereits bestehenden Probleme und die (Missbrauchs-)Erfahrungen in diesem Bereich nicht lösen können.


Es war der Startschuss für eine heftige Debatte über die Suizidbeihilfe. Vor vier Jahren informierte der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch die Öffentlichkeit, dass er einer 79-jährigen Frau aus Würzburg beim Sterben geholfen habe. In einem abgespielten Video spricht die frühere Röntgenassistentin offen über ihren Wunsch zu sterben: Sie habe Angst vor dem Pflegeheim. Sie könne sich nur noch schlecht bewegen und mit Mühe selbst versorgen. Sie sei weder unheilbar krank noch leide sie an unerträglichen Schmerzen: "Ich kann nicht sagen, dass ich leide." Die Rentnerin war Kusch zufolge alleinstehend und hatte kaum noch familiäre Bindungen. "Nicht in meinem Horizont" war es - so Kusch -, die Frau von ihrem Sterbewunsch abzubringen. Dies hätte er als "per se zunächst mal eine Missachtung und Respektlosigkeit" ihr gegenüber empfunden.


Kurz nach dieser Pressekonferenz bot Kusch im Rahmen eines gemeinnützigen Vereins ein Dienstleistungspaket für Menschen an, die sich das Leben nehmen wollten. Gegen ein Honorar von bis zu 8.000 Euro wurde den Sterbewilligen ein Mittel beschafft, welches nach einer "Info zum Suizid" gemischt und in tödlicher Dosierung eingenommen wurde (Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 6. Februar 2009 [8 E 3301/08]: Kommerziell betriebene Suizidbegleitung als Gefahr für die öffentliche Sicherheit). In vier von den fünf dokumentierten Fällen handelte es sich um alte, lebensmüde, aber nicht todkranke oder schwerstleidende Menschen.


Weitere Suizidvorbereitungen stoppte die Polizei durch ein Verbot, das in einem Eilverfahren das Hamburger Verwaltungsgericht bestätigte. Kusch habe - so das Gericht - verschreibungspflichtige Medikamente beschafft und damit die Schutzvorschrift des Arzneimittelgesetzes unterlaufen. Zwar sei die Beihilfe zur Selbsttötung nicht strafbar, allerdings die Form der kommerziellen Suizidbeihilfe, "sozial unwertig, denn sie widerstreitet den allgemein anerkannten moralischen und sittlichen Wertvorstellungen. Diese lassen es nicht zu, die existenzielle Not lebensmüder Menschen wirtschaftlich oder zum Zwecke gesellschaftlicher Provokation auszunützen." Nicht zuletzt gefährde diese Form der Suizidhilfe die öffentliche Sicherheit: "[O]hne das ausgesprochene Verbot [ist] das Leben von Menschen gefährdet [], die ohne die vom Antragsteller angebotenen Erleichterungen beim Suizid allein auf sich gestellt vor diesem unumkehrbaren Schritt zurückgescheut wären."

Nach dem Urteilsspruch kündigte Kusch an, die Suizidbeihilfe nicht mehr länger anbieten zu wollen. Der Grund war weniger Einsicht, als die Schwierigkeit an die dazu erforderlichen Medikamente zu kommen und der Widerwille, Suizidhilfe in einer rechtlichen Grauzone abzuwickeln.


Der Gesetzgeber sieht schon seit 2006 Handlungsbedarf

Kusch brach mit der Offenlegung seiner kommerziellen Selbstmordhilfe ein Tabu. Selbst Menschen, die die Suizidhilfe befürworteten, wollten seine Unternehmungen nicht akzeptieren. In Deutschland ist der Suizid ebenso wie dessen Versuch und die bloße Beihilfe dazu grundsätzlich straflos. Anders etwa als in Österreich, Italien, England und Wales, Irland, Portugal, Spanien und Polen, wo die Beihilfe zur Selbsttötung vollständig verboten ist.

