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POLITIK/1745: WHO im Widerspruch zum eigenen Auftrag (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 16 vom 23. April 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

WHO im Widerspruch zum eigenen Auftrag
Internationale Atomenergiebehörde + Weltgesundheitsorganisation = Atomlobby
IPPNW und NGOs fordern Unabhängigkeit der WHO

Von Hans-Peter Brenner


Die jetzt mit dem höchsten Schweregrad 7 eingestufte Reaktorkatastrophe von Fukushima hat nun auch Konsequenzen auf der Ebene der internationalen Gesundheitspolitik. Dabei geht es um mehr als nur einen lästigen "Kollateralschaden". Auf dem Spiel steht das Renommee der wichtigen UNO-Gesundheitsbehörde, der WHO. Ungläubig und teilweise entsetzt reagieren weltweit Mediziner, Atomwissenschaftler und -techniker, die bislang von der Fachautorität und politischen Neutralität der WHO ausgegangen waren.

Dass die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) kein unparteiischer "Atom-TÜV" ist, sondern ein nur schlecht getarntes Instrument der Atomindustrie, hat sich schon länger herumgesprochen. Dass aber auch die WHO in ihrem Fahrwasser schwimmt, das berührt und erschrickt viele Menschen.

Die Weltgesundheitsorganisation hatte sich zwar bereits viele Ungereimtheiten im Dienst der Pharmakonzerne im Zusammenhang mit der angeblichen Schweinegrippe-"Pandemie" erlaubt. Aber immerhin weist sie in ihrer Arbeit in der "3. Welt" auch manche Pluspunkte auf. Und noch immer gilt die eigentlich famose WHO-Definition des Begriffs "Gesundheit", der eine ungewöhnliche Verbindung zwischen physischer und psychischer Verfasstheit postuliert.

"Gesundheit" wird in der Verfassung der WHO definiert als ein "Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens." Gesundheit zeichnet sich also nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung aus. Nach der WHO-Definition fordert Gesundheit einen Lebenszustand, in dem auch umfassende humanistische und soziale Ansprüche befriedigt werden, die zum Bestandteil des alltäglichen Lebens dazugehören. Das Gesundheitsideal der WHO ist nicht nur fernes und abstraktes Lebensziel. Dass es eine solche umfassende Definition gibt, hat auch zu tun mit dem Einf luss der damaligen Sowjetunion und der anderen Länder des realen Sozialismus, die innerhalb ihrer UNO-Aktivitäten immer ein großes Gewicht auf die Tätigkeit der WHO gelegt hatten.

Nimmt man diesen Kern des Auftrags der WHO ernst, so stellt die latente wie auch die akute Bedrohung durch die Radioaktivität - sowohl aus der "friedlichen" wie auch der militärischen Nutzung der Kernenergie - einen prinzipiellen Verstoß gegen das Selbstverständnis und den Auftrag der WHO dar. Doch für die Einstellung der WHO zu den Gesundheitsrisiken, die von der Kernenergie ausgehen, gelten andere Gesetze und Regeln. Diese werden bestimmt durch die Atomindustrie - hier in Gestalt der IAEO mit ihrem Sitz in Wien.


IAEO - vom "Gleichgewicht des Schreckens" zur Atom-Lobby

Die IAEO war offiziell 1957 gegründet worden, nachdem der damalige US-Präsident D. Eisenhower schon 1953 mit einem entsprechenden Vorschlag aufgetreten war, um weltweit die Sicherheit im Nuklearbereich zu überwachen und zu kontrollieren. Sie setzt sich jedoch dabei explizit für die Förderung der kommerziellen Atomindustrie ein. In ihren Statuten heißt es:

"Ziel der Organisation ist es, den Beitrag der Atomenergie zum Frieden, zur Gesundheit und zum Wohlstand auf der ganzen Welt rascher und in größerem Ausmaß wirksam werden zu lassen. Sie stellt soweit als möglich sicher, dass die von ihr geleistete Hilfe nicht zur Förderung militärischer Zwecke verwendet wird."

