Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN

AUSLAND/2153: Die HIV/AIDS-Epidemie in China hat soziale, ökonomische und kulturelle Ursachen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 144/Juni 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Nebenwirkungen des Wachstums
Die HIV/AIDS-Epidemie in China hat soziale, ökonomische und kulturelle Ursachen

Von Jianghong Li



In den letzten 35 Jahren hat China nicht nur eine einzigartige Wirtschaftsentwicklung zu verzeichnen, sondern auch einen tiefgreifenden sozialen, kulturellen und demografischen Wandel. Eine der wenig beachteten Folgen dieser Transformation ist die Ausbreitung von HIV/AIDS. Die Epidemie trifft vor allem marginalisierte Gruppen. Die staatliche Präventionsstrategie müsste an den Ursachen ansetzen, indem sie sich dem Problem der sozialen Ungleichheit, der Geschlechtergerechtigkeit und der sozialen Akzeptanz von Homosexualität zuwendet.


In den letzten 35 Jahren ist das chinesische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um das 30-fache gewachsen. Dadurch gelang es China, zu den Ländern im oberen Bereich der mittleren Einkommensgruppe aufzuschließen. Diese rasante Wohlstandsvermehrung hat sich positiv auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der chinesischen Bevölkerung ausgewirkt. Man geht davon aus, dass 630 Millionen Chinesen zwischen 1981 und 2005 aus der absoluten Armut herausgeführt wurden. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg im Zeitraum 1978 bis 2011 um sieben auf 74 Jahre.

Doch trotz dieser beispiellosen Entwicklung seit den Wirtschaftsreformen von 1978 gibt es einige besorgniserregende Entwicklungen. Dazu gehören die alarmierende Umweltverschmutzung und die wachsende soziale und ökonomische Ungleichheit, auch zwischen den Regionen. In China lässt sich derzeit der weltweit schnellste Zuwachs von Einkommensungleichheit beobachten.

Ein öffentlich weit weniger beachtetes und unerwartetes Nebenprodukt des wirtschaftlichen Aufstiegs ist das Aufkommen der HIV/AIDS-Epidemie seit 1978. Der erste durch AIDS verursachte Todesfall wurde im Juni 1985 gemeldet, galt jedoch offiziell als ausländisches Phänomen. Im Dezember 1989 kam es zum ersten Ausbruch von HIV/AIDS unter Drogenkonsumenten, und im Januar 1995 gab es in der Provinz Henan einen HIV-Ausbruch bei Blutspendern, die ihr Blut gegen Geld verkauft hatten.

Nach Angaben des China AIDS Response Progress Report von 2012, den das chinesische Gesundheitsministerium herausgab, ist China noch immer ein Land mit einer niedrigen HIV-Prävalenzrate. Die absolute Anzahl der HIV/AIDS-Fälle ist jedoch immens. Die Epidemie ist in mehreren Regionen stark ausgeprägt, und die Anzahl der HIV-Infizierten steigt kontinuierlich. Die Situation wird noch dadurch verschlimmert, dass sich der Hauptansteckungsweg vom intravenösen Drogengebrauch auf sexuelle Kontakte verlagert hat, wodurch sich die HIV-Infektion von Risikogruppen auf die allgemeine Bevölkerung ausweiten kann.

Dem China AIDS Response Progress Report zufolge lebten Ende 2011 in China geschätzt 780.000 Menschen mit HIV. Die offizielle kumulative Zahl von Menschen mit HIV lag jedoch bei 445.000, basierend auf Daten des epidemiologischen Überwachungssystems. Das bedeutet, dass 335.000 Menschen mit HIV (etwa 43 Prozent) entweder nicht diagnostiziert sind oder in den amtlichen Statistiken nicht vorkommen (zum Beispiel Todesfälle ohne Diagnose) und somit den Virus weiter in die Bevölkerung hineintragen. Die offizielle Zahl der HIV-Infizierten, die an AIDS erkrankt sind, betrug 174.000. Bis Ende 2011 waren 93.000 AIDS-Patienten gestorben.