Dagegen ist in der deutschen Politik eine allgemeine Tendenz zu beobachten, dass ein solches vollständiges Verbot "nicht erforderlich" (Gesetzesantrag der Länder Saarland, Thüringen, Hessen, Bundesrat Drucksache 230/06 am 27.3.06, 5) oder gar "nicht wünschenswert" (Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz, Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung, Bearbeitungsstand: 9.3.12, 11) sei. Es gelten die - vermutlich auch gesellschaftlich mehrheitsfähigen - Auffassungen, dass erstens in das Selbstbestimmungsrecht sterbenskranker Menschen nicht eingegriffen werden sollte und zweitens diejenigen, die aus Mitleid einem todkranken Angehörigen Hilfe zur Selbsttötung leisten, nicht kriminalisiert werden sollten. Vor Augen hat man dabei Freunde oder engste Angehörige, die den unheilbar Schwererkrankten schon sehr lange begleitet haben und nach ausgiebiger Diskussion, wenn nicht gar schweren Auseinandersetzungen, seinen Wunsch zu sterben respektieren.

In diesem Zusammenhang wird Suizidbeihilfe von sehr nahestehenden Personen einmalig, aufgrund altruistischer Motive und in der Regel mit massiven Konflikten geleistet. Diese singuläre und intime Vorstellung wird nun ersetzt durch eine öffentlichkeitswirksame Suizidorganisation, deren Dienstleistungen grundsätzlich alle lebensmüden Personen beanspruchen können.


Die Zahl von Personen oder Organisationen, die Sterbewilligen ihren Suizid schnell und effizient ermöglichen wollen, nimmt in Deutschland kontinuierlich zu. In dieser problematischen Entwicklung erkennt der Gesetzgeber schon seit 2006 einen Handlungsbedarf. Doch scheiterten mehrere unterschiedliche Gesetzesempfehlungen im Bundesrat an der Uneinigkeit der Länder. So fehlt es vier Jahre nach dem öffentlichen Eklat um die von Kusch praktizierte Suizidbeihilfe an einer bundesweit einheitlichen gesetzlichen Regelung. Etwas daran ändern könnte der aktuelle Referentenentwurf des Bundesministeriums für Justiz, der die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung verbieten will. "Gewerbsmäßig" handelt demnach jemand, der eine Tat wiederholt begeht, um sich "eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu verschaffen, wobei die Tätigkeit von der Absicht getragen sein muss, Gewinn zu erzielen". Demnach sollten Organisationen oder Personen keinen Gewinn erwirtschaften, wenn sie Räumlichkeiten, Medikamente oder konkrete Kontakte für einen Suizid vermitteln oder verschaffen.

Der Entwurf unterscheidet sich von den bislang eingebrachten Vorschlägen. So ging es in einer Gesetzesinitiative bisher lediglich darum, die Werbung für die Suizidbeihilfe unter Strafe zu stellen (Gesetzesantrag des Landes Rheinland-Pfalz, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches Strafbarkeit der Werbung für Suizidbeihilfe, BR-Drucksache 149/10, 23.3.10). Damit sollte unterbunden werden, dass durch Werbung die Suizidbeihilfe als "normal" angesehen wird und das beworbene Angebot vermehrt beansprucht wird. Einen Schritt weiter ging die Empfehlung, nicht nur die Werbung, sondern die gewerbliche und organisierte Suizidbeihilfe selbst zu verbieten (Empfehlung des Rechts- und Innenausschusses des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Strafbarkeit der Werbung für Suizidbeihilfe, BR-Drucksache 149/1/10, 25.10.10). Menschen in verzweifelten Situationen (unter anderem psychisch kranke, altersdemente, depressive oder unter akutem Liebeskummer leidende Personen) sollten nicht die unumkehrbare Entscheidung zum Suizid treffen, wenn Gewerbetreibende oder Organisationen ihre Dienstleistungen zur Selbsttötung als den vermeintlich leichteren Weg anbieten.

