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ARTIKEL/404: Gepflegter Umgang? "Beziehungsgestaltung in der Psychiatrie 1970 bis 2010" (Soz. Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 133 - Heft 3, Juli 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Gepflegter Umgang?

Von Sibylle Prins und Renate Schernus


Sibylle Prins und Renate Schernus sprachen auf dem Podium der DGSP-Jahrestagung 2010 über "Beziehungsgestaltung in der Psychiatrie 1970 bis 2010". Besonders spannend dabei: Psychiatrie-Erfahrenen-Perspektive trifft auf Profi-Perspektive. Hier die gekürzte Fassung des Dialogs.

Sibylle: Renate, wie habt ihr vor vierzig Jahren das Thema "Beziehungsgestaltung in der Psychiatrie" diskutiert?

Renate: Wir sprachen wohl eher von Umgang oder von Begegnung. Die Anfänge der Psychiatriereform habe ich um 1970 in Bethel bei Bielefeld als junge, fachlich und sozialpolitisch völlig unerfahrene Psychologin miterlebt.

Sibylle: Kannst du sagen, was damals deine Ausgangsmotivation für die Arbeit mit Menschen war?

Renate: Ich war, glaube ich, vorrangig motiviert durch so was Unspektakuläres wie das Interesse an Menschen. Und zunehmend mehr war ich verblüfft über ihre Gestaltungskraft im Umgang mit Krankheit und sozialen Umständen. Mir wurde bewusst: Krankheit wird nie nur erlitten, sondern immer auch gestaltet.

Sibylle: Warst du nicht auch mal so was wie leitende Psychologin?

Renate: Ja, das war ich einige Jahre lang, und insofern hatte ich mit Kollegen zu tun, die in der Psychiatrie arbeiteten. Von ihnen bekam ich natürlich mit, was sich dort tat und vor allem was sich dort nicht tat. Die Psychiatrie in Bethel befand sich, zumindest was die psychiatrische Klinik betraf, bis 1984 im konservativen Tiefschlaf.

Wann hattest du denn deine ersten Berührungen mit der Psychiatrie, und wie hast du in der Rolle als Patientin damals das Beziehungsklima in der Psychiatrie erlebt?

Sibylle: Das war Mitte der Achtzigerjahre. Ich hatte ganz stark das Gefühl, dass Mitarbeiter und Patienten in zwei strikt voneinander getrennten Welten lebten. Hier die Mitarbeiter in ihren diversen Dienstzimmern, dort die Patienten auf der Station. Ich hatte weiterhin den Eindruck, diese strikte Trennung sei auch so gewollt und die Mitarbeiter befassten sich nur mit uns, um etwas anzuordnen, zu kontrollieren oder zu beaufsichtigen.

Renate: Du hattest doch bestimmt auch Erfahrungen mit niedergelassenen Psychiatern und ambulant arbeitenden Therapeuten. Konntest du da bessere Erfahrungen machen?

Sibylle: Ja, zum Glück. Da gab es dann sehr viel mehr Zeit und Raum auch für Persönliches. Allerdings habe ich diese einseitige Gesprächssituation oft als sehr künstlich empfunden. Und weil ich anfangs eine ziemlich hohe Gesprächsdichte hatte, ergab sich da mitunter eine recht große Abhängigkeit von den Therapeuten. Das hat mich manchmal gestört, das wollte ich nicht. Damals war der Begriff Psychotherapeut noch nicht geschützt, und ich landete in so einer Modepraxis, die später wegen missbräuchlicher und manipulativer Therapiemethoden in die Kritik und in die Medien geriet.

Renate: Ich glaube, zu der Zeit war einiges dieser Art in Mode - von Sensitivity-Training bis zum Urschrei. Manche Teams waren so munter auf dem Selbsterfahrungstrip, dass sie vor lauter Klärung der Beziehungen untereinander vergaßen, wofür sie eigentlich bezahlt wurden. In den Kernfeldern der Psychiatrie beeinflusste die Sache mit den strikt getrennten Welten noch ziemlich lange die Arbeit. Die Weltentrennung war tatsächlich so gewollt und wurde für psychosekranke Menschen noch verschärft durch die Ideologie der prinzipiellen Unverstehbarkeit psychotischen Erlebens.

