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POLITIK/1874: Prävention - Ärzte und Politik gefragt (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2016

Prävention
Ärzte und Politik gefragt

Von Prof. Klaus-Dieter Kolenda


Zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und lebensstilbedingten chronischen Krankheiten.


Im überwiegend kurativ ausgerichteten deutschen Gesundheitswesen spielen Gesundheitsförderung und Prävention nur eine untergeordnete Rolle. Die Unterversorgung auf dem Gebiet der Prävention lebensstilbedingter chronischer Krankheiten bleibt auch nach Inkrafttreten eines neuen Präventionsgesetzes eines der wichtigsten Probleme in unserem Gesundheitssystem und damit der gesamten Gesellschaft, denn: zwischen sozialer Ungleichheit und lebensstilbedingten chronischen Krankheiten besteht ein direkter Zusammenhang. Bei den folgenden Erörterungen wird von einem multikausalen 3-Stufen-Modell der chronischen Krankheiten ausgegangen (siehe Spalte "Modell"). Auf der unteren Stufe werden nur soziale Kausalfaktoren berücksichtigt, weil nur sie durch Lebensstilfaktoren zu beeinflussen sind. Auf der mittleren Stufe sind neben Risikofaktoren auch Schutzfaktoren nach dem Konzept der Salutogenese von Antonowsky mit eingeschlossen. Der Autor fragt sich, auf welcher Stufe des Modells die in den einzelnen Abschnitten diskutierten Gegenmaßnahmen wirksam werden könnten.

Soziale Ungleichheit und Krankheit

Seit Langem ist bekannt, dass die individuelle Lebenserwartung in jedem einzelnen Land mit dem individuellen Einkommen korreliert. Das gilt auch für die reichen Länder. So besteht z. B. in England und Wales zwischen dem reichsten und dem ärmsten Zehntel der Bevölkerung ein Unterschied von sieben bis acht Lebensjahren. Während jedoch in armen Ländern und in Schwellenländern die durchschnittliche Lebenserwartung mit dem durchschnittlichen Einkommen pro Kopf der Bevölkerung korreliert und entsprechend ansteigt, ist seit Anfang der 1990er-Jahre bekannt, dass das in den reichen Ländern nicht der Fall ist. Hier besteht bei der durchschnittlichen Lebenserwartung und vielen weiteren gesundheitlichen und sozialen Parametern ein Bezug zum Grad der sozialen Ungleichheit. Die entscheidende neue Erkenntnis ist, dass Sterblichkeit, Gesundheit und viele soziale Probleme in den reichen Ländern weniger von ihrem Reichtum insgesamt abhängen, sondern von der Verteilung des Reichtums. Je ausgeglichener dieser verteilt ist, desto besser ist die Volksgesundheit. Mit dieser Erkenntnis, aus der sich wichtige gesundheits- und sozialpolitische Implikationen ergeben, setzen sich die Epidemiologen Wilkinson und Pickett in dem 2009 erschienenen Buch "The Spirit Level" eingehend auseinander. Die Autoren haben die Statistiken der Industrieländer der letzten Jahrzehnte durchforstet auf der Suche nach Korrelationen zwischen sozialer Ungleichheit und dem Ausmaß der gesundheitlichen und sozialen Probleme und sind dabei fündig geworden. Auf Basis der verfügbaren Daten wird belegt, dass viele der heute im Vordergrund stehenden gesundheitlichen und sozialen Probleme in den reichen Ländern vom Grad der sozialen Ungleichheit beeinflusst werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in reichen Ländern mit mehr Ungleichheit niedriger, die Säuglings- und Kindersterblichkeit höher, und es gibt mehr psychische Krankheiten und mehr Drogenmissbrauch als in Ländern mit weniger Ungleichheit. Viele Menschen in den unteren, aber auch in den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten werden davon in Mitleidenschaft gezogen. Der Anteil der Erwachsenen mit Adipositas etwa ist in den Ländern mit mehr Ungleichheit deutlich höher. So sind z. B. in den USA, einem der Länder mit der größten Ungleichheit, etwa 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung fettleibig, in Deutschland etwa 20 Prozent, in Norwegen und Schweden etwa zehn Prozent, und Japan liegt mit 2,4 Prozent noch deutlich darunter. Vergleicht man die Gesundheitsdaten einzelner Bevölkerungsgruppen in Ländern mit höherer und geringerer Ungleichheit, so zeigt sich, dass auch für eine Reihe weiterer chronischer Krankheiten mehr Gleichheit Vorteile bringt. In einer 2006 veröffentlichten Studie zeigte sich, dass die Häufigkeit von Diabetes, Bluthochdruck, Krebs und Lungen- und Herzkrankheiten auf jeder Bildungsstufe in England deutlich niedriger war als in den USA.