Ein dritter Vorschlag beinhaltete das strafrechtliche Verbot einer "geschäftsmäßigen" Förderung der Selbsttötung (Gesetzesantrag der Länder Saarland, Thüringen, Hessen; Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung, BR-Drucksache 230/06, 27.3.06). Hier sind Personen und/oder Organisationen gemeint, die über den Einzelfall hinaus mit Serviceleistungen den Entschluss zum Selbstmord unterstützen. Im Unterschied zur gewerblichen Suizidhilfe stehen auch die "nicht entgeltliche Hilfeleistung oder die Hilfeleistung aus ideellen Motiven unter der Strafandrohung, soweit sie in organisierter oder gleichartig wiederkehrender Form erfolgt".

Im Vergleich zu den bisherigen Gesetzesinitiativen geht der zurzeit diskutierte Referentenentwurf zwar weiter als ein bloßes Werbeverbot, bleibt aber hinter den zwei anderen Vorschlägen zurück.


Suizid ist ein komplexes Phänomen

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stieg in Deutschland im Jahre 2010 die Zahl der Suizide auf 10.021 Personen (Österreich: 1.261 Personen). Im Vergleich dazu starben in demselben Zeitraum 3.812 Personen bei Verkehrsunfällen. Die Suizide wurden zu 74 Prozent von Männern begangen. Insbesondere (junge) Männer wenden dazu so genannte "harte" Methoden (Erhängen, Erschießen, Sturz aus der Höhe...) an. Unabhängig von Geschlecht und Alter stellt die zweithäufigste Suizidmethode die vorsätzliche Selbstvergiftung dar. Mit steigendem Alter nimmt das Suizidrisiko zu. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Suizid bei den 20- bis 30-Jährigen die zweithöchste Todesursache ist.

Jeder fünfte Suizid geschieht in den Altersgruppen zwischen 45 bis 55 Jahren. Mehr als jeder vierte Suizid geschieht bei Personen ab 70 Jahren. Es ist jedoch anzunehmen, dass gerade Suizide alter Menschen aufgrund der häufigen Verwendung von Über- oder Unterdosierung der verschriebenen Medikation nicht als solche erkannt werden und stattdessen der Kategorie der unklaren Todesursachen zugeordnet werden. Die Zahl der Suizidversuche liegt der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention zufolge gegenüber dem Suizid um ein Zehnfaches höher. Deutschland liegt mit einer Rate von 12,25 Suiziden auf 100.000 Personen (Österreich: 15,03/100.000) im europäischen unteren Mittelfeld. Die Suizidrate variiert nach Bundesland und Jahreszeit. Teilweise bestehen diese Unterschiede bereits seit dem 19. Jahrhundert.


Menschen, die Suizid begingen, litten zu 90 Prozent an einer Depression oder einer anderen diagnostizierbaren psychischen Störung (Schizophrenie, Angst- und Persönlichkeitsstörungen) oder an einer Suchterkrankung (Stefan P. Rübenach, Todesursache Suizid, Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik, 2007, 960-971, hier 961-2; Monique Séguin, Le suicide. Le comprendre pour mieux le prévenir, 2009, 37 ff.). Daher ist aus psychologisch/psychiatrischer Perspektive der Suizid oft das Ende einer krankhaften Entwicklung. Neben diesen Störungen und Erkrankungen besteht laut der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention ein erhöhtes Risiko bei Suizidalität bei:

  • alten Menschen, besonders wenn sie mehrfach und schmerzhaft erkrankt oder vereinsamt sind;
  • allen Menschen mit Suizidversuchen, mit suizidalen Krisen oder Suizidankündigungen in der Vorgeschichte sowie mit Suizidalität in der Familiengeschichte;
  • Menschen in akuten Trennungs- und Belastungssituationen, bei Entwurzelung, Isolation, schicksalhaften Lebensereignissen oder anderen psychosozialen Krisen;
  • Menschen mit schmerzhaften oder verstümmelnden Erkrankungen, insbesondere chronischen oder Krebskrankheiten.