Bist du eigentlich noch Vertretern dieser Ideologie begegnet? Und wenn ja, was hat das bei dir ausgelöst, wie verändert sich dadurch die Beziehung?

Sibylle: Die Oberärztin meiner ersten Klinik war der Meinung, Gespräche seien gefährlich für Psychotiker. So hat man mit uns eben nicht geredet. Weder über die Psychose noch über die Diagnose und was diese bedeutet, auch über die Medikamente habe ich nichts erfahren dürfen - weder was das für Pillen waren, noch wozu sie gut sein sollten, wie sie überhaupt hießen, welche Nebenwirkungen sie hatten usw. Das habe ich dann alles von meinen Mitpatienten erfahren. Du, Renate, hast damals die Ideologie der Unverstehbarkeit hoffentlich nicht geschluckt?

"Die Oberärztin meiner ersten Klinik war der Meinung, Gespräche seien gefährlich für Psychotiker"

Renate: Na ja, sie ist mir noch während meines Studiums als Lehrstoff eingeflößt worden. Erst später stieß ich dann auf phänomenologisch-anthropologische und daseinsanalytische Anstöße, die Gegenpositionen zu der prinzipiellen Unverstehbarkeit psychotischer Erlebnisweisen einnahmen. Das Wichtigste waren aber konkrete Begegnungen mit psychisch erkrankten Menschen. Die halfen mir ziemlich schnell, das bloß Angelernte zu relativieren.

Den ersten Kontakt zu einer psychiatrischen Klinik hatte ich Anfang der Siebzigerjahre. Eine etwa achtzehnjährige anfallskranke Klientin war zusätzlich an einer Psychose erkrankt und dort eingeliefert worden. Das Mädchen wirkte auf mich völlig verzweifelt und wollte nun von mir wissen, warum sie eigentlich in dieses seltsame Gebäude verschleppt worden war. Keiner hätte ihr irgendetwas erklärt, keiner wolle mit ihr sprechen, sie könne dieses Schweigekartell nicht länger ertragen. Mir kamen diese Äußerungen keineswegs psychotisch, sondern menschlich sehr verständlich vor. Der Eindruck drängte sich mir auf, dass die junge Frau in dieser Klinik vor allem an einer kompletten Beziehungsverweigerung litt.

Sibylle: Und was fällt dir ein, wenn du die heutigen Verhältnisse in der Psychiatrie mit diesem Erlebnis vor vierzig Jahren vergleichst?

Renate: Es herrscht kein Unverstehbarkeitsdogma mehr und auch kein alleiniger Zuständigkeitsanspruch der Ärzte. Das ist jedoch nicht alles, was sich auf deine Frage sagen lässt. Ein Beispiel: Ende 2009 wird mir eine junge Frau, gerade genesen von einer heftigen, aber rasch wieder abgeklungenen Psychose, von der Klinik übermittelt. Die junge Frau ist schwer geschockt von dem Erleben der Psychose - aber ebenfalls von dem Erlebnis der Psychiatrie. Keiner habe versucht, ihr bei der Einweisung zu erklären, worum es ginge, was das für ein Haus sei. Die Behauptung, man bringe sie in ein Krankenhaus, habe sie nicht glauben können, dazu habe es überall zu dreckig und unfreundlich ausgesehen. Allmählich habe sie begriffen, wo sie sich befand. Die Mitarbeiter seien recht nett gewesen, aber keiner habe ausreichend Zeit gehabt, mit ihr über ihre albtraumhafte Psychose zu sprechen, der sie völlig ratlos und mit großem Schamgefühl gegenüberstand. Obgleich also Ärzte und Mitarbeiter bei weitem aufgeschlossener sind als vor vierzig Jahren, schien es der Patientin nicht viel besser ergangen zu sein als dem jungen Mädchen, das ich vor vierzig Jahren in der Klinik aufsuchte.

Sibylle: Das kann ich aus meiner Selbsthilfearbeit nur bestätigen. Die Klagen der Betroffenen haben sich so gut wie nicht geändert. Insbesondere Menschen, die zum ersten Mal in eine psychiatrische Klinik kommen, erleben diese noch genauso wie vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren. Das bezieht sich vor allem auf das Fehlen von Gesprächen.