Was liegt diesen Korrelationen zugrunde? Die Autoren Wilkinson und Pickett stellen die These auf, dass es sich hier wahrscheinlich um einen ursächlichen Zusammenhang handelt. Ein Argumentationsstrang ist, dass Einkommensunterschiede zu Statuskonkurrenz und Statusunbehagen führen. Diese sind in reichen Ländern mit mehr Ungleichheit in allen Schichten der Bevölkerung stärker ausgebildet als in Ländern mit weniger Ungleichheit. Statusunbehagen kann objektiv vermehrte Stressbelastungen hervorrufen und subjektiv das Wohlbefinden beeinträchtigen. Ein weiterer Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Korrelation zwischen dem Niveau des gesellschaftlichen Vertrauens und dem Ausmaß der Ungleichheit. In Ländern mit einem größeren sozialen Gefälle besteht ein geringeres Vertrauen zwischen den Menschen und dadurch kommt es vermehrt zu Unsicherheiten, Ängsten, Depressionen und Stressbelastungen.

Zur gesellschaftlichen Therapie: Die genannten Autoren schlagen Maßnahmen vor, mit denen mittel- und langfristig das soziale Gefälle abzubauen wäre, z. B. eine höhere Besteuerung der Einkommen mit sozialstaatlicher Umverteilung wie in skandinavischen Ländern. Die Frage ist natürlich, wie das politisch umgesetzt werden kann. Hier vertrauen die Autoren auf die Einsicht, dass gesellschaftliche Veränderungen in Richtung eines Abbaus des sozialen Gefälles und mehr soziale Gleichheit im objektiven Interesse der gesamten Bevölkerung, auch der Wohlhabenden liegen. Daraus folgt, dass der Fettleibigkeit zunächst vorrangig mit Maßnahmen einer Sozial- und Steuerpolitik entgegengewirkt werden müsste, mit der die soziale Ungleichheit abgebaut werden kann. Dazu gehört auch eine bessere Bildung für alle. Eine Verringerung der materiellen Ungleichheit wäre wahrscheinlich ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung der Fettleibigkeit und damit vieler lebensstilbedingter chronischer Krankheiten.

Primär- und Sekundärprävention

Für die Primärprävention chronischer Krankheiten sind derzeit andere Berufsgruppen meist besser aufgestellt als die Ärzteschaft, z. B. pädagogische Fachkreise. Man spricht hier auch von nicht-medizinischer Primärprävention, die durch ein neues Präventionsgesetz größere Verantwortung übernehmen soll. Aber es gibt Aufgaben, die unbedingt in die Arztpraxis gehören, z. B. bei der Primärprävention von Krebskrankheiten und Diabetes mellitus Typ 2. Bei der Sekundärprävention besteht ein beachtliches Potenzial zur Senkung der Zahl chronisch Kranker. So entwickelt sich beispielsweise ein Diabetes mellitus Typ 2 meist als Komplikation einer Adipositas. Wenn es gelingt, bei diesen Patienten durch gesunde Ernährungsweise und regelmäßige körperliche Aktivität eine deutliche Gewichtsabnahme zu erreichen, bessert oder normalisiert sich in einem hohen Prozentsatz die diabetische Stoffwechsellage. Ähnlich bedeutsame direkte Zusammenhänge bestehen zwischen Adipositas und Hypertonie.

