Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FAKTEN

ETHIK/834: Designtes Leben - Von der synthetischen Biologie bis zur Sterbehilfe (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 08/2010

Designtes Leben
Von der synthetischen Biologie bis zur Sterbehilfe

Von Johannes Reiter


Besonders an seinen Rändern gelangt das Leben unter Druck. Mit Hilfe präzis definierter genetischer Bausteine schaffen Forscher synthetisches Leben. Durch die Präimplantationsdiagnostik wird Leben in der Retorte erzeugt, ausgewählt und verworfen. Bei der Sterbehilfe wird der Tod nicht mehr angenommen, sondern zugeteilt. Wo liegen die ethischen Grenzen, die der Mensch nicht überschreiten darf?


Es war eine Weltsensation, als vor zehn Jahren das Erbgut des Menschen entschlüsselt wurde (vgl. HK, Mai 2000, 268). Erbittert hatten sich seit den neunziger Jahren zwei Rivalen einen Wettlauf um die Entschlüsselung des Erbgutes geliefert: das aus staatlichen Mitteln finanzierte internationale Humangenomprojekt (HUGO) unter der Leitung von Francis Collins und die Privatfirma Celera Genomics unter der Führung des Biochemikers Craig Venter. Beide vollendeten ihre Projekte fast gleichzeitig und konnten im Juni 2000 einen ersten Rohentwurf des menschlichen Genoms vorstellen, der in den darauf folgenden Jahren weiter verfeinert wurde. Die Menschheit könne nun die Sprache lesen, in der Gott das Leben erschaffen habe und werde eine neue, gewaltige Macht erhalten, die Diagnose, die Vorbeugung und die Behandlung der meisten, wenn nicht aller Krankheiten zu revolutionieren, verkündete im Weißen Haus der damalige US-Präsident Bill Clinton am 26. Juni 2000 den Durchbruch.

Nach einem Jahrzehnt zeigt sich allerdings, dass die angekündigte Revolution eher ein langfristiges Unternehmen ist. Das erhoffte goldene Zeitalter der Medizin ist noch nicht angebrochen, obwohl etliche Milliarden in die Genomforschung gesteckt wurden. Für den Großteil der Menschen habe die Kenntnis des Genoms "noch keine direkte Wirkung auf die medizinische Behandlung" entfaltet, räumte der Leiter des staatlichen US-Gesundheitsinstituts NIH, Francis Collins, kürzlich in dem Fachmagazin "Nature" ein. "Die medizinischen Anwendungen bleiben bis heute bescheiden, auch wenn es mehrere Fortschritte gab."


Die Medizin-Revolution braucht Zeit

Zu den Erfolgen zählt Collins bestimmte Behandlungen gegen Krebs, die auf zentrale Funktionen des Tumors zielen. Darüber hinaus gibt es Gentests, die anzeigen, wie Patienten aufgrund ihrer Erbanlagen auf bestimmte Medikamentengruppen reagieren. Ein Gentest, der eine Anfälligkeit für Herzkrankheiten vorhersagen sollte, hat dagegen nicht überzeugen können. Den eigentlichen Start einer "personalisierten Medizin", die also die Besonderheiten im Erbgut des konkreten Patienten berücksichtigt, werde es laut Collins in drei bis vier Jahren geben. Viele Forscher sind inzwischen jedoch skeptisch geworden und gehen, wie eine durch "Nature" Mitte Juni 2010 veröffentlichte Umfrage zeigt, davon aus, dass die in der Medizin erhoffte Revolution noch mehrere Jahrzehnte auf sich warten lasse.

Große Fortschritte zeigen sich aber jetzt schon in der Biologie wie auch in der Medizin durch die gesunkenen Kosten der Genomanalyse. Das Humangenomprojekt kostete vor zehn Jahren noch drei Milliarden Dollar. Inzwischen bieten Unternehmen die Entschlüsselung bereits für 5000 bis 6000 Dollar pro Mensch an - sie brauchen dafür nicht mehr Jahre, sondern nur noch einen Tag.