Renate: In den letzten Jahren drängt sich mir der Eindruck auf, dass den Patienten jetzt zwar nicht mehr aus ideologischen Gründen das Gespräch verweigert wird, aber aus ökonomischen.

Sibylle: Ich hatte anfangs übrigens kein bisschen das Ansinnen, mit der Psychiatrie oder psychiatrischen Mitarbeitern in irgendeine Art von Beziehung eintreten zu wollen die Polizei hat mich dort hingebracht, und bei meinem ersten Aufenthalt habe ich die ganze Zeit eigentlich nicht gewusst, warum ich überhaupt in der Psychiatrie bin. Was ist denn mit jenen Psychiatrie-Erfahrenen, die sich auch langfristig weigern, Beziehungen mit Psychiatriemitarbeitern, egal aus welchem Bereich, einzugehen?

Renate: Du denkst wahrscheinlich an Menschen, die vereinsamen, verwahrlosen, sich selbst oder andere schädigen und denen der Gedanke, sie könnten psychisch erkrankt oder behandlungsbedürftig sein, völlig fremd ist, oder vielleicht auch an Menschen, die schlechte Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht haben. Um das Vertrauen von Menschen zu gewinnen, die in einer völlig eigenen Welt leben, muss man oft viele Umwege machen. Oft fehlen jedoch die zeitlichen Möglichkeiten, jemandem so nachzugehen, wie er es nötig hätte.

Sibylle: Grundsätzlich scheinen mir beim Thema Beziehungen zwei Gefahren zu lauern: erstens die zu große Distanz, bei der es gar keine Grenzüberschreitung von Welt zu Welt mehr gibt, und zweitens die aufdringliche, eindringende Grenzüberschreitung.

Renate: Klaus Dörner hat einmal sinngemäß gesagt: Ich habe mich in einer Beziehung so zu begrenzen, dass ich meine aktiven Schritte in eine passive Grundhaltung einbette.

Mein Problem mit den heutigen so vollmundig propagierten neuen Werten von Empowerment über passgenaue Hilfen, Zielplanung usw. ist, dass das alles zwar nicht falsch ist, dass es aber vereinseitigt wird und in Gefahr steht, die Fundierung in der passiven Grundhaltung zu verlieren, zumal diese sich weder standardisieren noch messen lässt.

Sibylle: Bevor wir das vertiefen, möchte ich doch noch wissen, wie du in den Siebziger-/Achtzigerjahren überhaupt einen offiziellen Fuß in die psychiatrische Festung bekommen hast?

Renate: Das war 1985. Erst mit Niels Pörksen als leitendem Arzt war die Ära der konservativen, stark medizinisch orientierten Psychiatrie in Bethel endgültig zu Ende.

Sibylle: Konnten sich Patienten in den Jahren davor keinerlei Gehör verschaffen?

Renate: Doch, dafür spielte der so genannte Mannheimer Kreis, der Vorläufer der DGSP, eine wichtige Rolle. Beim Abschlussplenum der fünften Tagung des Mannheimer Kreises im Mai 1972 zum Beispiel kamen die meisten Redebeiträge von Patienten, die längerfristig stationär untergebracht waren. Es war die erste Tagung, die gemeinsam mit Patienten durchgeführt wurde.

Sibylle: Heute tut man ja so, als sei die Sache mit der "gleichen Augenhöhe" etwas Neues. Aber genau dies scheinen damals die Bewohnerinnen und Bewohner der Langzeitbereiche laut und öffentlich gefordert zu haben.

Renate: Ja, sie forderten unter dem Stichwort "Gleichberechtigung" unter anderem, dass die Gespräche der Therapeuten nicht hinter ihrem Rücken geführt werden sollten. Auch erinnere ich mich, dass die Entlassungssituation kritisiert wurde, die so schlecht sei, weil die Gesellschaft über psychische Krankheiten nicht im positiven Sinn aufgeklärt werde. Ferner forderten sie die Einführung von Gruppengesprächen und Rollenspielen in den Heimen, und sie wollten, dass Psychologen eingestellt würden, von denen sie sich verständnisvolles Zuhören erhofften.

Sibylle: Wie kam es, dass die Patienten nun plötzlich den Mut fanden, sich so kritisch zu äußern?