Die sozialistischen Staaten sahen in der IAEO zu diesem Zeitpunkt ein Mittel, um die Weiterverbreitung der Atomtechnologie zu militärischen Zwecken einzudämmen. Auch diejenigen sozialistischen Staaten, die keinen eigenen Zugang zu atomaren Waffen besaßen, unterstützten diese Richtung der IAEO-Tätigkeit. So stellten zum Beispiel das sozialistische Polen und die Tschechoslowakei 1966 an die X. Generalversammlung der IAEO einen Aufnahmeantrag. Sie koppelten dies aber mit der Bedingung, dass dann auch die BRD aufgenommen und sich damit den Kontrollen der IAEO unterwerfen müsse. Die Sowjetunion, Ungarn und Bulgarien, die bereits IAEO-Mitglieder waren, unterstützten damals den Antrag ihrer sozialistischen Verbündeten. Von dieser Funktion, der Aufrechterhaltung und Kontrolle eines atomaren "Gleichgewichts des Schreckens", kann natürlich heute keine Rede mehr sein.

Die IAEO verpflichtet nur die atomwaffenfreien Staaten die vollständige Kontrolle ihrer nuklearen Aktivitäten zu akzeptieren, nicht jedoch die Atommächte. Diese sind die nicht bereit, eine wirkliche Kontrolle über ihre Atomwaffenarsenale zuzulassen. Das Hauptziel der IAEO ist "die Beschleunigung und die Förderung der Atomindustrie für den Frieden, für die Gesundheit und für das Wohlbefinden in der ganzen Welt". Auch Reaktorunfälle herunterzuspielen gehört seit jeher zur Praxis der IAEO. Sie beansprucht aber auch für Gesundheitsfragen im Bereich der Atomindustrie zuständig zu sein.


UNO Gesundheitsbehörde gab eigenen Auftrag an IAEO ab

Am 28. Mai 1959 wurde diese Zuständigkeit in einem Abkommen zwischen den beiden UNO-Organisationen geregelt. Seither werden die gesundheitlichen Risiken, die die kommerzielle Nutzung der Atomenergie zwangsläufig mit sich bringt, von deren internationalem Manager, der IAEO, selbst kontrolliert und nicht von unabhängigen medizinischen Institutionen.

Das Abkommen zwischen WHO und IAEO legt auch definitiv fest, dass Forschungsprojekte - deren Resultate potentiell die Förderung der Atomindustrie behindern könnten - entweder gar nicht oder nur noch von der IAEO gemeinsam mit der WHO durchgeführt werden. Im Abkommen wird festgestellt:

"Die IAEO und die WHO sind sich bewusst, dass es notwendig sein könnte, restriktive Maßnahmen zu treffen, um den vertraulichen Charakter gewisser ausgetauschter Informationen zu wahren (...)."

Das heißt, dass als "vertraulich" deklarierte Daten, die zwischen den beiden Organisationen ausgetauscht werden, gegenüber den Weltöffentlichkeit geheim bleiben. Das wurde nicht nur im Zusammenhang mit dem Tschernobyl-Desaster (Vergleiche UZ vom 15. 4.) deutlich, sondern auch aktuell bei der Katastrophe von Fukushima I. Seit dem Kollaps der Fukushima-Reaktoren veröffentlichte die japanische Regierung in zahllosen Bulletins angeblich "überprüfte" Daten über die davon ausgehenden Gefahren. Sie war dabei nichts anderes als eine Unterabteilung des Pressestabs der Betreiberfirma Tokyo Electric Power Company (Tepco).

Sie veröffentlichte aber nur das, was Tepco ihr zukommen ließ. Dies führte zu dramatischen Fehl- und Desinformationsorgien. So gestand Tepco zum Beispiel erst zwei Wochen nach dem GAU einen Messfehler und die 100 000-fach erhöhte Strahlung am Reaktorblock 2 ein. In der Folge berichtet Tepco von einer nur "partiellen" Kernschmelze in dem Reaktor, obgleich diese bereits kurz nach der Wasserstoffexplosion stattgefunden haben muss. Auch dies hätte nach Meinung zahlreicher Wissenschaftler bereits unmittelbar nach dem GAU festgestellt werden müssen. Hier hätte eine internationale unabhängige Einrichtung einen wertvollen Dienst leisten können. Anders die IAEO. Die Angaben der IAEO basieren komplett auf dem Bulletin der japanischen Regierung und damit auf den verharmlosenden, verfälschenden und verschleiernden Informationen von Tepco.


Wiederherstellung des WHO-Kernauftrags gefordert

Die Ärzteorganisation IPPNW fordert jetzt die Bundesregierung auf, bei der Weltgesundheitsversammlung im Mai in Genf einen Antrag einzubringen mit dem Ziel, das über 50 Jahre alte Abkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) bezüglich der Folgen von radioaktiver Strahlung aufzukündigen. "Die WHO muss in ihrer Arbeit hinsichtlich der Gefahren von Radioaktivität unabhängig arbeiten und agieren können. (...) Das tut sie bisher nicht. Die Gesundheit der Menschen sollte wieder zum Primat der WHO werden", erklärte die langjährige IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen. Es wird ein Prüfstein für die Ehrlichkeit der verschiedenen Staaten sein, sich wirklich eindeutig von der atomaren Stromproduktion zu verabschieden, ob sie diesem Antrag der IPPNW zustimmen.

