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ETHIK/693: Tote sterben nicht! Ein Nachruf auf die Italienerin Eluana Englaro (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 89 - 1. Quartal 2009
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Tote sterben nicht!

Von Stefan Rehder


Monatelang hat das traurige Schicksal der 38-jährigen Eluana Englaro ganz Italien in Atem gehaltenAuch in deutschen Medien wurde ausführlich über den Fall, der die Gemüter seit langem erhitzte, berichtet. Nun ist Eluana tot. Ein Nachruf.


Eluana Englaro ist tot. Die 38-jährige Italienerin, deren Schicksal die Herzen so vieler Menschen berührt hat, war am 9. Januar 2009 gestorben, vier Tage nachdem Ärzte die Versorgung der Wachkoma-Patientin mit Nahrung und Flüssigkeit schrittweise eingestellt hatten.

Für ihre Eltern war Eluana da längst tot. »Für uns, für mich und meine Frau, ist unsere Tochter am Tag des Unfalls gestorben«, sagt Eluanas Vater Beppino Englaro. Ein Tag, der lange zurückliegt. Vor 17 Jahren, am 18. Januar 1992, war Eluana mit ihrem Auto, kurz nach ihrem 21. Geburtstag, auf eisglatter Straße von der Fahrbahn abgekommen und frontal gegen eine Mauer geprallt.

Schwerstverletzt wurde die junge Frau in ein Krankenhaus gebracht, dessen Ärzte sie nur in ein Wachkoma retten konnten. Seitdem musste sie, unfähig, mit ihren Eltern zu kommunizieren, künstlich ernährt werden. Welches Leid dies für die Eltern bedeutet, kann man versuchen, sich vorzustellen. Ermessen kann man es wohl nicht.

17 Jahre, in denen ein Mensch, für andere erkennbar, lediglich atmet, schläft, wacht, künstlich zugeführte Nahrung verdaut und altert, sind eine lange Zeit.

Das gilt selbst für die Liebe, die kein Echo findet. Niemand hat daher das Recht, den Stab über Eluanas Vater zu brechen, der seit Jahren darauf drängte, die künstliche Ernährung seiner Tochter einzustellen. Gleichwohl gilt auch: Dass ein Wunsch nachvollziehbar ist, macht ihn noch lange nicht richtig. Es mag sein, dass die Vorstellung, ihre Tochter sei am 18. Januar 1992 gestorben, Eluanas Eltern das Leben mit dem Schicksal ihrer Tochter erleichtert hat, ja, vielleicht war es für sie sogar der einzige Weg, dieses Leben noch zu bewältigen.

Und doch war es eine Scheinwelt, in der sich Eluanas Eltern aufgehalten haben. Denn ihre Tochter starb nicht am Unfalltag. Tote sind tot und können daher nicht - wie die Autopsie ergab - erst 17 Jahre später an einem Herzstillstand in Folge von Flüssigkeitsmangel sterben.

Was dem Einzelnen erlaubt sein mag - nämlich so lange in einer Scheinwelt zu leben, wie er andere dadurch nicht beeinträchtigt - kann für eine Gesellschaft als Ganze verheerende Folgen haben.

Welche, darüber muss nun gestritten werden. Vor allem gilt es zu klären, ob und gegebenenfalls wann die künstliche Ernährung eine Behandlung ist, die man, wie jede andere Behandlung, die keinen Erfolg zeigt, einstellen kann, oder ob es sich dabei lediglich um eine Form normaler Pflege handelt, die jedem Menschen geschuldet ist, der darauf angewiesen ist, und deren Aussetzung daher unmenschlich und moralisch nicht zu tolerieren ist.

Der Standpunkt, den die katholischen Kirche hier vertritt, ist klar und wurde aus gegebenen Anlass in der vergangenen Ausgabe (vgl. LebensForum Nr. 88, S. 23ff.) ausführlich dokumentiert. Nicht, weil es sich um den Standpunkt der katholischen Kirche handelt, sondern weil er in sich schlüssig und überdies gut begründet ist.

Danach »ist und bleibt ein Mensch immer ein Mensch und wird nie zur Pflanze oder zum Tier, selbst wenn er schwerkrank oder in der Ausübung seiner höheren Funktionen behindert ist«.

Weil das so ist, schuldet eine Gesellschaft solchen Menschen alles, was sie anderen Menschen auch schuldet. Und da es niemandem erlaubt ist, einen anderen Menschen verhungern und verdursten zu lassen, ist es nach Auffassung der katholischen Kirche auch nicht erlaubt, einem Koma-Patienten die Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung zu verweigern. Wer dies dennoch tut, der tötet einen solchen Menschen durch Unterlassen.

Einzige Ausnahme sind die »seltenen Fälle«, in denen die künstliche Ernährung und Wasserversorgung dem »Patienten eine übermäßige Belastung oder ein erhebliches physisches Unbehagen« bereiten. Dies kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn jemand, dessen Sterbeprozess bereits begonnen hat, weiter künstlich ernährt wird, obwohl sein Organismus die aufgenommene Nahrung gar nicht mehr verarbeiten kann.