Renate: Hinter der Ermutigung solcher Kritik steckten natürlich auch kritische, unangepasste Mitarbeiter, aber der 0-Ton der Anliegen der Patienten war unverkennbar. Sie forderten andere Beziehungen, und zwar auf drei Ebenen: auf der Ebene der Gesellschaft, auf der Ebene der Beziehung zu den Mitarbeitern und auf der Ebene der Beziehungen untereinander.

Sibylle: Das mit den Mitarbeitern und der Gesellschaft scheint mir auf Anhieb verständlich, aber was meinst du mit Beziehungen der Patienten untereinander?

Renate: Die Beziehungen der Patienten untereinander wurden beispielsweise beeinträchtigt durch die verordnete Geschlechtertrennung, aber auch durch die damaligen katastrophalen räumlichen Bedingungen also sozusagen das Gegenteil von gestaltet. Man kann schon einen Hass auf seine Mitpatienten bekommen, wenn man in einem großen Schlafsaal nächtens zwanzigmal durch das Schlurfen zur Toilette gestört wird, mit all den entsprechenden Nebengeräuschen, oder wenn man in einem engen Waschraum mit zehn Waschbecken nebeneinander unvermeidbar von den anderen bespritzt wird. In dieser Hinsicht hat sich immerhin sehr viel zum Positiven verändert.

Sibylle: Ich höre aber in den letzten Jahren zunehmend öfter auch von Mitarbeitern, dass sie unzufrieden sind mit derzeitigen Entwicklungen. Wie war das denn damals?

Renate: Ich würde mal so sagen: Wir waren begeistert unzufrieden. Wir waren überzeugt, wenn wir dranbleiben, wird sich was ändern. Der Feind war identifiziert, die Fronten klar. Wir wollten eine menschenwürdige Psychiatrie, und der medizinisch-konservative Flügel verhinderte sie. All das hatte zur Folge, dass eine Zeit des manchmal recht chaotischen Experimentierens mit neuen Begegnungs- und Beziehungsformen zwischen Patienten, Mitarbeitern und sonstigen Bürgern, insbesondere Studenten, anbrach. Neue Wohnformen wurden ausprobiert, demokratische Patientenversammlungen abgehalten, Patientenclubs gegründet usw. Der Krankheitsbegriff wurde infrage gestellt, unter anderem weil man meinte, dass dadurch echte Beziehungen unmöglich würden.

"Wir waren begeistert unzufrieden. Wir waren überzeugt, wenn wir dranbleiben, wird sich was ändern"

Sibylle: Du erwähnst jetzt zum ersten Mal außer Mitarbeitern und Patienten auch Bürger. Gab es so etwas wie eine psychiatriefreundliche Bürgerbewegung?

Renate: Man muss sehen, dass unsere damaligen Diskussionen in einen vielschichtigen, weit über die Psychiatrie hinausgehenden gesellschaftlichen Diskurs eingebettet waren. Unter anderem spielte die 68er-Bewegung mit ihrer Infragestellung autoritärer Strukturen hinein. Vertieft und differenziert wurde unsere Haltung zum bestehenden psychiatrischen System durch die beginnende Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die während der Naziära an behinderten und psychisch erkrankten Menschen begangen worden waren.

Sibylle: Warst du eigentlich an der DGSP-Denkschrift vom September 1979 "Holocaust und die Psychiatrie - oder der Versuch, das Schweigen in der Bundesrepublik zu brechen" beteiligt?

Renate: Nein, ich war lediglich an einer Arbeitsgruppe beteiligt, die Art und Grad der Verstrickungen Bethels in Ideologie und Verbrechen der Naziära zu erforschen versuchte. Es war bestürzend zu erkennen, dass Mitarbeiter in der Psychiatrie der Dreißigerjahre im Prinzip nicht als moralisch schlechter anzusehen sind als wir heutigen, dass sie verstrickt waren in damals moderne, angeblich wissenschaftlich belegte Ansichten. In den damaligen Diskussionen spielte die Erkenntnis eine Rolle, dass die "Euthanasie" nicht einfach von einem bösen Diktator befohlen worden ist, sondern dass bereits vor 1933 Mentalitätsveränderungen stattfanden, die es mit gutem Gewissen möglich machten, psychisch kranken und behinderten Menschen eben nicht mehr zu begegnen, sich von ihnen und ihren Geschichten nicht berühren zu lassen; Mentalitätsveränderungen, die es ermöglichten, Mitleid und Barmherzigkeit als Haltung verweichlichter Schwächlinge zu diskriminieren. Und wer damals im mentalen Mainstream lag, durfte sich auf der Seite von Wissenschaft und Fortschritt wähnen.

