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EPIDEMIE/106: Unsichtbare Angreifer (7) - Paradoxe Krankheitserreger der Globalisierung (research*eu)


research*eu - Nr. 59, März 2009
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Die paradoxen Krankheitserreger der Globalisierung

Von François Rebufat


AIDS, SARS Vogelgrippe: In den vergangenen 30 Jahren sind wieder große Epidemien aufgetreten - Bedrohungen, die die Epidemiologen bereits zur Vergangenheit erklärt hatten. Wenn die Globalisierung neuen Pandemien Tür und Tor öffnet, bieten sie dann auch den geeigneten geopolitischen Rahmen, um diesen zu begegnen?


Nachdem die großen Gesundheitsorganisationen Ende der 1970er Jahre bereits das Ende der großen Epidemien verkündet hatten, haben 30 Jahre Bevölkerungswachstum und globalisierte Entwicklung die Lage umgekehrt. Nicht nur alte Geißeln wie Tuberkulose oder Malaria treten wieder auf, sondern auch neue Krankheiten, die die Welt mit Pandemien von globalem Ausmaß bedrohen. Obwohl sie sich im Einzelnen sehr unterscheiden und obwohl es vielfältige Gründe für ihre Entstehung gibt, sind sie alle in demselben, völlig neuen Kontext aufgetaucht - der Globalisierung. Jährlich werden mehr als zwei Milliarden Menschen mit dem Flugzeug befördert, knapp 60 % der Weltbevölkerung leben in Städten, davon ein Drittel unter sehr schlechten hygienischen Bedingungen, und Millionen Tonnen Waren überqueren jedes Jahr die Kontinente.


Schnelligkeit und Nähe

1,5 Milliarden infizierte Menschen, das ist die Zahl, die die WHO vorhersagt, sollte eine Pandemie der Vogelgrippe auftreten. Und da die Sterblichkeitsziffer hier auf 58 % geschätzt wird, brächte sie unvorstellbare Folgen. Wenn auch die Tierseuche dieses Mal nur wenige Todesopfer gefordert hat, "stellt sich nicht so sehr die Frage, ob sich eine Grippepandemie durch dieses oder ein anderes Vogelgrippevirus ereignen wird, sondern, wann dies passieren könnte", so die WHO. Transport Stadtzusammenlegung, Migrationsströme und industrielle Tierhaltung öffnen Krankheitserregern Wege, sich zu entwickeln und auszubreiten. So werden nicht nur die alten Erreger immer resistenter gegen die bestehenden Arzneimittel, sondern dieser neue Weltzustand begünstigt auch die Entstehung neuer Krankheitskeime. "In 25 Jahren sind 38 neue Krankheitserreger aufgetaucht", erklärte Professor Mark Woolhouse, Epidemiologe an der Universität Edinburgh (UK), 2006 bei einem Expertenkolloquium in Saint Louis (USA). Bei diesen neuen Krankheiten handelt es sich zu 70 % um Zoonosen, also um Krankheiten, die durch von Tieren auf den Menschen übertragbare Krankheitserreger ausgelöst werden.


Das Tier - diese Geißel

Die BSE-Krise hat zwar nicht zu einer sehr strengen Überwachung der industriellen Viehzucht geführt, die Vogelgrippe hat jedoch bestätigt, dass Zwangsmaßnahmen notwendig sind. Laut Rudolf Klein, emeritierter Professor der Universität Bath (UK), war das Risiko, das mit BSE (oder Rinderwahn) zusammenhängt, den Behörden bereits seit 1988 bekannt, ohne dass Alarm geschlagen wurde. Das Ergebnis: 27 Mrd. EUR Verlust und mehr als 130 Fälle der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bei Menschen. Hinsichtlich der Vogelgrippe kritisierte der Generaldirektor des Internationalen Tierseuchenamts (Office International des Epizootries - OIE) zu jener Zeit die Langsamkeit, mit der die betroffenen Länder auf das Aufkommen des Krankheitserregers reagierten und dies bekanntgaben. Für André-Laurent Parodi, ehemaliges Mitglied des Wissenschaftlichen Ausschusses für Tiergesundheit und Tierschutz der Europäischen Kommission, haben "die hohen Geflügelzahlen und das nahe Zusammenleben zwischen Hausgeflügel und der Bevölkerung wahrscheinlich die Übertragung auf den Menschen erleichtert."(1)

