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ETHIK/792: Auf eigene Rechnung - Gegen Neuro-Enhancement läßt sich schwer argumentieren (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 127/März 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Auf eigene Rechnung
Gegen Neuro-Enhancement lässt sich schwer argumentieren

Von Wolfgang van den Daele


Die Neurowissenschaften konfrontieren uns nicht nur mit beunruhigenden neuen Techniken. Sie konfrontieren uns auch mit beunruhigenden neuen Wahrheiten. Offenbar werden Geist, Seele und Person des Menschen stärker vom Gehirn gesteuert, als wir auf der Basis des überkommenen Menschenbilds wahrhaben möchten. Was wir denken, fühlen oder wollen, kann nicht nur durch kulturelle Techniken beeinflusst werden, die auf Verstehen und Reflexion beruhen, sondern auch durch physische Techniken. Diese wirken gewissermaßen am Ich des Menschen vorbei, durch Implantate im Gehirn, durch die chemische Modulation des Hirnstoffwechsels, vielleicht auch durch Eingriffe ins Genom. Dies sind jedenfalls die Optionen, auf die das Neuro-Enhancement setzt.

Neuen Wahrheiten kann man nicht ausweichen. Erkenntnis lässt sich nicht wieder aus der Welt schaffen. Neuen Techniken dagegen kann man ausweichen - etwa durch Verbote. Allerdings lässt sich so allenfalls verhindern, dass Optionen der Gehirnmanipulation genutzt werden - nicht aber, dass sie entstehen. Die Frage "Wollen wir das wirklich können?" setzt früher an. Sie klingt, als gäbe es eine radikale, klare Antwort - das aber weckt nur Illusionen. Es gibt keinen politischen Ort, von dem aus sich der globale Prozess wissenschaftlichen Erkenntniszuwachses so steuern lässt, dass dies der Entstehung unerwünschter technischer Möglichkeiten vorbeugt. Selbst wenn die Förderung der Hirnforschung komplett eingestellt oder diese Forschung verboten würde, gäbe es keine Sicherheit, dass weitere Optionen zur Manipulation des menschlichen Gehirns nicht andernorts in der biologischen Grundlagenforschung entstehen oder sich als "Spin-off" medizinischer Praxis ergeben. Dass wir, wenn wir nur wollten, kollektiv darüber entscheiden könnten, "was wir können wollen", ist ein Irrtum.

Dagegen kann und muss sehr wohl kollektiv festgelegt werden, ob und wie von verfügbaren technischen Optionen Gebrauch gemacht werden darf. Es versteht sich von selbst, dass man Menschen nicht ohne ihre Einwilligung einen Chip ins Gehirn pflanzen oder sie mit Psychopharmaka behandeln darf, um ihr Verhalten zu optimieren. Ebenso wenig dürfen sie gegen ihren Willen Testverfahren ausgesetzt werden, um ihr Gehirn aus der Distanz auszuforschen. Dies wäre schon nach geltendem Recht eine schwerwiegende Persönlichkeitsverletzung. Die zentralen ethischen Probleme des Neuro-Enhancement liegen aber jenseits solcher klaren Missbrauchsszenarien: Sollten wir nicht grundsätzlich darauf verzichten, Neuro-Enhancement zu nutzen? Und gibt es gute Gründe, diesen Verzicht gesellschaftsweit zu erzwingen?

Es ist nicht wahrscheinlich, dass in modernen Gesellschaften die Optionen des Neuro-Enhancements sich dadurch erledigen, dass die Menschen sie einfach nicht nutzen. Zwar ist ein Unbehagen an Manipulationen am Gehirn weit verbreitet. In einer Eurobarometer-Umfrage von 2005 lehnen 54 Prozent der Befragten Gehirnimplantate zur Steigerung der Gedächtnisleistung strikt ab, nur 6 Prozent befürworten sie uneingeschränkt. Aber das bedeutet wenig. Bei einem medizinisch indizierten Einsatz von Neurotechniken, um gegen krankheitsbedingte kognitive oder emotionale Leistungsverluste und Verhaltensstörungen anzugehen, würde sich der Widerstand zweifellos verflüchtigen. Dasselbe dürfte gelten, wenn altersbedingte Funktionseinschränkungen kompensiert werden können. In diesen Bereichen aber werden die neuen Techniken - sollte es sie je geben - zuerst erprobt, eingeübt und als legitime Option in der Gesellschaft etabliert werden.