Solche »außergewöhnlichen Fälle« beeinträchtigen nach Auffassung der katholischen Kirche »jedoch in keiner Weise das allgemeine Prinzip, gemäß dem die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch wenn sie auf künstlichem Wege erfolgt, immer ein natürliches Mittel der Lebenserhaltung und nicht eine therapeutische Behandlung darstellt. Ihre Anwendung ist deshalb als gewöhnlich und verhältnismäßig zu betrachten, auch wenn der 'vegetative Zustand' andauert.«

Bei Eluana Englaro hat dieser Zustand 17 Jahre angehalten. Und er hätte wohl noch länger gedauert, wenn er nicht aktiv beendet worden wäre. Doch auch dann wäre aus dem Menschen, der Eluana Englaro war, nicht einfach ein Tier oder eine Pflanze geworden. Sie wäre auch dann geblieben, was sie durch den tragischen Unfall vom 18. Januar 1992 wurde: Eine schwerstkranke Frau, die unfähig war, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren.

Am 9. Januar 2009 ist Eluana Englaro daher auch nicht einfach gestorben. Eluana Englaro ist gestorben, weil sie getötet wurde. Getötet durch Unterlassen, weil man aufhörte, ihr das zu geben, was ihr zustand, und was wir, die wir von einem solchen Schicksal verschont geblieben sind, ihr bis zu ihrem natürlichen Tod geschuldet hätten.

Daher haben die Richter des italienischen Kassationsgerichtes tatsächlich ein Todesurteil unterschrieben, als sie ihre Namen unter das von Eluanas Vater erwirkte Urteil setzten, das es »erlaubte«, die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr bei Eluana auszusetzen. Daher hat sich der italienische Staatspräsident geweigert, dieses Todesurteil aufzuheben, als er sich sperrte, ein Eildekret zu unterzeichnen, mit dem die Absetzung der künstlichen Ernährung noch in letzter Minute hätte verhindert werden können. Und daher haben die Ärzte des Pflegeheims in Udine, in das Eluana Englaro verlegt wurde, dieses Todesurteil vollstreckt, als sie ihr schrittweise Nahrung und Flüssigkeit entzogen.

Das ist schockierend. Nicht etwa, dass ein Vater sich systematisch über den Zustand seiner Tochter betrogen hat, weil es ihm unerträglich war, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Schockierend ist es deshalb, weil weder die Richter des Kassationsgerichtes noch Staatspräsident Giorgo Napolitano noch die Ärzte in Udine Eluana Englaro 17 Jahre lang ohne Echo lieben mussten. Sie alle haben nicht erleben müssen, dass dies ihre Kräfte überstieg. Sie konnten distanziert, nüchtern und professionell darüber urteilen, was im Fall der Wachkoma-Patientin zu geschehen habe.

Doch was am meisten schockiert, ist, dass sie genau das getan haben. Sie haben entschieden, dass das Leben eines Menschen, der »nur« atmet, schläft, wacht, die künstlich zugeführte Nahrung verdaut und älter wird, nicht den Aufwand wert ist, den andere 17 Jahre lang - angetrieben von der Nächstenliebe und im Wissen darum, dass der Mensch nicht Herr über Leben und Tod ist - betrieben haben. Sie haben entschieden, dass ein Mensch, der für andere überhaupt nichts mehr leisten kann, auch keinen Anspruch auf ein Bett, Nahrung, Flüssigkeit, Zuwendung und auf unsere Solidarität hat. Sie haben entschieden, dass ein Mensch, der lebt, physisch dann zu sterben hat, wenn er in den Herzen seiner nächsten Angehörigen gestorben ist.

All das haben sie entschieden und damit dafür gesorgt, dass Humanität nur noch ein Wort ist. Eines ohne jeden Inhalt.

Eluana Enlargo ist tot. Getötet von Menschen, für die nur derjenige zählt, der auch etwas zu leisten vermag. Nun gilt es zu verhindern, dass Vergleichbares auch in Deutschland geschieht.


IM PORTRAIT

Stefan Rehder, M.A.
Geb. 1967, ist Journalist, Buchautor und Leiter der Rehder Medienagentur in Aachen. Er studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie in Köln und München, schreibt für Tageszeitungen und Magazine (u.a. »Die Tagespost«), ist Redaktionsleiter des LebensForum und hat mehrere Bücher verfasst (u.a. »Gott spielen. Im Supermarkt der Gentechnik«, München 2007). Stefan Rehder ist verheiratet und Vater von drei Kindern.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Ihr Schicksal hat Italien und die Welt bewegt: Eluana Englaro vor ihrem Unfall vor 17 Jahren.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 89, 1. Quartal 2009, S. 4-5
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2009