Entwaldung, Ausbreitung der Landwirtschaft, Armut oder - im Gegenteil - Erhöhung des Lebensstandards führen dazu, dass Menschen mit wilden Tieren, die Krankheitserreger mit sich tragen, immer enger zusammenleben. Die Zibetkatze, eine Besonderheit in China, könnte am Anfang der SARS-Epidemie gestanden haben, nachdem sie aus ganz Asien importiert und schließlich gezüchtet wurde, um eine wachsende Nachfrage zu befriedigen. Ebola, Marburg, AIDS, diese drei Epidemien hatten ihren Ursprung in Afrika, genauer gesagt in Virenstämmen, deren Wirte Affen waren. Die Eroberung der Erde durch den Menschen führt zwangsweise zum Kontakt mit wilden Tierarten, die manchmal auch gegessen werden, wie etwa Affen, und so den Weg sowohl für eine Übertragung von Viren zwischen den Arten als auch für Mutationen ebnen.

Klimaänderungen, Wasserkraftwerke und der internationale Verkehr haben den erneuten Ausbruch bereits eingedämmter Epidemien und die Verbreitung von Krankheitserregern begünstigt, vor allem jener, die wie Malaria, Dengue, Chikungunya oder das Rifttalfieber durch Mücken übertragen werden. Dengue, das in den 1950er Jahren auf den Philippinen festgestellt wurde, bedroht heute rund 40 % der Weltbevölkerung. Es gibt starke Bedenken, dass sich diese Krankheiten aufgrund der Klimaerwärmung auch in Richtung Norden ausbreiten werden.


Die schlechten Gewohnheiten des Nordens

Obwohl die Epidemiologen einhellig die südlichen Länder zu Brutstätten neuer Krankheiten erklären, sind auch die Länder des Nordens nicht vor Krankheiten gefeit, die sich entsprechend auch auf die Bevölkerungen der südlichen Halbkugel übertragen können. Die WHO schätzt, dass 70 % der auf Tabakkonsum zurückzuführenden Todesfälle in den kommenden 20 Jahren Personen in Entwicklungsländern treffen werden. Diabetes, Fettleibigkeit oder auch Probleme durch Alkoholkonsum - der westliche Lebensstil wird in die ganze Welt exportiert, mit allen dazugehörigen Krankheiten. Für Tikki Pang, Direktor der Abteilung für Forschungspolitik und Zusammenarbeit bei der WHO, stellt "das beispiellose Wachstum des globalen Lebensmittelhandels und seine Dominierung durch Großunternehmen mit aggressiven Marketingstrategien einen Schlüsselfaktor bei der Verbreitung dieser Lifestyle-Krankheiten dar."(2)

Eine andere Geißel der Globalisierung: der Sextourismus mit geschätzten 60 Millionen Reisenden pro Jahr, durch den nicht nur sexuell übertragbare Krankheiten verbreitet, sondern auch erhebliche psychologische Schäden verursacht werden, vor allem bei Kindern, die missbraucht und zur Prostitution gezwungen werden und deren Zahl in die Millionen geht.


Eine Vielfalt an Akteuren

Die Globalisierung ist nicht für alle diese Übel verantwortlich, doch schafft sie den Rahmen für ihr Auftreten. Kann man hoffen, dass sie auch die Mittel beibringen wird, um gegen sie anzugehen? In einer miteinander vernetzten und besser informierten Welt, in der es mehrere Machtzentren gibt, ermöglicht die Globalisierung die Bildung operationeller Strukturen wie den Globalen Verbund zur Warnung und Reaktion bei Krankheitsausbrüchen (Global Outbreak Alert and Response Network - GOARN) der WHO. Der in 120 Ländern vertretene Verbund soll feststellen, warnen und im gesundheitlichen Notfall reagieren. "Die Zusammensetzung des Netzwerks aus zahlreichen unabhängigen Akteuren und der kontinuierliche Austausch von Informationen gewährleisten seine Unabhängigkeit gegenüber den Regierungen und der Leitung der WHO", meint Olivier Vilaça, Experte für politische Geografie und ehemaliger Verantwortlicher für Finanzierungspartnerschaften mit dem Privatsektor für den Global Fund to fight AIDS, Tuberculosis and Malaria. Als Kommunikationswerkzeug erschwert das Netzwerk gewissen Staaten die Verheimlichung eines Risikos. Indem es einen operationellen Rahmen liefert, führt es Akteure aus verschiedenen Sektoren zusammen und gewährleistet dadurch im Notfall eine rasche Reaktion.