Suizid ist im Blick auf die soeben angesprochenen Zahlen, Befunde und Zusammenhänge ein komplexes Phänomen. Eine Diskussion über den Suizid und dessen Beihilfe muss diesem Umstand Rechnung tragen. Sie kann nicht verengt werden auf das Motiv der freien Äußerung eines Sterbewunsches. Denn allzu oft wird die vermeintlich wohlüberlegte und freiverantwortliche Entscheidung zum Suizid von einer maßgebenden krankhaften Entwicklung beeinflusst und ist in jedem Fall ein Ausdruck einer äußeren oder inneren Not. Eine Pervertierung sind jene Darstellungen, die auf direktem Weg auf die Nachfrage nach einer Suizidbeihilfe mit dem Angebot derselben antworten wollen. Zwar stimmt es nicht, dass "jeder Suizid ein nicht verhinderter Suizid" oder der "Abschluss einer krankhaften Entwicklung" ist (siehe dazu: Werner Felber und Manfred Wolfersdorf, Sind Suizidprophylaxe und Sterbehilfe miteinander vereinbar?, in: Suizidprophylaxe 92, 1997, 109-113).


Dennoch ist der Sterbewunsch selten eine Entscheidung, an der weder eine liebevolle Zuwendung noch eine professionelle Versorgung etwas ändern können. Im damaligen Gesetzesantrag der Länder Saarland, Thüringen und Hessen heißt es deshalb: "Die eigenverantwortliche und selbstbestimmte Selbsttötung kann (...) regelmäßig nur als tragisches Ergebnis fehlender Hilfsangebote oder fehlgeschlagener Hilfe zum Leben verstanden werden und nicht als eine von mehreren (gleichwertigen) Optionen im Umgang mit scheinbar ausweglosen Situationen (Gesetzesantrag der Länder Saarland, Thüringen, Hessen, BR Drucksache 230/06, 1).


Eine enorme Herausforderung für die Kirchen

Die beiden großen Kirchen in Deutschland sprechen angesichts der Selbsttötung eines Menschen von einer enormen Herausforderung. Demnach ist der Suizid als menschliche Möglichkeit zu respektieren. Allerdings erkennen sie auch die Verzweiflung und inneren Not vieler Suizidenten, aus der sie sich aus eigener Kraft nicht befreien können: "[Der Christ] kann diese Tat im letzten nicht verstehen und nicht billigen - und kann dem, der so handelt, seinen Respekt doch nicht versagen. Eine Toleranz gegenüber dem anderen noch über das Verstehen seiner Tat hinaus ist dabei gefordert. Doch die Selbsttötung billigen und gutheißen kann der Mensch nicht, der begriffen hat, dass er nicht nur für sich lebt. Jeder Selbsttötungsversuch kann für ihn nur ein 'Unfall' und ein Hilfeschrei sein" (Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens).


Aus diesem Grunde ist es vordringlich, Suizidgefährdeten in einer hoffnungslos erscheinenden Lebenslage eine Perspektive zum Weiterleben zu geben. Angebote der Suizidbeihilfe bieten nur wenig Aufklärung und keine lebensbejahende Perspektive. Hier wird dem Leidenden und Lebensmüden keine Hilfe oder Begleitung im Leben angeboten, sondern die Beendigung des Lebens selbst.


Es geht nicht nur um die gewerbsmäßige Form der Suizidbeihilfe

Diese Sicht teilt auch der vorliegende Referentenentwurf und begründet das Verbot einer kommerzialisierten Suizidbeihilfe wie folgt: Erstens ließen sich Menschen zum Suizid verleiten, "die dies ohne ein solches Angebot nicht getan hätten". Der Entwurf spricht von einem "plausiblen und wahrscheinlichen Zusammenhang", dass nach der Liberalisierung der Suizidbeihilfe in den Niederlanden, Belgien und der Schweiz die Suizidrate gestiegen ist. Zweitens entstehe der Eindruck, es handle sich um "eine gewöhnliche Dienstleistung" und damit werde auch "für die Selbsttötung selbst der fatale Anschein einer Normalität erweckt". Drittens könne die scheinbare Normalität dazu führen, dass ein Erwartungsdruck bei kranken und alten Menschen entstehe, "ihren Angehörigen oder der Gemeinschaft durch ihren Pflegebedarf nicht dauerhaft 'zur Last zu fallen'

