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ETHIK/899: Präimplantationsdiagnostik - Die unaufrichtige Debatte (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 96 - 4. Quartal 2010
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Die unaufrichtige Debatte

Von Rainer Beckmann


Der Würzburger Medizinexperte Rainer Beckmann hält die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) für ausgemacht und jede andere Sicht für »blauäugig«. Dennoch ist der nachstehende Beitrag alles andere als destruktiv. Denn in ihm macht der Autor deutlich, was jenseits von Sieg oder Niederlage in der aktuellen Debatte Aufgabe von Lebensrechtlern und weshalb der Kampf um einen konsistenten Schutz des Rechts auf Leben alternativlos ist.


Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung um die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist längst entschieden. Leider. Eine (»beschränkte«) Zulassung der PID wird kommen. Sich einzureden, es gäbe noch die Möglichkeit, eine politische Mehrheit für ein Verbot der PID zu finden, wäre blauäugig.

Harte Worte, die man in einer dem Lebensschutz gewidmeten Zeitschrift eigentlich nicht lesen möchte. Wo bleibt da die Motivation der Leser? Schließlich dient diese Zeitschrift dazu, Informationen zu liefern, die es erlauben, den lebensfeindlichen Kräften in unserer Gesellschaft überzeugend entgegenzutreten. Darf man als Lebensschützer also eine pessimistische Prognose abgeben? Werden damit nicht die ernsthaften und wirklich gut gemeinten Anstrengungen christlicher Politiker zunichtegemacht?

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Das Aussortieren menschlicher Embryonen widerspricht der Menschenwürde und sollte in unserem Land verboten werden. Hierfür gibt es eine Menge guter Argumente, die es allemal wert sind, so oft es geht wiederholt zu werden. Aber man sollte dabei realistisch bleiben und nicht nur das kurzfristige Ziel einer Gesetzesänderung im Auge haben. Das Thema »Präimplantationsdiagnostik« sollte Anlass sein, den eigentlichen Gründen für die politische Wirkungslosigkeit der Pro-Life-Bewegung in diesem Fall und in diversen anderen Bereichen nachzugehen. Nur dann kann längerfristig vielleicht eine Trendwende herbeigeführt werden.


KEINE MEHRHEIT FÜR PID-VERBOT ERSICHTLICH

Doch werfen wir zunächst einen Blick auf die anstehende Entscheidungssituation. Natürlich kann niemand so ganz genau wissen, wie eine künftige Abstimmung im Parlament ausgehen wird. Aber nüchtern betrachtet kann kein Zweifel daran bestehen, dass es in Berlin nur wenige Abgeordnete gibt, denen ein effektiver Rechtsschutz menschlicher Embryonen ein Herzensanliegen ist. Vergangene Debatten und Diskussionen haben gezeigt, dass es den meisten Bundestagsabgeordneten an einer grundsätzlich positiven Einstellung zu Lebensschutzfragen fehlt. Freiwillig kümmern sich die politischen Entscheidungsträger ohnehin nicht um ethisch umstrittene Fragen. So bedurfte es eines über zehn Jahre dauernden Drängens der Kirchen, der Lebensschutzinitiativen und einiger weniger aufrechter Parlamentarier, bis das Thema »Spätabtreibungen« endlich aufgegriffen wurde. Das Ergebnis war inhaltlich blamabel: Die Gesetzesänderung vom Mai 2009 sieht zwar etwas mehr Beratung und Bedenkzeit vor, aber an der Möglichkeit, selbst lebensfähige Ungeborene im Spätstadium der Schwangerschaft auf grausame Weise töten zu dürfen, änderte sich nichts. Selbst die statistische Erfassung wurde nicht verbessert. Man will offenbar nicht so genau wissen, was da vor sich geht!

