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ETHIK/1329: Medizinethikerin Claudia Bozzaro zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid im Februar 2020 (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 6, Juni 2021

"Die gesamte Botschaft hören"

von Prof. Dr. phil. Claudia Bozzaro


GASTBEITRAG. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat nicht nur in der Ärzteschaft eine Diskussion über die Folgen ausgelöst. Prof. Dr. phil. Claudia Bozzaro, Leiterin des Arbeitsbereichs Medizinethik an der Kieler Christian-Albrechts-Universität, beschreibt in einem Gastbeitrag für das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt, wie sie das Urteil einordnet.


Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Urteil vom 26. Februar 2020 die "Sterbehilfe-Debatte" in neuem Licht gedeutet. Das Urteil verweist darauf, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben umfasse. Dieses wiederum schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Beweggründe für diese Entscheidung seien, sofern sie einen Akt autonomer Selbstbestimmung darstellen, von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Darüber hinaus umfasse die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, auch die Freiheit, sich hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und diese Hilfe, soweit sie angeboten werde, auch in Anspruch zu nehmen. Das bedeutet im Klartext, dass auch ein gesunder, junger Mensch grundsätzlich ein Recht auf Inanspruchnahme von Hilfe beim Suizid seitens Dritter hat.

Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob und ab wann sich eine Ärztin bzw. ein Arzt als Ärztin oder Arzt angesprochen fühlen sollte, einer Anfrage zur Hilfe beim Suizid zuzustimmen. Diese Frage möchte ich aufgreifen mit Blick auf zwei Szenarien:


Anfragen gesunder suizidwilliger Menschen

Mit Blick auf die Musterberufsordnung § 2 (2) ergibt sich bezüglich autonomer Suizidwünsche gesunder Menschen ein klares Bild: Solche Wünsche sollten nicht Gegenstand ärztlichen Tuns sein, denn ihnen mangelt jegliche Verbindung zu den Zielen und Aufgaben der Medizin. Die Ärzteschaft sollte sich nicht für Belange außerhalb ihres Kernauftrags instrumentalisieren lassen.

Das Argument, dass Ärztinnen und Ärzte diejenigen sind, die aufgrund ihrer spezifischen Expertise am besten vorbereitet seien, Menschen bei ihrem Suizid zu assistieren, scheint mir dabei nicht einsichtig. In der Schweiz ist seit vielen Jahren eine Suizidhilfepraxis bekannt, in der Ärztinnen und Ärzte zwar als Gutachter zur Feststellung der Urteilsfähigkeit des Sterbewilligen und als Gatekeeper für das Natriumpentobarbital fungieren, bei der sie aber nur bedingt in die Hilfeleistung beim Suizid selbst involviert sind. Hier besteht offensichtlich durchaus Spielraum, um den Anforderungen des BVerfG zu entsprechen, auch ohne die Ärzteschaft an entscheidender Stelle in die Pflicht zu nehmen.


Anfragen kranker suizidwilliger Menschen

Schwieriger gestaltet sich die Frage nach dem Umgang mit Anfragen um Beihilfe zum Suizid von Menschen, die krank sind und unter ihrer Situation schwer leiden. Hilfeleistung im Fall von Krankheit und Leiden ist genuiner Bestandteil des ärztlichen Auftrags und des ärztlichen Ethos. Allerdings ist die Frage, ob die Linderung eines Krankheits- bzw. Leidenszustands durch Hilfe zum Suizid geschehen solle, eine ethisch schwierige. Letztlich hängt sie von der Frage der moralischen Bewertung des Suizids selbst ab. Da dieses Urteil in einer pluralistischen Gesellschaft durchaus unterschiedlich ausfällt, bleibt es in diesem Fall letztlich bei einer Gewissensentscheidung des einzelnen Arztes oder der einzelnen Ärztin. Daher ist es richtig und wichtig, dass im Urteil des BVerfG explizit unterstrichen wird, dass niemand zur Beihilfe zum Suizid verpflichtet werden darf. Die Ärzteschaft muss dafür Sorge tragen, dass dieser Freiraum für Gewissensentscheidungen gewährleistet ist und bleibt.