Obwohl sich HIV-Infektionen in allen 31 Provinzen, autonomen Regionen und Gemeinden Chinas finden, konzentriert sich die große Mehrheit der Fälle (75,5 Prozent) in nur sechs Provinzen: Yunnan, Guangxi und Sichuan im Südwesten, Henan in Zentralchina, Xinjiang im Westen sowie Guangdong im Südosten, wobei die Provinz Yunnan die höchste Anzahl an HIV-Fällen zu verzeichnen hat (siehe Abbildung *). Zwei Faktoren tragen zu diesen regionalen Disparitäten in der HIV-Prävalenz bei: die geografische Nähe zu den Hauptstätten der illegalen Drogenproduktion und die Armut. Yunnan bildet das Tor zum südostasiatischen "Goldenden Dreieck", und Xinjiang liegt unweit vom südwestasiatischen "Goldenen Halbmond". Die Route des Drogenhandels zwischen dem "Goldenen Dreieck" und Yunnan erstreckt sich bis in deren nördliche Nachbarprovinz Sichuan und die östliche Nachbarprovinz Guangxi, die wiederum an Guangdong angrenzt. Guangxi ist außerdem unmittelbar vom Drogenhandel betroffen, der über die Grenze Vietnams kommt und sich in die angrenzende Provinz Guangdong hinein erstreckt. Die Provinz Henan war stark von Armut betroffen, was den Handel mit Blut und den daraus folgenden Anstieg von HIV Mitte der 1990er Jahre befeuerte. Yunnan, Xinjiang und Guangxi haben einen hohen Anteil nationaler Minoritäten und sind als Regionen weniger entwickelt als andere Provinzen.

Chinas HIV-Epidemie ist vielschichtig und dynamisch. In jüngster Zeit hat es eine deutliche Veränderung hinsichtlich der Hauptübertragungswege gegeben. Bis 2005 wurde der HIV-Erreger hauptsächlich durch illegalen intravenösen Drogengebrauch und verunreinigte Bluttransfusionen übertragen. Ende 2011 war die Zahl der HIV-Fälle, die sich auf diese beiden Übertragungswege zurückführen lassen, jedoch erheblich zurückgegangen. Demgegenüber hat die Zahl der HIV-Infektionen durch hetero- und homosexuelle Kontakte drastisch zugenommen, von 11,3 Prozent (heterosexuell) und 0,3 Prozent (homosexuell) im Jahr 2005 auf 62,5 Prozent beziehungsweise 13,7 Prozent.

Erst 2006 - 20 Jahre nach Feststellung des ersten AIDS-Falls - entwickelte die chinesische Regierung kohärente und umfassende politische Maßnahmen zur Eindämmung der HIV/AIDS-Epidemie. Die Maßnahmen wurden als "Verordnung zur Prävention und Kontrolle von AIDS" erstmals in Gesetzesform gegossen. Zusammen mit dem Fünf-Jahres-Plan zur Eindämmung von HIV/AIDS (2006-2010) markierte diese Gesetzgebung einen entscheidenden Schritt in Chinas Reaktion auf HIV/AIDS. Eine zentrale Maßnahme dabei ist die "Four Free and One Care"-Politik: Sie bietet HIV-infizierten Chinesen kostenfreie Tests und Beratung, kostenfreie Therapie, kostenfreie Gesundheitsversorgung und kostenfreie Aufklärung. Umgesetzt wird die Maßnahme mithilfe des "Five Expands, Six Strengthens"-Ansatzes. Das Five Expands bezieht sich auf die Ausweitung der Verbreitung von Informationen, Aufklärung und Kommunikation über HIV/AIDS sowie die Ausweitung von Überwachung und Tests der Prävention der Mutter-Kind-Übertragung, auf umfassende Interventionen und die kostenfreie Bereitstellung antiretroviraler Therapie (ART). Zu "Six Strengthens" zählen die Verstärkung des Blutsicherheits-Managements, der Krankenversicherung, des Rechtsschutzes, der organisatorischen Führung und des Einsatzes von Aktionsteams.

Durch diese Maßnahmen erhalten Drogenabhängige eine Substitutionsbehandlung mit Methadon sowie saubere Nadeln und Spritzen. Drei von vier HIV-infizierten Erwachsenen und Kindern, die die ART-Behandlungskriterien erfüllen, erhalten antiretrovirale Therapie. Trotz dieser Erfolge steht das Land weiter vor großen Herausforderungen. Dazu gehören die hohe Zahl unentdeckter HIV-Infektionen, die Kürzung der internationalen Fördermittel zur Unterstützung der AIDS-Bekämpfung in China, Resistenz gegen AIDS-Medikamente, Schwierigkeiten beim Erreichen der gefährdeten Risikogruppen, die kontinuierliche Zunahme von mobilen Bevölkerungsgruppen und Gruppen mit mehreren Sexualpartnern sowie die steigende Zahl von Menschen, die sexuelles Risikoverhalten stimulierende Drogen konsumieren.