Dieser Vorgang wie etwa auch der Umgang des Gesetzgebers mit der embryonalen Stammzellforschung zeigen, dass es nur wenige Abgeordnete gibt, die eine lebensbejahende Grundeinstellung haben. Es wäre daher ein Irrtum anzunehmen, dass die Frage der PID-Zulassung im Deutschen Bundestag durch die anstehenden parlamentarischen Beratungen in den Fraktionen, den Ausschüssen und letztlich im Plenum wesentlich beeinflusst werden könnte. In heiklen, weltanschaulich geprägten Fragen haben aktuelle Überzeugungsversuche keinen nennenswerten Effekt. Hier sind Grundhaltungen entscheidend, die sich der Abgeordnete als Person über einen längeren Zeitraum angeeignet hat und bereits bei der Wahl in sein Amt mitbringt. Die Entscheidung für oder gegen einen effektiven Rechtsschutz von Embryonen ist daher bei den allermeisten Politikern längst gefallen, bevor es zu konkreten Gesetzesvorschlägen kommt.

Dass die Mehrheit der Abgeordneten, die insoweit letztlich ein Spiegelbild der Gesellschaft sind, rechtliche Regelungen gegen den »Verbrauch« oder die Vernichtung menschlicher Embryonen nicht für vordringlich hält, ist seit vielen Jahren offensichtlich. Der Verlauf der Diskussion um die Neufassung des Abtreibungsstrafrechts nach der Wiedervereinigung und die rasche Aufweichung des Stammzellgesetzes sprechen eine deutliche Sprache. Beim Thema PID ist es nicht anders. Wenn schon auf dem letzten Parteitag der CDU im November 2010 sich nur eine hauchdünne Mehrheit der Delegierten für ein PID-Verbot ausgesprochen hat, obwohl ein solches im CDU-Grundsatzprogramm verankert ist, wird man nicht damit rechnen können, dass die CDU-Abgeordneten im Bundestag zu einem größeren Prozentsatz für den Schutz menschlicher Embryonen votieren werden. Jenseits der Unionsparteien sieht es noch schlechter aus, auch wenn es bei den Grünen und der SPD einige nachdenkliche und für Lebensschutzfragen sensible Volksvertreter geben mag. Ihre Anzahl bleibt überschaubar. In der FDP sieht es noch düsterer aus. Alles in allem ist der Schutz des Menschenlebens schon seit Jahren in den im Bundestag vertretenen Parteien kein bestimmendes Thema mehr. Wo soll also eine Mehrheit für ein PID-Verbot herkommen?


BESCHRÄNKTE PID-ZULASSUNG: DER »GOLDENE MITTELWEG«

Die Hoffnung, ein Verbot der PID durchsetzen zu können, ist auch deshalb unrealistisch, weil dieser Regelungsvorschlag im voraussichtlichen Spektrum der Gesetzesentwürfe als »Extremposition« erscheint und daher bei der Masse der Entscheidungsträger unwillkürlich Ablehnung hervorrufen wird. Theoretisch gibt es zur PID drei mögliche Haltungen: völlige Ablehnung, uneingeschränkte Zustimmung und eine »mittlere Position«, die in bestimmten Fällen PID zulässt, in anderen aber nicht. In einer solchen Konstellation ist bei demokratischen Entscheidungsprozessen mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die »mittlere Position« die größten Erfolgsaussichten hat. Ein PID-Verbot lässt sich leicht als »radikale« oder »fundamentalistische« Position darstellen, die angesichts des ethischen Pluralismus in unserer Gesellschaft keine Gesetzeskraft erlangen dürfe. Wer die Selektion menschlicher Embryonen in allen Fällen verbieten möchte, macht sich des »Rigorismus« oder »Fundamentalismus« verdächtig. Schnell wird auch der verfassungsrechtliche Vorwurf erhoben, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werde missachtet.

Dabei bleibt unbeachtet, dass es in einer Angelegenheit, in der es um Leben und Tod geht, eigentlich nur ein völliges Verbot oder eine uneingeschränkte Erlaubnis geben kann. Wenn der menschliche Embryo (ob genetisch »einwandfrei« oder nicht) ein Mensch im Sinne der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes ist, dann darf man seine selektive Tötung in keinem Fall zulassen. Ist er dagegen kein Mensch in dem genannten Sinn, gäbe es keinen Grund, die Embryonenselektion in irgendeiner Form einzuschränken. Es liegt daher in der Natur der Sache, dass es zur PID nur ein klares Ja bzw. ein eindeutiges Nein geben kann.