Am Neuro-Enhancement für Gesunde scheiden sich die Geister. Eine stabile Mehrheit mag dagegen sein. Die Frage ist nur, ob sie gute Gründe hat, die Befürworter davon abzuhalten, für sich selbst davon Gebrauch zu machen. Die drei häufigsten Argumente gegen das Neuro-Enhancement sind: Es verletze den Respekt vor der Integrität der menschlichen Natur, es zerstöre die Authentizität der Person, es führe zu sozialer Ungerechtigkeit, indem es unfaire Vorteile im gesellschaftlichen Wettbewerb verschaffe. Mit allen drei Argumenten gerät man in erhebliche Begründungsnot.

Es ist leicht, moralischen Widerstand gegen technische Eingriffe in die menschliche Natur zu mobilisieren, die uns intuitiv als monströs oder abartig erscheinen. Solche Intuition lässt sich vielleicht den sogenannten Transhumanisten entgegenhalten, die davon träumen, das menschliche Gehirn mit ungeheuren zusätzlichen Rechenkapazitäten auszustatten oder mit der Fähigkeit, Infrarotlicht wahrzunehmen.

Jenseits solcher Sciencefiction aber erweisen sich moralische Intuitionen, die Respekt vor der Unverletzlichkeit der menschlichen Natur einfordern, als unsicher und instabil. Vor allem medizinische Zwecke haben am Ende immer gerechtfertigt, Grenzen zu überschreiten - auch wenn dies zunächst als Tabubruch erschien. Erinnert sei an Herztransplantationen oder In-vitro-Befruchtungen. Implantate von Elektroden oder Computerchips im Gehirn sind gewiss unnatürlich. Sie sind gleichwohl zweifellos legitim, um das Leiden der Betroffenen zu lindern oder zu verhindern. Neuro-Enhancement kann jedenfalls nicht deshalb moralisch geächtet werden, weil die zugrundeliegenden Techniken die menschliche Natur verändern.

Das Argument des Authentizitätsverlusts macht geltend, dass Menschen ihr wahres Selbst verfehlen und ihre Identität verraten, wenn sie ihr Gehirn manipulieren und Neuroprothesen nutzen, um ihre intellektuellen Leistungen oder ihre sozialen Beziehungen zu verbessern oder ihre Gefühle zu steuern. Es sind Fälle denkbar, in denen eine solche Kritik gerechtfertigt ist - etwa, wenn jemand sich der Trauer über den Tod eines geliebten Menschen oder der Arbeit an einer zerrütteten Beziehung einfach entzieht, indem er Psychopharmaka nimmt. Eigentlich aber gibt es in unserer Kultur keine Grundlage, um die Authentizität eines Menschen oder seines Lebens von außen zu beurteilen. Authentizität ist keineswegs belanglos, im Gegenteil: Selbstfindung und Selbstverwirklichung sind Daueraufgaben des modernen Menschen geworden. Kollektive Leitbilder und religiöse oder moralische Normen, die ein festgefügtes Ethos der Lebensführung vorgeben und Sinnfragen gar nicht erst aufkommen lassen, haben nämlich ihre normative Kraft weitgehend eingebüßt. Letzten Endes muss jeder für sich selbst entdecken und bestimmen, was er in Wahrheit ist oder sein will. Daher erscheint jedes Urteil darüber als Anmaßung, ob jemand, der sich durch Neuro-Enhancement mit veränderten Eigenschaften und Fähigkeiten ausstattet, noch authentisch sein kann.

Selbstbestimmung ist andererseits keine Blankovollmacht, die eigenen Interessen und Ziele ohne Rücksicht auf die Kosten durchzusetzen. Sie kann eingeschränkt werden - vorausgesetzt diese Einschränkungen sind geboten, um zu verhindern, dass die Rechte anderer verletzt oder wichtige Gemeinschaftsgüter geschädigt werden. Allerdings darf bezweifelt werden, ob diese Voraussetzungen bei den in der ethischen Debatte gegen das Neuro-Enhancement ins Spiel gebrachten Folgeszenarien erfüllt sind.

So wird beispielsweise geltend gemacht, die Verbreitung von Neuro-Enhancement werde das Spektrum dessen nachhaltig verschieben, was individuell und gesellschaftlich als Leistung geschätzt wird. Das wird passieren. Tatsächlich ist es keine Eigenleistung mehr, sozialwidrige Handlungsimpulse zu kontrollieren, wenn dies der pharmakologischen Aufrüstung des Gehirns zu verdanken ist - und nicht moralischer Anstrengung. Und wenn ein Mensch sich (was Sciencefiction ist) Fremdsprachenkompetenz buchstäblich einverleiben könnte, indem er sein Gehirn mit einem Übersetzungs-Chip kurzschließt, würde diese sprachliche Kompetenz schlagartig banal. Aber solche Verschiebungen sind in modernen Gesellschaften, die durch ein schnelles Innovationstempo charakterisiert sind, ohnehin vorprogrammiert. Mit Einführung des CAD (Computer Aided Design) verloren die Leistungen des traditionellen technischen Zeichnens ihren Wert. Fortan fielen sie als Ressource beruflicher Karriere weg. Solche Veränderungen müssen die Betroffenen ertragen. Es gibt kein Mandat der Politik, das, was gegenwärtig als Leistung gilt, vor Entwertung in der Zukunft zu schützen.