Viertens stehe im Vordergrund dieser Dienstleistung kein "Beratungsangebot mit primärer lebensbejahender Perspektive", sondern eine klare Gewinnabsicht. Es geht um "die rasche und sichere Abwicklung des gefassten Selbsttötungsentschlusses, um damit Geld zu verdienen". Da der Schutz des Lebens unstreitig der "Höchstwert der Verfassung" ist, möchte der Gesetzesentwurf diesen beschriebenen Gefahren entgegentreten und die gewerbsmäßige Suizidbeihilfe als "das Leben gefährdende Handlung unter Strafe" stellen.


So begrüßenswert und richtig die Problembeschreibung und Zielsetzung des Entwurfes sind, greift das Verbot der gewerbsmäßigen Form der Suizidbeihilfe dennoch zu kurz. Zum Beispiel wären nicht gewinnorientierte Organisationen wie "Dignitas Deutschland e.V." oder "SterbeHilfeDeutschland e.V." auch nach dem Inkrafttreten des Gesetzes erlaubt. Damit rückt das ursprüngliche Ziel, die Normalisierung des Suizids und dessen Beihilfe zu bekämpfen, in unerreichbare Ferne. Werden in Deutschland weiterhin Organisationen geduldet, deren Hauptzweck die Ermöglichung des Suizids ist, so erhalten deren Dienstleistungsangebote den Anschein von Normalität und gesellschaftlicher Akzeptanz.

Eine wirksame Öffentlichkeitsarbeit würde zusätzlich die Nachfrage nach einem assistierten Suizid erhöhen. Wenn bereits hinter einer Suizidbeihilfe eine Organisation steht, die mit ihren Strukturen die Arbeit routinemäßig abwickelt, ist eine qualitativ andere Ebene der Suizidbeihilfe erreicht. Der damalige Nationale Ethikrat warnte davor, dass auf "diese Weise (...) die Schwelle erheblich herabgesetzt [werde], die suizidgefährdete Personen durch die gesellschaftliche Tabuisierung der Selbsttötung in zahlreichen Fällen davon abhält, ihrer psychischen Verfassung entsprechend zu handeln. Wenn die öffentliche Tätigkeit von Organisationen, deren einziger oder hauptsächlicher Zweck die Ermöglichung von Suiziden ist, soziale und kulturelle Akzeptanz erfährt oder auch nur geduldet wird, könne die Gesellschaft ihren Schutzauftrag gegenüber suizidgefährdeten Menschen nicht mehr in der gebotenen Weise erfüllen."

Ferner könnte gleichfalls durch die öffentliche Duldung einer organisierten Suizidbeihilfe der Erwartungsdruck bei kranken und alten Menschen entstehen, ihren Angehörigen oder der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen. Angesichts der demografischen Entwicklung und der steigenden Gesundheitskosten muss einem möglichen gesellschaftlichen Druck hin zur Beihilfe zum Suizid bereits im Ansatz begegnet werden.


Es braucht ein gesetzliches Verbot der organisierten
Sterbehilfe

Ebenso wird es dem Gesetzesentwurf kaum gelingen, die Kommerzialisierung einzudämmen. Die Gewerbsmäßigkeit oder Gewinnorientierung eines Unternehmens kann leicht umgangen werden. Nicht-gewerbsmäßige Suizidhilfeorganisationen können weiterhin Geld einnehmen durch Eintrittsgebühren, jährliche Mitgliedsbeiträge, Lebensbeiträge, Spesenabrechnungen, Deckung von administrativen Aufgaben bis hin zur Abwicklung der erforderlichen (Bestattungs-)Formalitäten, Aufwandsentschädigungen und sonstiger Entschädigungen (Freitodbegleitung, Betreuung der betroffenen Personen, für die Gespräche mit letzteren und mit deren Angehörigen sowie für die Suizidhilfe).