Prostitution ist in China verboten. Sexarbeiterinnen werden auf vielfältige Weise marginalisiert: Sie sind sozioökonomisch benachteiligt, der Gefahr sexueller Gewalt ausgesetzt, tragen ein hohes Risiko sexuell übertragbarer Infektionen und können von der Polizei verhaftet und strafrechtlich verfolgt werden. Die meisten Sexarbeiterinnen sind zwischen 13 und 29 Jahre alt, stammen aus ländlichen Gebieten und haben lediglich die Grund- oder Mittelschule besucht. Sie sind sehr häufig von sexuell übertragbaren Infektionen betroffen, verwenden aber selten Kondome, wissen wenig über HIV-Prävention und sind sich des HIV-Risikos kaum bewusst. Schwangerschafts- und Abtreibungsquoten sind ebenfalls hoch. Sexarbeiterinnen wechseln häufig von einem Etablissement zum nächsten und von einer Stadt zur anderen. In die Sexbranche gerieten die meisten von ihnen durch Armut und begrenzte Arbeitsmöglichkeiten in den urbanen Zentren, in die sie gezogen sind. Einige Sexarbeiterinnen, insbesondere die jungen und minderjährigen, wurden gegen ihren Willen zu dieser Tätigkeit gezwungen.

Auch Drogenkonsumenten gehören in China zu den stark marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Die meisten von ihnen sind männlich, jünger als 35 Jahre, leben in Armut, haben keinen Schulabschluss, wohnen in ländlichen Gebieten und gehören einer nationalen Minderheit an. Die Mehrheit ist unverheiratet oder geschieden. In der Provinz Yunnan, wo der Drogenmissbrauch am weitesten verbreitet ist, stammen 28 Prozent der unter 25-jährigen Drogenkonsumenten aus geschiedenen Elternhäusern. Dieser Prozentsatz ist siebenmal so hoch wie in der allgemeinen Bevölkerung.

Daten aus der offiziellen infektionsepidemiologischen Überwachung und unabhängigen Studien zufolge befindet sich die HIV-Epidemie in China noch immer in einer Übergangsphase, wobei seit 2006 ein drastischer Anstieg der HIV-Infektionen bei homosexuellen Männern zu verzeichnen ist. Nach Schätzungen gibt es in China zwischen 3,1 und 6,3 Millionen Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). Ihre Zahl ist damit um das Eineinhalbfache größer als die der Drogenkonsumenten und Sexarbeiterinnen. Die kulturelle Aufforderung an alle Männer und Frauen, Nachwuchs zu produzieren (und zwar vorzugsweise männlichen Nachwuchs, der die Familienlinie fortsetzt) und das mit der Homosexualität verbundene Stigma zwingen viele schwule Männer zu einem Doppelleben. Zwischen 17 und 35 Prozent der chinesischen MSMs sind mit einem weiblichen Partner verheiratet.

Mehr als 25 Prozent der MSMs geben an, in den letzten sechs Monaten sexuellen Kontakt mit Frauen gehabt zu haben. Nur sehr wenige MSMs offenbaren ihre sexuelle Orientierung und benutzen mit ihren Ehefrauen oder weiblichen Sexualpartnern Kondome. Daher sind auch die Ehefrauen oder weiblichen Sexualpartner von MSMs einem hohen Risiko ausgesetzt, sich mit HIV zu infizieren. Seit 2003 hat sich die Zahl der HIV-Infektionen von verheirateten Frauen, deren Männer sich das Virus von Prostituierten oder schwulen Männern geholt haben, drastisch erhöht. Offiziellen Schätzungen zufolge fanden 2011 25 Prozent der durch heterosexuelle Kontakte entstandenen HIV-Infektionen unter Ehepartnern statt.

Die bisherige Forschung und die Reaktion der Regierung auf HIV/AIDS in China sind größtenteils epidemiologischer und biomedizinischer Natur. Die wissenschaftlichen und politischen Anstrengungen konzentrieren sich hauptsächlich auf Schätzungen der HIV-Prävalenz, Übertragungswege und Aufklärung. Dies sind zweifellos wichtige Elemente zur Prävention und Eindämmung von HIV, aber für sich allein sind sie unzureichend und rein reaktiv. Aus den sozioökonomischen und demografischen Profilen der gefährdeten Risikogruppen wird deutlich, dass es in China einer Präventionsstrategie bedarf, die darauf abzielt, den Pool der marginalisierten Bevölkerungsgruppen zu reduzieren. Dazu gehören zum Beispiel Maßnahmen, die sich direkt auf soziale Ungerechtigkeit und Geschlechterungleichheit sowie die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexuellen richten. Perspektiven aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften sollten bei der Entwicklung einer breiter angelegten Vision für Chinas zukünftige Antwort auf die HIV-Epidemie eine wichtige Rolle spielen. Gegenwärtig sind solche Perspektiven jedoch in Forschung und Politik weitgehend unterrepräsentiert.