Von dieser aus der Gentechnologie herkommenden Entwicklung profitiert der neueste Zweig der modernen Biologie: die synthetische Biologie. Gemeint ist mit der synthetischen (künstlichen) Biologie eine Forschungsrichtung, in der Biologen, Chemiker und Ingenieure mit der Absicht zusammenarbeiten, neue Lebensformen herzustellen, die in der Natur nicht vorkommen, wofür inzwischen auch die Metapher "Leben 2.0" steht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft definiert wie folgt: Synthetische Biologie ist "Design und Zusammenführung von synthetischen biologischen Einheiten, wobei nicht nur angestrebt wird, einige der charakteristischen Merkmale eines Organismus zu verändern, sondern gezielt darauf hingearbeitet wird, neue Systeme zu erschaffen, deren Eigenschaften hauptsächlich vom Menschen entworfen werden. Dabei geht es vor allem um die Übertragung der biologischen Analysen hin zum synthetischen System. Der Biologe wird damit zum Designer neuartiger Moleküle, ganzer Zellen, bis hin zu Geweben und Organismen".

Im Unterschied zur Gentechnik werden nicht nur zum Beispiel einzelne Gene vom Organismus A zum Organismus B transferiert, sondern das Ziel der synthetischen Biologie ist es, komplette künstliche biologische Systeme zu erzeugen. Diese Systeme sind der Evolution unterworfen, können aber bis zu einen gewissen Grad "mutationsrobust" gemacht werden. Bisherige Gentechnologie manipulierte nur den fertigen Körper. Jetzt wird aber ein Entwurf des Menschen selbst möglich. Eine grundlegende Veränderung des Menschen, auch eine maßlose Entfremdung von sich selbst, erscheint machbar.


Die Möglichkeiten der synthetischen Biologie scheinen fast unbegrenzt und könnten der Anfang einer neuen, milliardenschweren Industrie sein, die sich aus der Ressource Leben bedient. Unter anderem sollen durch sie neuartige Möglichkeiten für die Entwicklung von neuen und verbesserten Diagnostika, Impfstoffen und Medikamenten eröffnet werden. Ebenso ist der Einsatz für Biosensoren, Wasserstoffzellen, neuartige Zellbiofabriken, neue Biomaterialien und Biobrennstoffe (zum Beispiel Produktion von Ethanol und Wasserstoff) denkbar. Anwendungen erstrecken sich weiterhin auf den Einsatz von Mikroorganismen zur Umweltsanierung, auf die Entwicklung programmierbarer Zellen oder die Gewinnung synthetischer Viren in der Gentherapie oder neuartige Lebensmittelinhaltsstoffe.

Ethisch stellt einen die synthetische Biologie vor manche Fragen, die zum Teil auch schon bei der Diskussion um die Gentechnologie gestellt worden sind: Darf man mit lebenden Mikroorganismen wie ein Ingenieur basteln? Welche Verantwortung trägt der Schöpfer künstlichen Lebens? Wie steht es um die Risiken solchen Tuns? Und: Was heißt überhaupt Leben? Und welches Verständnis von Leben hat die synthetische Biologie? Ist Leben nur das, was wir unter dem Mikroskop sehen können, oder der Prozess, der sich selbst erhält? Oder ist das Leben, das die synthetische Biologie schafft, doch nur ein Produkt, letztlich eine lebendige Maschine?


Neben den potenziell positiven Verwendungsmöglichkeiten der synthetischen Biologie müssen auch die potenziell negativen Auswirkungen berücksichtigt werden. In den USA und teilweise in Großbritannien wird diesbezüglich vor allem das mögliche Missbrauchspotenzial durch (Bio-)Terroristen diskutiert, was vor allem im Zusammenhang mit dem so genannten Kampf gegen den Terror gesehen wird. Beispielsweise hat die Sequenzierung pathogener Viren (Spanische Grippe, Polio) zu einer heftigen Diskussion geführt, ob und wie die Synthese pathogener Genome eingeschränkt werden kann, um einen Missbrauch zu verhindern. In Europa dreht sich die Diskussion weniger um Bioterrorismus als um Fragen der unbeabsichtigten Freisetzung der neuen Organismen und ihre Auswirkung auf die Gesundheit und Umwelt, sowie um die Patentierung.