Doch dies wird vor dem Hintergrund des verbreiteten Relativismus in moralischen Fragen verdrängt. Nichts scheint in einer pluralistischen Gesellschaft eindeutig richtig oder falsch zu sein. Dem folgen Politiker gerne mit »Kompromisslösungen« auch auf Gebieten, auf denen es keine Kompromisse geben darf. Eine entschiedene Haltung ist daher nur von wenigen Abgeordneten zu erwarten. Der »goldene Mittelweg«, nämlich eine wie auch immer »eingeschränkte« Zulassung der PID, hat deshalb von vornherein die besten Erfolgsaussichten.


PARALLELE ZUR ABTREIBUNG NACH PRÄNATALDIAGNOSTIK

Der Streit um die PID kann aber trotzdem genutzt werden, um Lehren für die argumentative Auseinandersetzung zu ziehen und die wahren Hindernisse für einen besseren rechtlichen Lebensschutz in Deutschland zu erkennen.

Das am häufigsten verwendete und deshalb scheinbar "überzeugendste" Argument für eine Zulassung der PID ist der Verweis auf die später im Verlauf der Schwangerschaft noch mögliche Pränataldiagnostik mit anschließender Abtreibung. Warum sollte man einer Frau, die bis ins Spätstadium der Schwangerschaft hinein den Zustand des ungeborenen Kindes überprüfen und eine Abtreibung vornehmen lassen kann, verbieten, genau das gleiche Ziel bereits im frühen Embryonalstadium zu verfolgen? Die Präimplantationsdiagnostik sei, so heißt es, lediglich eine vorverlagerte Variante der Pränataldiagnostik. Der scheidende Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, hat daher ein PID-Verbot auch kürzlich als »unlogisch« bezeichnet.

»Der Verzicht auf eigene Kinder ist ihrer Tötung immer vorzuziehen.«

Der Pferdefuß dieser Argumentation liegt aber darin, dass diese »Logik« nur funktioniert, wenn man die Abtreibungsvorschriften als Erlaubnis zur gezielten Selektion von ungeborenen Kindern mit genetischen Schäden oder anderen »Normabweichungen« interpretiert. Bislang ist das gerade von den politisch Verantwortlichen und auch den Vertretern des ärztlichen Berufsstandes vehement abgelehnt worden. Bei der Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts im Jahr 1995 wurde schließlich die »eugenische Indikation« gestrichen und hervorgehoben, dass Behinderungen keinesfalls die Tötung ungeborener Kinder rechtfertigen würden.

Und in der Tat, wenn man den Gesetzeswortlaut ernst nimmt und jede eugenische Gesinnung als unvereinbar mit der gesetzlichen Regelung betrachtet, dürfte es das Phänomen der »Schwangerschaft auf Probe« gar nicht geben. Zwar kann man mit Hilfe der Pränataldiagnostik die Geburt eines gesunden Kindes gleichsam dadurch erzwingen, dass man aufeinander folgende Schwangerschaften so lange abbricht, bis ein nachweislich gesundes Kind heranwächst. Dieses Verhalten stellt aber keineswegs eine vom Gesetz gedeckte oder gar vom Gesetzgeber intendierte Nutzung von Pränataldiagnostik und Strafgesetz dar, sondern ist eindeutig ein Missbrauch der rechtlichen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch.

Die Formulierung der medizinischen Indikation zeigt, dass die Suche nach zumutbaren Alternativen Vorrang vor der Tötung ungeborener Kinder hat. Ein Schwangerschaftsabbruch ist gemäß § 218a Abs. 2 StGB nur gerechtfertigt, wenn der Konflikt für die Frau »... nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann«. Wenn bereits eine Schwangerschaft besteht und das Kind im Leib der Mutter heranwächst, mag das in manchen Fällen schwierig sein. Bei der PID ist es dagegen jederzeit möglich, Gesundheitsgefahren für die Mutter durch die Schwangerschaft mit einem genetisch belasteten Embryo zu vermeiden, indem man die künstliche Erzeugung der Embryonen unterlässt. Der Verzicht auf eigene Kinder ist ihrer Tötung immer vorzuziehen.