Dies vorausgesetzt, sollte aus meiner Sicht Folgendes bedacht werden:

• Ärzte sollten darin unterstützt werden, eine eigene, moralisch fundierte und reflektierte Haltung zu entwickeln, um sich in der Konfrontation mit Anfragen nach Hilfe zum Suizid orientieren zu können. Dafür ist es unerlässlich, Reflexions- und Diskussionsräume in Bezug auf so grundlegende Fragen wie den Umgang mit Leiden, Krankheit und Tod und deren Stellenwert im Leben zu gewährleisten. Diese Anstöße sollten im Studium beginnen und im weiteren Verlauf des Berufslebens immer wieder ermöglicht werden. Dieses sollte nicht als ein privates Anliegen, sondern als berufliche Aufgabe verstanden sein und durch entsprechende Fortbildungsangebote, aber auch über Supervisions- und Beratungsangebote sichergestellt werden.

• In Anbetracht der Entwicklungen in anderen Ländern ist davon auszugehen - unabhängig davon, welche Regelung das Bundesparlament finden wird - dass Ärztinnen und Ärzte in Deutschland in Zukunft vermehrt Anfragen um Hilfe zum Suizid von Menschen erhalten werden, die sich beispielsweise mit Ängsten vor einer demenziellen Erkrankung, Pflegebedürftigkeit oder einem isolierten Leben konfrontiert sehen. Diese Menschen werden auf ihr Leiden durch diese Ängste verwiesen, für das sie sich, auch wenn es nicht unmittelbar krankheitsbedingt ist, ärztliche Hilfe erwarten und erhoffen. Hier ist frühzeitig eine Diskussion in der Ärzteschaft und in der breiten Öffentlichkeit zu führen, wie gesellschaftliche Versorgungsstrukturen ausgestaltet werden können und sollten, damit Menschen überhaupt nicht in die Situation geraten, aufgrund ihrer Ängste, ihres Alters oder ihrer Einsamkeit oder sozialen Isolation einen Suizidwunsch zu entwickeln. Es mag den autonomen, rational wohlüberlegten Bilanzsuizid geben, aber es gibt auch sozial und gesellschaftlich bedingte Zustände, die Menschen faktisch in Situationen führen, in denen der Suizid der einzige Ausweg zu sein scheint. Sich als Gesellschaft damit zufriedenzugeben, die Freiwilligkeit des Suizids festzustellen, wäre nicht nur zynisch, sondern eine Gefahr zunächst für vulnerable Menschen und letztlich für die gesamte Gesellschaft.

Eine abschließende Bemerkung: Der Fokus des Bundesverfassungsgerichtsurteils auf der Selbstbestimmung mag prinzipiell berechtigt sein, doch zugleich muss auch deutlich gemacht werden, dass Autonomie und Selbstbestimmung nicht solipsistisch zu verstehen sind. Anders gesagt: Menschen leben, handeln und entscheiden in Lebenskontexten, welche sie mit anderen Menschen teilen und gemeinsam gestalten. Menschen entwickeln ihre Persönlichkeit und Autonomie in Beziehung zu und in Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Menschen, die einen anderen um Hilfe bitten, und sei es um Assistenz beim Suizid, gehen auf diese Weise eine Beziehung ein. Eine Antwort auf solche Anliegen, sei es durch Ärztinnen und Ärzte, sei es durch die Gesellschaft, kann und darf sich nicht darauf beschränken, die Freiwilligkeit des Suizidwunsches zu eruieren und zu attestieren. Sie muss bereit sein, die gesamte Botschaft zu hören und die Gesellschaft für alle menschlich zu gestalten.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 6, Juni 2021
74. Jahrgang, Seite 14-15
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 13. Juli 2021

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