Das EU-Projekt "SYNBIOSAFE: Safety and ethical aspects of synthetic biology" soll die Debatte zu diesem Thema stimulieren, lenken und sicherheitsrelevante und ethische Aspekte der synthetischen Biologie beleuchten. Ein Teil des Projekts ist die Anregung einer öffentlichen Diskussion zu Fragen der Ethik, Sicherheit (Unfälle, aber auch Terrorismus), über geistiges Eigentum, Regulierung, öffentliche Wahrnehmung und Kommunikation.


Spielen wir Gott?

Der berühmteste Forscher auf dem Gebiet der synthetischen Biologie ist der schon oben genannte Craig Venter, der maßgeblich an der Entschlüsselung des menschlichen Genoms beteiligt war. Als er am 20. Mai 2010 sein neues Projekt vorstellte, hat er weltweit für Schlagzeilen gesorgt und die Zeitungen und Magazine titelten: "Ein erster Hauch künstlichen Lebens" (Zeit online), "Design des Lebens" (Westdeutsche Allgemeine Zeitung), "Craig Venter spielt Schöpfer" (Frankfurter Rundschau), "Schöpferische Experimente" (Süddeutsche Zeitung), "Homo creator" (Der Tagesspiegel), "Zusammen Gott spielen" (Focus), "Wir sind Gott" (Welt am Sonntag). Was war geschehen? Craig Venter hatte eine Kostprobe oder besser, ein erstes Kabinettstück aus der synthetischen Biologie geliefert. Venter und seine Kollegen bauten alle natürlichen Gene des Bakteriums Mycoplasma mycoides (das Bakterium verursacht bei Rindern eine sehr ansteckende Lungenseuche) nach und setzten dieses künstliche Erbgut in eine andere Bakterienart ein. Das künstliche Genom übernahm die Regie, die Wirtszelle arbeitet nach der Instruktion des Gastgenoms (vgl. Science, Online-Veröffentlichung vom 20. Mai 2010).

Was bedeutet Craig Venters neuestes Schaffenswerk? Es ist nicht das Ursuppen-Experiment, von dem viele träumen: jener Versuch der Rekonstruktion der Ereignisse vor 15 Milliarden Jahren, die zur Entstehung des Lebens führten. Aber es geht doch um einen Meilenstein in der Geschichte der synthetischen Biologie. Genauer: Es geht um ein wegweisendes Experiment mit den Bausteinen unserer DNA namens A, T, G, C. Die Kürzel stehen für die Moleküle Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin, die Basen der DNA. Venters erster künstlicher Organismus ist aus einer Abfolge von rund einer Million AT- und GC-Paaren am PC entstanden. Eine Maschine hat aus diesem Bauplan das künstliche DNA-Molekül erschaffen. Die am Ende entstandene bakterielle Zelle ist zwar noch weit davon entfernt, ein Organismus zu sein, der nach den Wünschen der Forscher arbeitet, und es ist auch kein komplett neues Lebewesen - aber eine lebensfähige synthetische Zelle, die sich sogar selbstständig vermehren kann.


Der Bundesgerichtshof erlaubt Embryonenauswahl

Die bei dem Genom-Projekt eingesetzten gentechnischen Methoden unterscheiden sich nicht von denen, die bei der Präimplantationsdiagnostik, der Untersuchung des durch In-vitro Fertilisation entstandenen Embryos, eingesetzt werden. Unterschiedlich sind nur die Dimensionen. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) zur Entdeckung genetischer Schäden des Embryos ist nicht strafbar, heißt es in dem am 6. Juli 2010 verkündeten Urteil des 5. Strafsenats des Leipziger Bundesgerichtshofes (BGH), das bislang aber nur in einer Pressemitteilung des BGH dokumentiert ist. Die Leipziger Richter bestätigen damit ein Urteil des Berliner Landgerichts vom 14. Mai 2009 (vgl. HK, September 2009, 459).


Im aktuellen Fall hatte sich ein Berliner Arzt selbst angezeigt, der die PID bei drei Risikopaaren mit Kinderwunsch angewandt hatte. Ein Paar hatte bereits eine behinderte Tochter, beim zweiten hatte der Mann einen Gendefekt, der bei einem Kind zum Down-Syndrom hätte führen können und im dritten Fall hatte eine Frau wegen Erbgutveränderungen bereits Fehlgeburten erlitten. Der Arzt fand dann unter acht künstlich befruchteten Eizellen vier defekte, die er aussonderte. Die anderen pflanzte er den Frauen jeweils ein. Eine von ihnen wurde schwanger und brachte später ein gesundes Kind zur Welt.