Die PID ist also nicht nur eine vorverlagerte Pränataldiagnostik (PND). Wer argumentiert, die künftige Konfliktlage einer Schwangerschaft mit einem behinderten Kind werde bei der PID »antizipiert«, verschweigt, dass diese Konfliktlage dann bereits vor der Erzeugung des Embryos ebenfalls antizipiert werden kann und muss. Eine PID wird schließlich nur dann durchgeführt, wenn sich genetisch vorbelastete Paare nicht in der Lage sehen, ein Kind mit einer bestimmten Erkrankung akzeptieren zu können. Die »Konfliktlage« steht damit von Anfang an fest. Dann verbietet sich aber gerade unter dem Gesichtspunkt der »Antizipation« die Erzeugung »zur Disposition« stehender Embryonen von vornherein. Die PID stellt keine Reaktion auf eine bestehende Konfliktsituation dar, sie schafft diese erst, um sie dann durch Selektion »zu lösen«.


EUGENISCHER GRUNDKONSENS

Im Ergebnis passen weder die Tötung behinderter ungeborener Kinder während der Schwangerschaft noch die »Verwerfung« geschädigter Embryonen im Rahmen der PID zur ratio der medizinischen Indikation des § 218 StGB. Trotzdem soll die Praxis der Selektion durch Pränataldiagnostik als rechtspolitisches Modell für die Zulassung der PID herhalten. Das lässt nur einen Schluss zu: Die (genetische) Behinderung eines (ungeborenen) Menschen ist als Selektionsgrund akzeptabel, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz. Kinder dürfen nach dieser »Logik« - jedenfalls solange sie noch nicht geboren sind - getötet werden, weil sie nach der Geburt in besonderer Weise der Hilfe und Unterstützung bedürfen! Und genau diese verwerfliche Einstellung soll jetzt dadurch geadelt werden, dass sie »logischerweise« auch auf die Frühphase der menschlichen Entwicklung ausgedehnt wird!

Natürlich wäre es ein »Wertungswiderspruch«, die vorgeburtliche Tötung in einer Phase der Entwicklung zuzulassen und in einer anderen nicht. Aber die Lösung dieses Widerspruchs kann nur darin bestehen, sie in jeder Phase der Entwicklung zu verbieten, statt die Tötung »auffälliger« Ungeborener immer mehr auszuweiten.

Der stillschweigende gesellschaftliche und politische Konsens, dass »nicht normale« ungeborene Menschen unzumutbar sind und deshalb getötet werden dürfen, ist das Fundament, auf dem die PID-Befürworter aufbauen. Die Gefahr, dass aus der Negativ-Selektion später auch einmal eine Positiv-Selektion - also die Auswahl der Embryonen nach besonderer »Güte« - werden könnte, verschärft die Problematik, ist aber nicht das eigentliche Problem. Jeder Selektion liegt eine Zuteilung beziehungsweise Aberkennung von Lebenswert zugrunde, die mit der grundlegenden Gleichberechtigung, die der Verfassungssatz von der unantastbaren Würde des Menschen garantieren soll, nicht vereinbar ist.

Geborene Menschen mit Behinderung können sich diesbezüglich in unserer Gesellschaft relativ sicher fühlen. Denn als Reaktion auf die grausamen Vernichtungsaktionen im Nationalsozialismus unterliegt in Deutschland zumindest jede offene Behindertenfeindlichkeit der Ächtung. Dennoch sind aus den Behindertenverbänden viele kritische Stimmen zu hören, wenn es um Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik geht. Menschen mit Behinderung haben offenbar ein feines Gespür dafür, dass es hier doch letztlich um eine prinzipielle Ungleichbehandlung, um eine Diskriminierung geht. Sie erkennen, dass in der Zulassung der Pränatalselektion nicht nur die "logische" Ausdehnung auf die Präimplantationsdiagnostik, sondern auch auf die Postnatalselektion mit angelegt ist.