Die Übertragung von HIV ist eng verbunden mit menschlichen Verhaltensweisen wie dem intravenösen Drogengebrauch, dem Nadel-Teilen unter Drogenkonsumenten und ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Diese riskanten Verhaltensweisen sind tief in der sozialen, ökonomischen und kulturellen Textur der heutigen chinesischen Gesellschaft verwurzelt. Seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen hat China dramatische gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen erlebt, in positiver wie in negativer Richtung. Zu diesen Veränderungen gehören steigende soziale Ungleichheit und eine Renaissance der traditionellen Geschlechterideologie, die den Fortschritt von Frauen behindert. Andere Faktoren sind die sexuelle Liberalisierung und ein demografischer Mangel an Frauen aufgrund von Abtreibungen weiblicher Föten und der Ermordung junger Mädchen in Teilen der ländlichen Bevölkerung, angetrieben durch die Präferenz für Söhne, die durch die Ein-Kind-Politik intensiviert wurde. Diese Faktoren haben zu einem Anstieg der männlichen Nachfrage nach kommerziellem und nicht kommerziellem Sex außerhalb der Ehe geführt. Viele Männer betrachten sexuelle Kontakte mit mehreren Partnern als Symbol für Erfolg, Macht und sozioökonomischen Status. Unter erfolgreichen chinesischen Geschäftsmännern sind außereheliche sexuelle Aktivitäten (offen oder verdeckt) heute gang und gäbe.

Das Auftreten der HIV-Epidemie in China ist kein Zufall. Es hat viel zu tun mit dem Drang des Landes nach wirtschaftlicher Entwicklung und seiner Obsession für schnelle Wohlstandserzeugung, wobei jedoch diejenigen auf der Strecke bleiben, die am Rand der Gesellschaft leben. Drogenhandel, Bluthandel und käuflicher Sex sind die drei Märkte, die das größte Risikoumfeld für eine HIV-Übertragung darstellen. Die marginalisierten Bevölkerungsgruppen sind bei dem Versuch, ihr Leben zu verbessern, in diesen Märkten gefangen, weil sie keine oder nur sehr begrenzte Alternativen haben.


Jianghong Li ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Projektgruppe der Präsidentin. Sie hat über Geschlechterverhältnisse und Drogenmissbrauch in China geforscht und befasst sich zurzeit vor allem mit den sozioökonomischen, psychologischen und biologischen Faktoren, die Gesundheit und Entwicklung von Kindern beeinflussen.
jianghong.li@wzb.eu


LITERATUR

Ministry of Health of the People's Republic of China: 2012 China AIDS Response Progress Report. Beijing: Chinese Ministry of Health 2012,
online: http://www.unaids.org/en/dataanalysis/knowyourresponse/countryprogressreports/2012countries/ce_CN_Narrative_Report[1].pdf
(Stand 12.05.2014).

Zhang, Lei/Chow, Eric P. F./Jing, Jun/Zhuang, Xun/Li, Xiaoshan/He, Meiqi et al.: "HIV Prevalence in China: Integration of Surveillance Data and a Systematic Review". In: The Lancet, 2013, Vol. 13, No. 11, pp. 955-963.

Pirkle, Catherine/Sounddardjee, Riswana/Artuso, Stella: "Female Sex Workers in China: Vectors of Disease?". In: Sexually Transmitted Disease, 2007, Vol. 34, No. 9, pp. 695-703.

Yang, Lijun/Li, Jianghong/Zhang, Yiping/Zhang, Wendong/Dai, Fuqiang/Maycock, Bruce: "Reported Reasons for Initiating Drug Use among Drugdependent Adolescents and Youths in Yunnan, China". In: The American Journal of Drug and Alcohol Abuse, 2009, Vol. 35, No. 6, pp. 445-453

(*) Die Abbildung wurde nicht in den Schattenblick übernommen.

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 144, Juni 2014, Seite 29-32
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
(März, Juni, September, Dezember)
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2014