Die Staatsanwaltschaft Berlin als Kläger ging davon aus, dass die Präimplantationsdiagnostik nach dem Embryonenschutzgesetz verboten sei. Die Richter des BGH folgten im Wesentlichen der Argumentation der Vorinstanz. Die Berliner Richter hatten argumentiert, dass der Arzt nicht entgegen, sondern gerade zur Herbeiführung einer Schwangerschaft gehandelt hatte. Der Vorbehalt der Paare, nur genetisch unbelastete Embryonen zu übertragen, stelle diese Primärabsicht nicht in Frage, so der BGH.


Gleichzeitig stimmten die Richter der Argumentation der Verteidigung zu. Demnach sei die rechtlich gestattete Untersuchung des Embryos nach der Einpflanzung in den Mutterleib mit erheblichen Risiken verbunden, während die Präimplantationsdiagnostik nach wissenschaftlichen Erkenntnissen risikofrei sei. Der Vorsitzende Richter betonte, mit dem Urteil seien schwere ethische Fragen verbunden. Es bleibe dem Gesetzgeber überlassen, ob er die Präimplantationsdiagnostik verbieten und damit strafbar machen wolle. Ob der BGH bei dem Urteil überhaupt ethische Erwägungen angestellt hat, bleibt zu bezweifeln, denn gegen die PID sprechen etliche starke ethische Argumente (vgl. etwa nur Adolf Laufs, Arztrecht, 6. völlig neu bearbeitete Auflage, München 2009, und Bruno Schmidt-Bleibtreu u.a., Kommentar zum Grundgesetz, 11. Auflage, Köln 2008).

Auffallend ist, dass der BGH ausschließlich die Interessen des Kinderwunschpaares gewichtet und die Schutzansprüche des Embryos vernachlässigt. Dagegen ist festzustellen, dass die PID mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Lebensrecht des Embryos (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) nicht zu vereinbaren ist.


Erzeugen - auswählen - verwerfen

Im Rahmen der PID werden gezielt menschliche Embryonen in vitro erzeugt unter dem Vorbehalt, sie zu verwerfen, wenn der genetische Test ergibt, dass das unerwünschte genetische Merkmal vorliegt. Hier ist daran zu erinnern, dass die Menschenwürde und das Lebensrecht, auch das des mit einer Krankheitsdisposition behafteten Embryos, zu achten sind. Die PID verstößt weiterhin gegen Paragraph 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG, wonach "ausnahmslos" verboten ist, "menschliche Eizellen zu einem anderen Zweck als der Herbeiführung einer Schwangerschaft (...) künstlich zu befruchten". Das in diesem Zusammenhang reklamierte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Frau, von der man nicht verlangen könne, sich einen kranken Embryo einpflanzen zu lassen, würde durch ein Verbot der PID nicht betroffen. Dieses Verbot würde nämlich bereits dessen Erzeugung erfassen.


Der in den gesetzlichen Grenzen der Paragraphen 218 f. StGB mögliche Schwangerschaftsabbruch ist kein rechtliches Argument für die Zulassung der PID. Zwischen dem straffreien Abbruch einer Schwangerschaft und dem Verbot der PID besteht kein Wertungswiderspruch. Die PID stellt auch keine Vorverlagerung der medizinischen Indikation dar. Beim Schwangerschaftsabbruch aufgrund der medizinischen Indikation handelt es sich um einen im Verlauf einer bestehenden Schwangerschaft eintretenden Konflikt zwischen dem Lebensrecht des Embryos und dem Recht der Mutter auf Leben und Unversehrtheit. Bei der PID handelt es sich hingegen um eine gezielt herbeigeführte Konfliktsituation vor Beginn einer Schwangerschaft, wobei die Entscheidung bereits vorab getroffen ist, den Embryo im Falle des unerwünschten Testergebnisses zu verwerfen.

Das von den Befürwortern vorgebrachte Argument, durch PID würden spätere Schwangerschaftsabbrüche verhindert, steht zumindest in Spannung zu den Empfehlungen der Ärzteschaft, nach PID zusätzlich eine Pränataldiagnostik durchzuführen, um eine möglichst hohe Sicherheit zu erhalten. Die PID ist zudem mit einer hohen Belastung für die Frau aufgrund der notwendigenIVF, einer nicht unerheblichen Zahl von Fehldiagnosen und einer relativ hohen Rate von Schädigungen der Kinder infolge von Mehrlingsschwangerschaften verbunden.


