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AUSLAND/2460: Elfenbeinküste - Psychiatrie in Ketten (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Psychiatrie in Ketten
Eindrücke von einer Reise zu psychiatrischen Einrichtungen in der Elfenbeinküste

Von Rolf Brüggemann


Immer wieder stoße ich bei Freunden und Bekannten auf Entsetzen und Unglauben, wenn ich berichte, dass seelisch Erkrankte in vielen Ländern der Welt auch heute noch über lange Zeiten angekettet und in Verliese gesperrt werden. Für den Westeuropäer schien dieses tragische Kapitel seit der so beschriebenen heroischen Taten des Philippe Pinel (1745-1826) und des Jean-Baptiste Pussin (1745-1811), die in Paris Ende des 18. Jahrhunderts die psychisch Erkrankten aus den Kerkern und von den Ketten befreiten, beendet.

Angekettete Kranke - ein millionenfaches Problem

Leider erfahren wir aus vielen Ländern Asiens und Afrikas von angeketteten Kranken: Schätzungen zufolge sind es viele Zehntausende, z. B. in Indonesien, in Somalia und in Westafrika. Weltweit ein millionenfaches Problem. Die Gewalt, die diesen Menschen angetan wird, ist strukturell und verborgen. Sie hat keinen Nachrichtenwert und entgeht weitgehend der öffentlichen Wahrnehmung. Krank und ohnmächtig und zudem ohne Lobby können diese Menschen selbst ihre Situation nicht verbessern.

Der 1993 gegründete Reutlinger Verein Saint Camille e.V. bemüht sich um Hilfe für die Betroffenen in der Elfenbeinküste, in Benin und in Burkina Faso, indem er Medikamente spendet und Ärzte und Krankenschwestern schickt, um Therapien und Wundversorgung, Gebäudesanierung und vieles mehr anzuregen und finanziell zu ermöglichen.

Begleitet von zwei Mitgliedern dieses Vereins, dem Psychiater Dr. Michael Huppertz und der Krankenschwester Debora Zwick, hatte ich im Januar die Gelegenheit, mir selbst ein Bild von den Verhältnissen zu machen. Wir haben in der Elfenbeinküste (Bouaké und Korhogo) fünf psychiatrische Einrichtungen besucht, die vom Reutlinger Verein unterstützt werden.

Mit vielen Patienten und Mitarbeitern haben wir Gespräche geführt, mit zwei Psychiatern und zwei ranghohen Vertretern der katholischen Kirche wurde lange diskutiert, und vor allem unter uns dreien begann eine tägliche Diskussion über die richtige Unterstützung bei der Verbesserung der psychiatrischen Versorgung in diesem Land.

Ernüchterung statt Fortschritt

Der erste Eindruck sowohl in der je separaten Männer- wie in der Frauenpsychiatrie, die man sich als große von Mauern und Stacheldraht umgebene Gelände mit mehreren eingeschossigen Gebäuden vorstellen muss, war ernüchternd. Die meisten Patienten lungerten eher herum, es fehlte eine sinngebende Tagesstruktur, Therapien außer der Medikation zwei Mal täglich fanden nicht statt, Essen wurde gekocht und verteilt. Kein ausgebildetes Fachpersonal. Wenige Ausnahmen. Die verabreichte Medikation schien aus ärztlicher Sicht zu undifferenziert, oft überdosiert oder fehlindiziert.

Sollte das der Fortschritt sein, nachdem man viele dieser Patienten von der Ankettung am Rande ihrer Dörfer befreit und hierhergebracht hatte? Ist die totale Institution Psychiatrie besser als die Missachtung und Misshandlung durch die Gesellschaft außerhalb? Hier wie dort keine Menschenwürde und Behindertenrechte?!

Auf unseren Exkursionen sollten wir allerdings noch andere Institutionen kennenlernen, die sich die Entlassvorbereitung und die Nachbetreuung der Patienten, ambulante Versorgung in sogenannten Relais, landwirtschaftliche Rehabilitation vorgenommen hatten. Und überall, wo wir waren, war eine intensive Debatte im Gang, wie die Versorgung der Kranken verbessert werden könnte. Dabei haben wir sozialpsychiatrische Konzepte und den Leitsatz »ambulant vor stationär« vertreten.

Desaströses Gesundheitswesen

Dann erhielten wir weitere Hintergrundinformationen: Das Gesundheitswesen insgesamt ist ein Desaster, ohne privates Geld läuft nichts, Krankenversicherung ist äußerst selten. Die psychisch Erkrankten werden versteckt, wohl auch in evangelikalen Gemeinden angekettet und mit Gebet »behandelt«, Epilepsiekranke bleiben ohne Behandlung, die durch den Bürgerkrieg traumatisierten Menschen müssen alleine klarkommen, staatliche Psychiatrien, etwa in Abidjan, seien ungleich grausamer und elender als das, was wir gesehen hätten.

Das Gesundheitswesen erschien uns sehr ähnlich den Straßen, die durch heftige Schlaglöcher und liegen gebliebene verunglückte Fahrzeuge charakterisiert waren. Eine katastrophale öffentliche Infrastruktur im Kontrast zu modernen Konzernhochhäusern und monumentalen Kirchen und Moscheen.

Der Staat nimmt seine Aufgaben nicht wahr. Und es entsteht so ein enormer moralischer, rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Schaden. In Sachen Psychiatrie muss eine Enquete durchgeführt werden, die die Missstände aufzeigt. Die internationalen Konventionen zum Schutz der Menschenrechte und der Rechte Behinderter, die dieser Staat unterzeichnet hat, müssen eingefordert und umgesetzt werden.

Hilfe aus Reutlingen

Die Verbesserung der Lage der seelisch Erkrankten wird durch die Reutlinger Organisation, die jährlich einige zigtausend Euro Spendengelder zusammenbringt, erreicht. Auch andere NGOs helfen. Hierdurch wird zudem eine Diskussion und Reflexion bei den in diesem Bereich Tätigen angeregt. Austausch an Fachwissen und auch Austausch der Experten statt. Ein notwendiger, wichtiger Anfang.

In Zusammenarbeit mit dem Göppinger Psychiatriemuseum MuSeele hat der Reutlinger Verein eine Wanderausstellung zu diesem Thema organisiert, die bereits an mehreren Orten gezeigt wurde. Auch bei den Kongressen der DGPPN und der World Psychiatric Association (WPA) im Oktober in Berlin wird diese Ausstellung gezeigt werden. In einer Begleitbroschüre werden die Informationen vertieft. Psychiatrie ist ein globales Anliegen - mehr denn je.


Rolf Brüggemann ist Diplom-Psychologe im Klinikum Christophsbad in Göppingen, wo er das Psychiatriemuseum MuSeele leitet und als Chefredakteur der Zeitschrift »Seelenpresse« arbeitet.
E-Mail: rolf.brueggemann@christophsbad.de

Weitere Infos
Kettenmenschen. Vom Umgang mit psychisch Kranken in Westafrika, Katalog zur Ausstellung, 2016, Hrsg.: MuSeele, Göppingen
www.christophsbad.de
www.kettenmenschen.de
www.museele.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Ungezählte gebrauchte Ketten auf den Boden geworfen

- Der Patient zeigt bereitwillig die Holzklammer, die ihn Monate lang fixierte

- Der Autor zusammen mit drei Patienten der Männerpsychiatrie in Bouaké

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, Juli 2017, Seite 37 - 38
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/511 002, Fax: 0221/529 903
E-Mail: dgsp@netcologne.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2017

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