Ist der Grund für die Öffnung der WHO gegenüber diesen Netzwerken eventuell in ihrer eigenen Unfähigkeit zu suchen, sich als legitime Koordinatorin im Kampf gegen AIDS durchzusetzen? Für Olivier Vilaça hat diese "Unfähigkeit, Prävention und Behandlung zu berücksichtigen", neuen Akteure mit unterschiedlichsten Hintergründen, Mitteln und Interessen Tür und Tor geöffnet. Mit Blick auf den Global Fund to fight AIDS, Tuberculosis and Malaria, UNAIDS, GAVI, Aktivistennetzwerke wie ActUp, private Stiftungen, transnationale Unternehmen und Wissenschaftsgemeinschaften sind Epidemien zu jedermanns Sache geworden. Die Globalisierung markiert das Ende einer Zeit, in der die Geschicke der Weltgesundheit durch ein paar Staaten oder eine einzige internationale Instanz gelenkt wurden, und den Anfang einer Zeit, in der zahlreiche ungleiche Akteure die Bühne betreten.


Widersprüchliche Interessen

Heterogene Akteure und mehrdimensionale Probleme führen auch zu widersprüchlichen Interessen. Obwohl solche Konstellationen manchmal auch sehr langsam funktionieren, gestatten sie es doch auch, im Hinblick auf so schwierige Themen wie die Epidemien gewisse Tabus zu brechen. Was ist das für eine Globalisierung, die zahlreichen Ländern der südlichen Halbkugel die Medikamente vorenthält, die im Norden hergestellt werden und deren Zusammensetzung patentgeschützt ist? Ein Abkommen der WTO (Welthandelsorganisation) aus dem Jahr 1995, das 2001 überarbeitet wurde, schwächt dieses Eigentumsrecht ab und erlaubt den Regierungen die Ausstellung einer Zwangslizenz für die Herstellung eines patentierten Wirkstoffes. Im Allgemeinen wird diese Lizenz auf die Verwendung im Land beschränkt. Dazu gehört auch die Überweisung einer nicht genannten Summe an den Eigentümer des Patents. Da es ungenau ist, führt dieses Abkommen regelmäßig zu Konflikten zwischen Aktivisten, Pharmaunternehmen und Staaten, die Problemen der Volksgesundheit begegnen müssen. Für Olivier Vilaça "spiegelt die Patentdebatte die Spannung wider, die heute zwischen dem alten Welthandelssystem und der Sichtweise der Gesundheit als einem globalen öffentlichen Gut, das hauptsächlich von nichtstaatlichen Akteuren getragen wird, herrscht."

Wenn die Angst vor einem dritten Weltkrieg die westlichen Nationen dazu gebracht hat, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts näher zusammenzurücken, wird die Bedrohung durch eine Pandemie dann groß genug sein, um eine Steuerung auf Weltebene umzusetzen, die den weltumspannenden Herausforderungen der Gesundheit gerecht wird? "Durch die Globalisierung können sich die Krankheiten in ungeahnter Geschwindigkeit und in einem enormen Ausmaß verbreiten. So verpflichtet sie auch zum Aufbau einer weltweiten politischen Szene, um zu zeigen, dass sie nicht nur eine wirtschaftliche Dimension hat", sagt Olivier Vilaça. Bleibt zu hoffen, dass die Aussage des Nobelpreisträgers für Medizin von 1928, Charles Nicolle, keine leeren Worte bleiben: "Das Wissen um Infektionskrankheiten lehrt die Menschen, dass sie Brüder und solidarisch sind."


MEHR EINZELHEITEN

Das globale Dorf im Alarmzustand

Seit 2007 sind die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IHR) in Kraft, die laut WHO eine wahre Revolution (3) darstellen. Sie ersetzen die Vorschriften von 1969 und erweitern ihren Umfang, der sich bislang auf wenige Krankheiten beschrankte, auf alle Notfalle, die internationale Ausmaße erreichen konnten. Ihre Losung: die rechtzeitige Aufdeckung von Krankheiten und ihre Bekämpfung am Ursprungsort, bevor sie zu einer internationalen Bedrohung werden. Um dies zu erreichen, haben sich 193 Staaten sowie zahlreiche öffentliche und private Partner zur Unterstützung dieser Ziele verpflichtet. Die IHR überschreiten die Staatsgrenzen und verringern damit das Risiko, dass die Staaten im Fall einer Gesundheitskrise Tatsachen vertuschen und Maßnahmen hinauszögern.