Die begrenzte Zulassung der PID ist, wie internationale Erfahrungen zeigen, zum Scheitern verurteilt. Eine Beschränkung auf so genannte Hochrisikopaare lässt einen zu großen Interpretationsspielraum. Ein - ebenfalls von den Befürwortern vorgeschlagener - Indikationenkatalog für die PID führt zu einer Stigmatisierung bestimmter Krankheitsbilder und, gewollt oder ungewollt, zu Lebenswertzuschreibungen. Es ist zu befürchten, dass mit einer Zulassung der PID der Rechtfertigungsdruck auf behinderte Menschen und deren Eltern weiter wächst. Die ethischen Alternativen zur PID bestehen in der Adoption, Pflegschaft oder im Verzicht auf Nachkommen. Diese Möglichkeiten sollten nicht schon von vornherein ausgeschlossen oder als unmenschliche Zumutung abgetan werden.


Grundsatzurteil zur Sterbehilfe mit weitreichenden Folgen

Die Möglichkeiten der modernen Medizin bestimmen nicht nur den Lebensbeginn, sondern auch dessen Ende und haben unsere Hoffnungen und Ängste, die wir mit dem Sterben verbinden, massiv beeinflusst und verändert. Die Entscheidung des BGH vom 25. Juni 2010 wird allgemein als Meilenstein der Rechtsprechung in Sachen Sterbehilfe gefeiert. Nach einer aktuellen repräsentativen mingle-Trend-Umfrage begrüßen 92 Prozent der Deutschen das Urteil, nur sieben Prozent der Befragten lehnen es ab. Die "Zeit" lobte ein "Urteil im Sinne der Menschenwürde", der "Focus" sieht das "Selbstbestimmungsrecht bei Sterbehilfe gestärkt", dem pflichten die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), ihrer bayerische Amtskollegin Beate Merk (CSU) und die EKD bei. Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben ist begeistert und der Humanistische Verband angetan. Nur die katholische Kirche, die Deutsche Hospiz-Stiftung, die Ärzteorganisation Marburger Bund und die Christdemokraten für das Leben sind zurückhaltend bis skeptisch. Während die evangelische Kirche das Urteil vor allem als Umsetzung der Patientenautonomie begrüßt, fürchtet die katholische Kirche eine Vermischung von verbotener aktiver und erlaubter passiver Sterbehilfe.

Die schriftliche Begründung des Urteils liegt noch nicht vor und daher ist bei der Interpretation Behutsamkeit angeraten. Man ist hierbei lediglich auf eine Pressemitteilung des BGH angewiesen, die neben dem Ergebnis (Freispruch des angeklagten Anwalts) nur wenig Sachverhalt und rechtliche Programmatik enthält. Der Fall, der dem BGH zur Entscheidung vorlag, geht auf das Jahr 2007 zurück: Die Tochter der damals 75-jährigen Erika K., die seit fünf Jahren im Wachkoma lag und in einem Pflegeheim versorgt wurde, hatte auf Anraten ihres Anwaltes Wolfgang Putz den Schlauch der Magensonde, mit dem die Patientin künstliche ernährt wurde, durchtrennt.

Vorangegangen war eine längere Auseinandersetzung zwischen der Familie der Patientin und der Pflegeheim-Leitung, die einen schon ausgehandelten Kompromiss revidierte und anordnete, die künstliche Ernährung wieder aufzunehmen. Es sei aber, so die Tochter Elke G., der mündlich geäußerte Wunsch ihrer Mutter gewesen, in einer solchen Situation in Würde sterben zu können und nicht weiter intensivmedizinisch versorgt zu werden. Eine schriftliche Verfügung lag nicht vor.

Das Landgericht Fulda hatte Putz daraufhin zu neun Monaten Freiheitsstrafe mit Bewährung wegen versuchten gemeinschaftlichen Totschlags verurteilt. Obwohl es feststellte, dass die Heimleitung mit der Beibehaltung der Magensonde eine vorsätzliche Körperverletzung begangen habe, sah es in der eigenmächtigen Entfernung der Sonde durch die Tochter eine rechtswidrige Handlung, zu der der Anwalt angestiftet habe. Putz brachte den Fall vor den BGH, der das Fuldaer Urteil nun aufhob und den Angeklagten freisprach.