In den letzten 50 Jahren kam es zu einer grundlegenden Änderung des Krankheitsspektrums in den reichen Ländern. An die Stelle der zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebensbedrohlichen Infektionskrankheiten sind heute die chronischen Krankheiten getreten. Sie beeinträchtigen die Lebensqualität vieler Menschen erheblich und sind häufig für deren vorzeitigen Tod verantwortlich. Deshalb sollte die Vermeidung bzw. Heilung chronischer Krankheiten oder - wenn das nicht mehr möglich ist - deren günstige Beeinflussung bei den präventiven Maßnahmen zur Gesund- und Lebenserhaltung im Mittelpunkt stehen. Vorrangig geht es um die KHK einschließlich Herzinfarkt, die zerebrale Ischämie mit Schlaganfall, die Hypertonie, die Adipositas mit Diabetes mellitus Typ 2 als wichtigster Folgeerkrankung, die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung und die häufigsten Krebserkrankungen als führende Erkrankungen in der Todesursachenstatistik.

2004 wurde nachgewiesen, dass für die Hälfte der jährlichen Todesfälle in den USA vermeidbare Todesursachen verantwortlich waren. Als häufigste Todesursachen wurden Rauchen und Fehlernährung mit Adipositas und Bewegungsmangel eruiert. Mit dem Alkoholmissbrauch bilden diese ein "tödliches Quartett", dem die WHO bei der Prävention der chronischen Krankheiten große Bedeutung beimisst. Diesem Quartett allein konnten etwa 40 Prozent der Todesfälle zugeordnet werden. Es gibt überzeugende Untersuchungen, die belegen, dass auch chronische Stressbelastungen für die Entstehung und den Verlauf so wichtiger chronischer Krankheiten wie Hypertonie, KHK und zerebrale Ischämie von großer Bedeutung sind. Der Abbau chronischer Stressbelastungen gehört deshalb zu den wichtigen Maßnahmen eines gesundheitsförderlichen Lebensstils.

"Sterblichkeit und Gesundheit hängen weniger vom Reichtum, sondern von dessen Verteilung in einer Gesellschaft ab."

Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass die meisten chronischen Krankheiten einen schichtspezifischen sozialen Gradienten aufweisen. Eine wesentliche Ursache hierfür wird in der sozialen Ungleichheit gesehen, die zu vermehrten chronischen Stressbelastungen führt. Außerdem sind Risikofaktoren wie Rauchen und Adipositas aufgrund von Fehlernährung und Bewegungsmangel bei Angehörigen der unteren Einkommensschichten sehr viel häufiger anzutreffen als bei den Gutverdienenden. Die soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen lässt sich augenscheinlich mit Maßnahmen der etablierten ambulanten und stationären medizinischen Versorgung nicht ausgleichen. Sie ist wahrscheinlich langfristig nur durch eine umfassende Förderung der Prävention in Kombination mit progressiven sozial- und steuerpolitischen Maßnahmen möglich. Das ist ein weiteres wesentliches Argument für mehr Anstrengungen und wirkungsvollere Bemühungen auf dem Gebiet der Prävention chronischer Krankheiten in Deutschland.

Chronische Krankheiten sind somit zu einem wesentlichen Teil Folgen eines krankheitsfördernden Lebensstils, welcher durch Verhaltensprävention günstig zu beeinflussen ist. Die Vermittlung von verhaltenspräventiven Maßnahmen, vor allem im Bereich der Sekundärprävention, ist in erster Linie Aufgabe der Heilberufe, vor allem der Ärzteschaft, denn chronisch Kranke suchen im Allgemeinen den Arzt auf und sind heute schon die Mehrheit in der ärztlichen Sprechstunde. Leider steht aber die Prävention bei den meisten Ärzten derzeit nicht hoch im Kurs. Das mag daran liegen, dass von alters her die Behandlung Kranker Aufgabe der Medizin ist und es sich bei der Prävention um scheinbar Gesunde handelt, was aber für die Sekundärprävention nicht zutrifft. Außerdem ist Prävention während des Medizinstudiums und der anschließenden ärztlichen Weiterbildung auch heute leider nur ein Thema am Rande. Es gibt mittlerweile jedoch eine Reihe von effektiven verhaltenspräventiven Maßnahmen, z. B. bei der Raucherentwöhnung und der Adipositasbehandlung, die in jeder Arztpraxis durchgeführt werden könnten.