Die WHO ist sich dessen bewusst, dass 155 Länder unter den Unterzeichnerstaaten nicht die Mittel besitzen, um alle Vorschriften zu erfüllen. Deshalb hilft sie diesen Ländern dabei, die notwendigen Strukturen zu errichten, damit die IHR umgesetzt werden können. Obwohl Margaret Chan, Generaldirektorin der WHO, schätzt, dass "universelle Bedrohungen" eine "weltweite Solidarität" benötigen, bleibt Yannick Jaffre, Anthropologe am französischen Nationalen Forschungszentrum (Centre National de la Recherche Scientifique - CNRS) (FR), realistisch, da er die Hilfe der reichen Länder als eine "notwendige Versicherung" ansieht. Bei der Einrichtung von GOARN durch die WHO im Jahre 1996, der Errichtung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten 2005(4) oder auch der Eröffnung des europäischen Forschungsnetzes MED-Vet-Net (5) 2004, das sich mit Zoonosen befasst, handelt es sich um Initiativen, die das Engagement - zumindest der reichen Länder - bekräftigen, sich mit einem Mechanismus auszustatten, der den Herausforderungen einer globalisierten Gesundheit gerecht wird.


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Bioterrorismus, mehr Angst als Schaden?

Viren, Bakterien, Pilze - der Bioterrorist hat die Qual der Wahl unter den Krankheitserregern, deren Zahl auf rund 180 geschätzt wird. Dennoch scheint der Bioterrorismus eher eine psychologische Waffe zu sein als eine wahre Bedrohung der Gesundheit. Wird er nur mit wenigen Mitteln ausgeübt, ist er nicht besonders wirksam. Einen hoch pathogenen Keim zu entwickeln und diesen auch wirksam zu verbreiten, dazu bedarf es komplexer Mechanismen und technischer Hilfsmittel, die nur großen Organisationen, etwa Regierungen, zur Verfügung stehen. Die - selbst unsachgemäße - Handhabung eines Pathogens wie dem Milzbrandbazillus an einem öffentlichen Ort würde sich, zumindest örtlich, verheerend auswirken.

Da die Zivilbevölkerung ein beliebtes Angriffsziel ist, stellt ihr Schutz für die Behörden eine echte Herausforderung dar. Soll man die Bevölkerung vorsorglich impfen, die öffentlichen Plätze mit "Wächtern" ausstatten - etwa mit genetisch veränderten Pflanzen, die ihre Farbe ändern, sobald sie mit einem bestimmten Wirkstoff in Kontakt kommen - oder müssen spezielle Luftfilter eingesetzt werden, um die Ausbreitung zu verhindern? Sind die Krankenhäuser entsprechend ausgestattet und das Personal auf eine solche Krise vorbereitet? Zumindest sind Psychosen und Panik zu vermeiden, Warn- und Reaktionsanlagen aufzustellen und operationelle Strukturen zu pflegen. Allein zwischen 2003 und 2004 haben die USA zusätzliche 1,7 Mrd. USD investiert, um ihre Postdienste abzusichern.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Aedes albopictus, einer der Überträger des Chikungunya- und des Dengue-Virus.

Die Grüne Meerkatze (Cercopithecus aethiops), ein kleiner Primat, der in der Subsahara und Lateinamerika lebt, kann Gelbfieber verbreiten. Das Gelbfiebervirus (Amaril) zirkuliert ständig unter den Populationen dieser Affenart, weil Mücken (etwa Aedes africanus oder haemagogus) Überträger dieser Krankheit sind.

Der WHO zufolge werden in den kommenden 20 Jahren 70 % aller durch Tabakkonsum verursachten Todesfälle unter den Einwohnern der Entwicklungsländer zu beklagen sein.


Quellen:
(1) www.asmp.fr/travaux/communications/2007/parodi.htm
(2) www.nature.com/embor/journal/v5/n1s/full/7400226.html
(3) OMS, Rapport sur la santé dans le Monde 2007, www.who.int/whr/2007/
(4) European Centre for Disease Prevention and Control, ecdc.europa.eu/
(5) www.medvetnet.org/cms/



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Quelle:
research*eu - Nr. 59, März 2009, Seite 18-20
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2009