Während das Fuldaer Landgericht noch auf der Grundlage vergleichbarer widersprüchlicher Entscheidungen geurteilt hatte, konnten sich die Bundesrichter inzwischen auf das Patientenverfügungsgesetz vom 1. September 2009 stützen, das regelt, unter welchen Voraussetzungen der Patientenwille bei Einwilligungsunfähigkeit bindend ist. Der Patientenwille beziehungsweise die Selbstbestimmung ist die oberste Maxime im Patientenverfügungsgesetz und somit auch für jede ärztliche und pflegerische Intervention.


Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden und wird auch ethisch nicht bestritten. Aus der Sicht der katholischen Ethiktradition kann der Patientenwille sich jedoch nicht auf das eigene Ende beziehen. Die Verfügung über die Existenz als solche oder das Leben als Ganzes ist dem Menschen entzogen. Das schließt aber nicht aus, dass ein Kranker auf weitere Behandlung verzichten kann. Eine Pflicht zum Leben um jeden Preis verlangt auch die katholische Kirche nicht. Man darf als Kranker auch den Tod herbeisehnen. Nur den Zeitpunkt und die Art des Todes selber festlegen zu wollen, überschreitet das dem Menschen als Geschöpf Gemäße.

Wie schon das Landgericht sehen auch die Karlsruher Richter in der Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung einen "rechtswidrigen Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht" der Patientin. Im Unterschied zur Ansicht der Vorinstanz, so die Richter weiter, habe sich der Anwalt durch seine Mitwirkung am Durchtrennen des Schlauches jedoch nicht strafbar gemacht. Die von den Betreuern (Tochter und Sohn) geprüfte mündliche Verfügung der Patientin sei bindend gewesen und der Behandlungsabbruch könne nicht nur in passiver Form durch Unterlassung, sondern auch aktiv erfolgen.


Sterben und sterben lassen

Ein wichtiger Punkt in der Entscheidung des BGH sind seine Ausführungen zum Unterschied von Tun und Unterlassen, mit denen die Bundesrichter die geltende Rechtsauffassung fortentwickeln: "Die von den Betreuern - in Übereinstimmung auch mit den inzwischen in Kraft getretenen Regelungen der Paragraphen 1901 a, 1904 BGB - geprüfte Einwilligung der Patientin rechtfertige nicht nur den Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung diente. Eine nur an den Äußerlichkeiten von Tun oder Unterlassen orientierte Unterscheidung der straflosen Sterbehilfe vom strafbaren Töten des Patienten wird dem sachlichen Unterschied zwischen der auf eine Lebensbeendigung gerichteten Tötung und Verhaltensweisen nicht gerecht, die dem krankheitsbedingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf lassen."

Diese nicht unvernünftige Sichtweise erleichtert es möglicherweise zu erläutern, warum das Abschalten des Beatmungsgeräts genauso erlaubt ist, wie es gar nicht erst anzuschalten. Möglicherweise aber schafft sie ganz neue Probleme, weil sie offenbar nicht unterscheidet zwischen dem lege artis vorgenommenen Abhängen oder der Entfernung einer Ernährungssonde und der eigenmächtigen Durchtrennung der Sonde. Das kann leicht dazu führen, dass sich auch in anderen Konstellationen Angehörige oder Freunde dazu berufen fühlen, Behandlungen zu unterbinden, wenn sie denken, dass diese nicht im Sinne der Behandelten sind. Im vorliegenden Fall hätte jedoch ohne Weiteres das zuständige Betreuungsgericht angerufen werden können; denn dessen Aufgabe besteht gerade darin, Konflikte zwischen Betreuer, Arzt und Pflegeheim zu lösen und dabei nicht zuletzt auch mögliche Zweifel am Patientenwillen rechtsverbindlich zu beseitigen.