Der häufigste Einwand gegen Neuro-Enhancement ist der eines Verstoßes gegen die soziale Gerechtigkeit. Neuro-Enhancement verschaffe den Befürwortern und Nutzern Vorteile im schulischen oder beruflichen Wettbewerb gegenüber jenen, die es ablehnen oder es sich nicht leisten können. Kurzum: Gehirndoping sei so unfair wie Doping im Leistungssport. Unsere moralischen Urteile darüber, was hier fair und sozial gerecht ist, sind jedoch unsicher und inkonsistent. Denn es erregt keinen Anstoß, wenn ein Mensch sich einen Wettbewerbsvorteil durch besonders qualifizierte Vorbereitung, also gewissermaßen durch ein Trainingslager verschafft. Der Zugang zum Trainingslager aber ist ein Privileg, keine eigene Leistung. Liberale Gesellschaften sind voll von Ungleichheit, die Ungleichheiten gebiert.

Selbst wenn in den formalen Bildungsgängen Chancengleichheit besteht, wird sozialer Status "vererbt": Es schlagen Vorteile durch, die ein Mensch aus dem vom Elternhaus repräsentierten kulturellen und sozialen Kapital zieht. Es ist also widersprüchlich, einerseits ein Verbot von Neuro-Enhancement zu fordern, damit die Schere der Ungleichheit im gesellschaftlichen Wettbewerb nicht weiter auseinandergeht, und anderseits hinzunehmen, dass jemand im Wettbewerb davonzieht, weil die Eltern ihn auf ein Elite-College geschickt haben. Sollten die möglichen Folgen für die Entwicklung gesellschaftlicher Ungleichheit ein ernsthaftes Bewertungskriterium werden, dürfte Neuro-Enhancement eigentlich nicht verboten, sondern müsste selektiv erlaubt werden - für Menschen aus bildungsfernen Schichten, die nicht schon durch ihre Erziehung Leistungsorientierung und -willen verinnerlicht haben. Natürlich ist das kein seriöser Vorschlag. Er macht aber deutlich, dass Kriterien der sozialen Gerechtigkeit keineswegs zu einem eindeutigen moralischen Verdikt des Neuro-Enhancements führen.

Eine ethische und politische Debatte über die Perspektiven des Neuro-Enhancement ist notwendig. Aber sie ist - abgesehen von klar zu definierendem Missbrauch - keine Debatte darüber, was moralisch und rechtlich verboten oder erlaubt sein sollte. In der Debatte muss es darum gehen, was die Menschen sein und in welcher Gesellschaft sie leben wollen. Die Vorstellungen darüber gehen in der Bevölkerung auseinander. Menschenbilder und Ideale der Lebensführung lassen sich unter einer liberalen Verfassung nicht mit rechtlichem Zwang durchsetzen. Wer dem Leistungs- und Optimierungswahn in modernen Gesellschaften entgegentreten will, muss die Ausbildungs- und Berufsstrukturen ändern. Das ist sicher nicht einfach. Aber niemand sollte glauben, es lasse sich etwas erreichen, indem stattdessen das Neuro-Enhancement verboten wird. Es gibt keine schwerwiegenden Gründe, durch kollektiven Zwang zu verhindern, dass Menschen die technischen Möglichkeiten des Neuro-Enhancement nutzen - nach eigener Entscheidung und auf eigene Rechnung, also gewissermaßen als Verbraucher. Man kann nur darauf bauen, dass sie selbst dabei Maß und Mitte finden.


Wolfgang van den Daele begann seine wissenschaftliche Laufbahn 1970 am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Von 1989 bis 2005 war er Direktor der WZBAbteilung "Normbildung und Umwelt" (von 2000 an "Zivilgesellschaft und transnationale Netzwerke") und von 1989 bis 2004 Professor für Soziologie an der FU Berlin. Von 2001 bis 2007 war er Mitglied des Nationalen Ethikrats.
daele@wzb.eu


Literatur
Wolfgang van den Daele
"Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement",
in: Deutscher Ethikrat (Hg.), Der steuerbare Mensch? Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn
(Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009), S. 107-114


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 127, März 2010, Seite 9-11
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2010