Verhältnisprävention

Um das massenhafte Auftreten der chronischen Krankheiten zu reduzieren, sind außerdem effektive verhältnispräventive Maßnahmen nötig - und die sind Aufgabe der Politik. Dazu gehört z. B. für die Tabakkontrolle ein bundeseinheitliches umfassendes Nichtraucherschutzgesetz ohne Ausnahmen und ein allgemeines Tabakwerbeverbot. Verhältnispräventive Maßnahmen werden auch zur Adipositaskontrolle vorgeschlagen, z. B. eine Kennzeichnung der Lebensmittel nach dem Ampelprinzip. Genauso müssten die Rahmenbedingungen für regelmäßige körperliche Aktivitäten verbessert werden, z. B. durch Schulsport und Erleichterung des Zugangs zu Sportvereinen für Kinder und Jugendliche aus den unteren Einkommensschichten. Erfolge bei der Verhältnisprävention werden nur zu erreichen sein, wenn vonseiten der Politik die gesundheitlichen Belange der Bevölkerung höher bewertet werden als z. B. die Interessen der Industrie.

Erfolge der Prävention und der Gesundheitsförderung hängen außerdem wesentlich von der Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen ab, Eigenverantwortung für seine Gesundheit und deren Erhaltung zu übernehmen. Eigenverantwortung heißt dabei, dass der Einzelne aktiv zu seiner Gesundheit beiträgt. Das setzt voraus, dass er sich das nötige Wissen angeeignet hat, das hierfür erforderlich ist. Dazu könnten Patientenschulungen für Betroffene in Arztpraxen und Kliniken über die wichtigsten chronischen Krankheiten und deren Behandlung hilfreich sein.

Fazit

Eine bevölkerungsweite effektive Prävention chronischer Krankheiten kann nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gelingen. Voraussetzung ist das Zusammenwirken von Verhaltensprävention als Primärprävention (z. B. in Kindergarten, Schule und Betrieb) und als Sekundärprävention (z. B. in der Arztpraxis) in Kombination mit der Verhältnisprävention und im Zusammenwirken mit politischen Maßnahmen zum Abbau der sozialen Ungleichheit. Darüber hinaus ist eine Neuorientierung der Medizin mit einer stärkeren Gewichtung der Prävention notwendig, weil einseitig kurativer Fortschritt jede Volkswirtschaft einer Gesellschaft, die das Recht auf Gleichheit bei der medizinischen Versorgung gewährleisten will, auf Dauer überfordern dürfte.


Modell

1. Oberste Stufe: chronische Krankheiten, z. B. KHK, Diabetes, Krebserkrankung
Gegenmaßnahme: Sekundärprävention

2. Mittlere Stufe: Risikofaktoren bzw. Schutzfaktoren, z. B. lebensstilbedingte RF bzw. SF
Gegenmaßnahmen: Primärprävention, Sekundärprävention, Verhältnisprävention

3. Untere Stufe: genetische, demografische und soziale Kausalfaktoren, z. B. soziale Ungleichheit
Gegenmaßnahmen: Abbau der Ungleichheit durch Sozial- und Steuerpolitik, mehr und bessere Bildung für alle, Verhältnisprävention


Langfassung und Literatur beim Autor

Klaus-Dieter.Kolenda@gmx.de


Info

8 von 10 der wichtigsten Risikofaktoren für Todesfälle in Ländern mit hohem Einkommen sind abhängig vom individuellen Lebensstil: Rauchen, Bluthochdruck, Fehlernährung mit Adipositas, Bewegungsmangel, Blutzuckererhöhung, Cholesterinerhöhung, wenig Obst und Gemüse, Alkoholmissbrauch. Die beiden weiteren Risikofaktoren sind Luftverschmutzung und berufliche Risiken.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201601/h16014a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, Januar 2016, Seite 32 - 33
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2016

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