ANGRIFF AUF DIE MENSCHENWÜRDE

Wenn Menschen nicht die gleiche Würde haben, weil ihr Erbgut ein Chromosom zu viel oder ein Gen zu wenig aufweist, ist die Würde des Menschen (Art. 1 GG) im Kern getroffen. Die Befürworter der PID sind sich dieses Problems durchaus bewusst und versuchen daher, von ihrem Angriff auf die Menschenwürde mit allen Mitteln abzulenken. In erster Linie wird auf die Ehepaare verwiesen, die sich sehnlichst ein gesundes eigenes Kind wünschen und denen ein PID-Verbot großes Leid zumuten würde. Damit wird das eigentliche Problem in doppelter Hinsicht verschleiert. Zum einen sind nicht die Paare, die sich ein Kind wünschen, die Hauptbetroffenen, da sie sicherlich auch ohne Kinder leben können, sondern die Embryonen, die bei einem PID-Verfahren in erheblicher Anzahl ihr Leben lassen müssen. Zum anderen wird die eugenische Gesinnung übergangen, die sich hinter der Rede vom »Wunsch nach einem gesunden Kind« verbirgt. Der verständliche Wunsch nach einem gesunden Kind ist als solcher nicht zu beanstanden. Aber die Bereitschaft zur Tötung unerwünschter Kinder (im Embryonalstadium), die zu jedem PID-Versuch dazugehört, ist nicht akzeptabel.

Nur unter zwei Bedingungen ließe sich behaupten, dass in der PID kein Verstoß gegen die Menschenwürde liegt: wenn der Embryo kein Mensch ist oder wenn die Menschenwürde nicht absolut gilt, sondern gegen andere (Grund-)Rechte abgewogen werden könnte.

»Ein ungleiches Existenzrecht ist nicht rational begründbar.«

Die Auffassung, dass der menschliche Embryo noch kein Mensch - jedenfalls nicht im Vollsinn des Wortes - sei, ist nach wie vor die Grundlage dafür, dass viele Menschen keine oder nur geringe Bedenken gegen Abtreibungen oder die Tötung von Embryonen haben. Alle Erkenntnisse der Embryologie sprechen aber eindeutig dafür, im menschlichen Embryo eine frühe Entwicklungsform des Menschen zu sehen. Völlig zu Recht ging auch das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zum Abtreibungsstrafrecht davon aus, dass »die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen«. Die Würde des Menschseins liege auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen. Es verbiete sich daher »jegliche Differenzierung der Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand dieses Lebens«. Leider hat es hieraus nicht die richtigen Konsequenzen gezogen.

Dem menschlichen Embryo in vitro kommt daher prinzipiell der gleiche Rechtsstatus und Schutzanspruch zu wie weiter entwickelten Formen menschlichen Lebens. Eine Ungleichbehandlung in Bezug auf das reine Existenzrecht ist nicht rational zu begründen. Warum sollten das Alter und der damit einhergehende Entwicklungsstand eines Menschen seinen grundrechtlichen Status beeinflussen? Ein am Entwicklungsstand ausgerichteter Schutz des Menschen wäre geradezu absurd: Sollen etwa Babys geringeren Schutz genießen als Schulkinder und Schulkinder geringeren Schutz als Erwachsene? Die biologische Entwicklung des Menschen ist ein Kontinuum, wobei sich die äußere Erscheinungsform ständig - mehr oder weniger schnell - verändert, auch nach der Geburt. Daraus unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe ableiten zu wollen, wäre willkürlich.


DAS GRUNDGESETZ ERNST NEHMEN

Noch offensichtlicher ist es, dass auch die zweite genannte Bedingung für eine PID-Zulassung nicht gegeben ist. Der menschliche Embryo hat als Mensch Anspruch auf Achtung seiner Würde. Und dieser Würdeanspruch ist - so heißt es ausdrücklich in der Verfassung - »unantastbar«. Eine Abwägung dieses Anspruchs gegen andere Grundrechte oder Interessen ist daher unzulässig. Die Befürworter der PID nehmen das Grundgesetz einfach nicht ernst.