Bedeutung hat das Urteil zunächst für Ärzte, die nun Rechtssicherheit darüber haben, dass sie lebensnotwendige Maßnahmen auch dann aktiv einstellen dürfen, wenn der Sterbeprozess noch nicht irreversibel eingesetzt hat. Maßgeblich ist nur der vorab ermittelte Wille, ab welchem Zeitpunkt ein Patient nicht weiter versorgt werden will. Wenn der BGH den Ernährungsabbruch für zulässig hält, sollte er aber auf die dann immer noch geschuldete Pflege und auf eine umfassende palliative Versorgung hinweisen.

Was viele nun als Stärkung der Patientenautonomie feiern und die Bundesjustizministerin als vorwärtsweisende Entscheidung begrüßt, die das Spannungsfeld von passiver und aktiver Sterbehilfe rechtlich absichere, könnte sich für Patienten auch als Bumerang erweisen. Denn wie in anderen medizinischen Bereichen auch, so etwa in der Transplantationsmedizin, ist der nun höchstrichterlich für rechtskräftig erklärte mutmaßliche Wille ein höchst auslegungsfähiges Konstrukt. Und angesichts der Situation in den Heimen mag manchen ein schnelles Ableben humaner erscheinen als ein Weiterleben unter unwürdigen Bedingungen. Es könnte sich andererseits aber auch der gesellschaftliche Druck auf Ärzte verstärken, lange und absehbar nicht mehr lohnende Versorgungszeiten zu verkürzen und Ressourcen einzusparen. Wie dieses Urteil in die Rechtsgeschichte eingehen wird, bleibt abzuwarten. Zudem gilt, was die deutsche Hospizgesellschaft zu dem Urteil schreibt: "Nicht alles, was straflos bleibt, ist auch geboten."


Auch wenn die Stellungnahmen der beiden Kirchen unterschiedlich klingen, sind sie einander inhaltlich nahe. Und es ist keineswegs so, wie der Eindruck erweckt wird, dass die evangelische Kirche eine liberale und die katholische Kirche wieder einmal eine verbietende Position einnehme, vor allem dann, wenn man in den Katechismus der Katholischen Kirche schaut. Dort heißt es in Nummer 2278: "Die Moral verlangt keine Therapie um jeden Preis. Außerordentliche oder zum erhofften Ergebnis in keinem Verhältnis stehende aufwendige und gefährliche medizinische Verfahren einzustellen, kann berechtigt sein. Man will dadurch den Tod nicht herbeiführen, sondern nimmt nur hin, ihn nicht verhindern zu können. Die Entscheidungen sind vom Patienten selbst zu treffen, falls er dazu fähig und imstande ist, andernfalls von den gesetzlich Bevollmächtigten, wobei stets der vernünftige Wille und die berechtigten Interessen des Patienten zu achten sind." Demnach kann man die gesamte Sterbehilfedebatte mit einer einzigen Formel bestreiten: "Man darf nicht töten, aber sterben lassen."


Die ethische Verantwortung zu tragen wird nicht leichter

Das BGH-Urteil mag zwar von grundsätzlicher Bedeutung sein, es stellt aber keine zulängliche Handlungsanweisung dar. Es signalisiert jedoch überdeutlich an alle Bürger, wie wichtig es ist, schon zu Zeiten, in denen man noch seine Situation bedenken und seinen Willen äußern kann, klare Anweisungen zu geben, was zu tun ist, wenn man es nicht mehr kann. Es ist zur Streitvermeidung immer besser, eine schriftliche Patientenverfügung und/oder Vorsorgevollmacht vorliegen zu haben, als sich nur auf den mündlich geäußerten Willen stützen zu können (vgl. HK, September 2009, 458f.).

Auch wenn das Urteil mehr juristische Sicherheit für Ärzte, Pflegende und Angehörige gibt, die ethische Verantwortung zu tragen, wird deshalb nicht leichter. Wer einer Erleichterung der Sterbehilfe das Wort redet, muss auf der Hut sein. Es wäre inhuman, wenn sich das Tor öffnen würde für voreilige Entscheidungen gegen das Leben (vgl. Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis, in: Deutsches Ärzteblatt 107, Heft 18, 7. Mai 2010).


Johannes Reiter (geb. 1944) war von 1984 bis 2009 Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz. Er ist Mitglied der Internationalen Theologenkommission. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Bioethik; langjähriger Mitarbeiter der HK für diesen Bereich.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 8, August 2010, S. 389-394
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,29 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2010