In einem "Manifest für die Unabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation (WHO)" wird eine ähnliche Forderung vertreten. Es wurde dieser Tage vom "Verband Independent WHO", der sich aus einer breiten Koalition von NGOs zusammensetzt, als Auftakt für eine internationale Unterschriftenkampagne, publiziert. Es wird darin nicht nur auf den alten Knebelvertrag von 1959 verwiesen, sondern auch auf eine von der WHO und der IAEO gemeinsam unterzeichneten Mitteilung vom 5. September 2005. Diese sei ein Beispiel für die Desinformationspolitik beider Organisationen gewesen, weil sie als "endgültige" Bilanz der Katastrophe von Tschernobyl rund 50 Tote und 4 000 potentielle Todesfälle aufgrund von Strahlenexposition angegeben hatte.


Internationales Manifest für die WHO-Unabhängigkeit

In dem "Manifest für die Unabhängigkeit der WHO" heißt es dazu kritisch: "Kein Wort über hunderttausende "Liquidatoren", die zur Dekontaminierung des Gebietes aus der ganzen Sowjetunion herangezogen wurden. Dabei waren 2001 von den 173 000 russischen Liquidatoren, die aufgrund ihres Einsatzes in Tschernobyl als Krankheitsopfer registriert wurden, 10 Prozent verstorben und 30 Prozent waren als Invalide anerkannt (Erklärung des russischen Gesundheitsdirektors bei der Kiewer Konferenz zu Tschernobyl im Jahr 2001). Ebenfalls kein Wort über den Gesundheitszustand der Kinder in Belarus: dem stellvertretenden Gesundheitsminister zufolge hielt man im Jahr 2000 nur 20 Prozent dieser Kinder für ´gesund´, während es 1985 noch 80 Prozent waren."

Die Verfasser des WHO-Manifests kritisieren auch das letzte gemeinsame Kommuniqué von WHO und IAEA vom 24. April 2009 zu Tschernobyl. Darin hatte es geheißen, dass die vom Unfall betroffenen Gebiete für die Bevölkerung nicht mehr gefährlich seien; dass man nur "mit praktischen Ratschlägen beruhigen" und "zu einer Rückkehr zum normalen Leben" überzeugen müsse. In diesem Zusammenhang sei dem unabhängigen Institut Belrad in Minsk (Belarus), das seit 1990 die von Kindern inkorporierte Radioaktivität misst und dieselben zur Verringerung der Cäsium-137-Belastung mit Pektin-Kuren behandelt, von der Europäischen Union die finanzielle Unterstützung mit folgender Begründung verweigert worden: "Die Thematik Ihres Projektes ist nicht mehr aktuell." Dabei sei erst unlängst von der New Yorker Akademie der Wissenschaften eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel "Chernobyl: Consequences of the Catastrophe for People and the Environment" veröffentlicht worden. Sie enthält eine Zusammenfassung von 5 000 Feldstudien in den kontaminierten Ländern, die der Bilanz von WHO-IAEO komplett widerspricht.

(www.nyas.org/Publications/Annals/Detail.aspx?cid=f3f3bd16-51ba-4d7b-a086-753f44b3bfc1)

Die Unterzeichner des Manifests fordern deshalb von der WHO, den Vertrag mit der IAEO von 1959 zu revidieren und so ihre Unabhängigkeit wieder herzustellen, mit dem Ziel, ihrem statutengemäßen Auftrag gerecht zu werden, das heißt "alle Völker auf das höchstmögliche Gesundheitsniveau zu bringen" und "zur Bildung einer aufgeklärten öffentlichen Meinung unter den Völkern beizutragen".


Kontakt:
Paul Roullaud
Bourlinguette
44530 GUENROUET
Frankreich
oder: www.independentwho.info


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Ein vorangegangener Text des Autors zu diesem Thema ist zu finden unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> MEDIZIN -> FAKTEN ->
UMWELT/635: Tschernobyl, Fukushima I und die Vertuschung der Folgen (UZ)


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, Nr. 16 vom 23. April 2011, S. 15
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2011