Da sich die in Deutschland tätigen Sterbehilfevereine in der Regel die Schweizer Sterbehilfevereine zum Vorbild nehmen, müssen die jüngsten Einwicklungen der organisierten Suizidhilfe aus der Schweiz als Erfahrungswerte herangezogen werden (vgl. Palliative Care, Suizidprävention und organisierte Suizidhilfe, Bericht des Bundesrates, Bern Juni 2011, 15): So führte der Schweizer Sterbehilfeverein Dignitas zeitweise Suizidbegleitung in Hotelzimmern oder in den Fahrzeugen der Suizidwilligen durch und führte erfolglose Gerichtsprozesse, um in der näheren Umgebung einer Alterssiedlung eine Wohnung für die Suizidbegleitung zu nutzen. Mehrere Schweizer Sterbehilfevereine leisten Suizidbeihilfe bei Personen mit psychischen Krankheiten und beabsichtigen, lebensmüden Menschen unabhängig von deren Gesundheitszustand Beihilfe zum Suizid anzubieten.

Um die Suizidhilfe in Räumen von öffentlich subventionierten Pflegeheimen zu ermöglichen, schaltete eine Sterbehilfeorganisation eine Werbekampagne im Schweizer Fernsehen. Diesen Juni stand im Schweizer Kanton Waadt eine Volksabstimmung an, in der lediglich zwischen den Alternativen zu wählen war, ob die Suizidbeihilfe in öffentlichen Pflegeheimen bei allen Bewohner(innen) oder "nur" bei unheilbar erkrankten Heimbewohnern erlaubt sein soll.


Der Referentenentwurf wird diese bereits bestehenden Probleme und die (Missbrauchs-)Erfahrungen der organisierten Sterbehilfe nicht lösen können. Im Blick auf die eigenen gesteckten Ziele braucht es daher ein gesetzliches Verbot der organisierten Sterbehilfe einschließlich der Vermittlung der Beihilfe zum Suizid. Andernfalls bleibt der Gesetzesentwurf hinter den Möglichkeiten einer wirkungsvollen Suizidprävention zurück und vergibt die Chance, die Suizidrate zu senken und damit positiv zu beeinflussen.

Noch im selben Jahr nach dem Urteil des Hamburger Verwaltungsgerichtsurteils gründete Roger Kusch den SterbehilfeDeutschland e.V. Dieser Verein unterscheidet sich von den früheren Unternehmungen dadurch, dass an der Stelle von gewerbsmäßigen Suizidangeboten, Suizidinteressierte Mitgliedsbeiträge an den Verein entrichten. In dem veröffentlichten Weißbuch des Vereins ist nachzulesen, dass auch der Suizid von Menschen unterstützt wurde, die gesund waren oder unter psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen litten. Wie etwa Herr C., 50 bis 59, kinderlos. Über seine psychische Verfassung heißt es dort, "Kombinierte Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen, stark überwiegend depressiven sowie zwanghaften und phobischen Zügen". Herr C. begründet seinen Suizidbeihilfewunsch wie folgt: "Erstens, weil ich nicht mehr nützlich bin, zweitens, weil ich einfach keine Kraft mehr habe."

Auf seiner Webseite unter der Rubrik "Häufige Fragen" schreibt der Verein: "Das Bundesjustizministerium hat im April 2012 den 'Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung' auf den gesetzgeberischen Weg gebracht. (...) Unser Verein ist nicht betroffen, da wir den Mitgliedern Suizidbegleitung nicht gegen Honorar, also nicht gewerbsmäßig anbieten."


Dr. Alexis Fritz (geb. 1976 in Graz); Studium der Theologie und Philosophie in Innsbruck, Rom und Freiburg; Promotion in Freiburg über das Problem des naturalistischen Fehlschlusses; Leiter der Arbeitsstelle Theologie und Ethik im Deutschen Caritasverband.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 8, August 2012, S. 421-425
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2012