Im Rahmen der PID wird das fundamentale Recht auf Existenz und Gleichbehandlung künstlich erzeugter Embryonen dem Interesse ihrer Eltern, nur gesunde Kinder versorgen und aufziehen zu wollen, untergeordnet. Der unantastbare Würdeanspruch des Em bryos wird gegen ein angebliches Recht abgewogen, das es gar nicht gibt. Es gibt zwar das Recht, Wünsche zu haben, aber keinen Anspruch darauf, Wünsche mit tödlicher Gewalt durchsetzen zu dürfen.

Wer sich anmaßt, über das Leben eines anderen Menschen zu verfügen, spricht diesem seinen Status als Mitmensch gleicher Würde ab. Wenn der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird, ist die Menschenwürde getroffen. Bei der PID werden die hergestellten menschlichen Embryonen letztlich als Sachen, als »Produkte« behandelt. Der einzelne Embryo erscheint als etwas, das bei »Lieferung« die gewünschte Qualität aufzuweisen hat. Genetische Schäden gelten als »Mangel«. Mangelhafte Ware wird aussortiert.


UNAUFRICHTIGE DISKUSSION

Alle diese Erwägungen machen deutlich, dass die Debatte um die Zulässigkeit der PID Grundfragen unseres Selbstverständnisses und unseres Zusammenlebens aufwirft. Solange es keinen breiten Grundkonsens darüber gibt, dass menschliche Embryonen unsere eigenen frühen Entwicklungsphasen darstellen bzw. wir selbst späte Entwicklungsformen von Embryonen sind, wird es keine politischen Mehrheiten für einen effektiven Embryonenschutz geben. Und solange es einen unausgesprochenen gesellschaftlichen Konsens gibt, dass behindertes Leben im Grunde unzumutbar ist und deshalb möglichst frühzeitig entdeckt werden sollte und anschließend beseitigt werden darf, werden offene oder verdeckte Selektionsmechanismen existieren, denen nicht normgemäße Menschen zum Opfer fallen. In Zukunft werden hiervon wahrscheinlich nicht nur ungeborene, sondern auch alte, nicht mehr leistungsfähige, die Gesellschaft »unzumutbar belastende« Menschen betroffen sein.

Die wirklich für die PID entscheidungsrelevanten Einstellungen und Grundhaltungen bleiben meist unausgesprochen. Deshalb sind viele Diskussionen letztlich unaufrichtig und sinnlos. Aber das ist kein Grund, den Streit um die PID aufzugeben. Zuallererst muss es um die Wahrhaftigkeit in der Diskussion gehen, um die Freilegung der wirklich gegeneinander stehenden Überzeugungen. Es geht am Ende - wie bei allen Lebensrechtsfragen - um unser Menschenbild und die fundamentale Rechtsgleichheit, die sich aus der Würde des Menschen ergibt. Nur wenn es gelingt, in diesen Punkten die Mehrheit der Bevölkerung und der Abgeordneten zu gewinnen, wird es auch Gesetze geben können, die einen effektiven Lebensschutz gewährleisten.


IM PORTRAIT

Rainer Beckmann
Rainer Beckmann, Jahrgang 1961, ist Richter am Amtsgericht Würzburg und Lehrbeauftragter für Medizinrecht an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg sowie Dozent an der Palliativakademie Würzburg. Der Stellvertretende Vorsitzende der »Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V.« und Chefredakteur der »Zeitschrift für Lebensrecht« gehörte als Sachverständiger den beiden bioethischen Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestags »Recht und Ethik der modernen Medizin« (20002002) und »Ethik und Recht der modernen Medizin« (2003-2005) an. Rainer Beckmann ist verheiratet und Vater von vier Kindern.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Wer hier sitzt, entscheidet nicht nur über Gesetze, sondern hält unserer Gesellschaft auch den Spiegel vor.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 96, 4. Quartal 2010, S. 4 - 7
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2011