Sibylle: In welcher Weise spielt denn dies alles für die Beurteilung unserer heutigen Situation eine Rolle?

Renate: Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Sind wir in der Lage früh genug zu erkennen, was gesellschaftlich vorgeht? In welche Helferideologien sind wir heute verstrickt? Wie beeinflusst gesellschaftlicher Kontext unser heutiges Handeln? Was lähmt uns, gegen Missstände anzugehen?

Sibylle: Und wie würdest du die von dir aufgeworfenen Fragen beantworten?

Renate: So etwa um 1990 herum konnte ich mich des Eindrucks nicht mehr erwehren, dass sich die Art, wie über Patienten und Klienten gesprochen wurde, deutlich veränderte. Wir waren in den Jahren vorher langsam vom Patienten zur Person vorgedrungen, von der Krankengeschichte zur Lebensgeschichte, da veränderte sich die Person schon wieder in den "Kunden", und die Arbeit der Mitarbeiter wurde zu "Produkten". Zum Kunden gehört eine ganz bestimmte Beziehungsstruktur. Mit Kunden macht man Verträge und verkauft Produkte. Leiter von sozialen Einrichtungen wurden zu Managern, ihre Arbeitsbereiche zu Geschäftsfeldern.

"Wir waren langsam vom Patienten zur Person vorgedrungen, von der Kranken- zur Lebensgeschichte, da veränderte sich die Person schon wieder in den 'Kunden', und die Arbeit der Mitarbeiter wurde zu 'Produkten'"

Sibylle: Gab es denn in den sozialen Arbeitsbereichen keine Gegenwehr gegen dieses ja deutlich marktkonforme Denken und die damit verbundene Sprache?

Renate: Ich glaube, manche dachten: Endlich kommt mal Transparenz in das ganze kryptische Beziehungsgemunkel, hinter dem sich doch womöglich nur Kaffee trinkende Sozialarbeiter verbergen. Und Tatsache ist ja auch, dass es Gemunkel, Eigeninteressen von Institutionen, Intransparenzen usw. gab. Welche Folgen die Ausweitung der Marktlogik in Verbindung mit überbordenden bürokratischen Kontrollsystemen auf den Umgang mit Menschen in den Kliniken und Diensten haben würde und wie unerbittlich diese Marktlogik weiter vorangetrieben werden würde, war anfangs nicht deutlich erkennbar, trat ja auch gemeinsam mit schönen Konzepten zur Qualitätssicherung auf, die suggerierten, alles solle immer noch besser werden. Außerdem schien sich das neue Beziehungsspiel zwischen Verkäufer bzw. Anbieter und Kunden zunächst recht gut mit anderen fachlichen Konzepten von Autonomie, Selbstbestimmung, Empowerment und auch mit der aktivierenden Sozialpolitik zu vertragen. Der mündige Kunde, nicht mehr der befürsorgte Patient oder Klient - ist das nicht eine prima Rolle für euch Psychiatrie-Erfahrene?

Sibylle: Mich hat an dieser Diskussion von Anfang an skeptisch gestimmt, dass zur gleichen Zeit in der allgemeinen Politik auch dauernd von "Selbstbestimmung" und "Eigenverantwortung" die Rede war, dass dies in der Praxis aber bedeutete, dass der Staat oder die Solidargemeinschaft sich zurückzogen und dem einzelnen Bürger größere Lasten, vor allem finanzieller Art, auferlegten. Wenn aber unter "Mündigkeit" oder "Eigenverantwortlichkeit" kein größerer Gestaltungsspielraum verstanden wird, sondern eine schwerere Last, muss man auch schauen, ob der Bürger, ob nun psychisch krank oder nicht, in der Lage ist, diese Last zu tragen. Und als "Kunde" kann ich natürlich auch an einen Neppladen geraten, wo ich bloß über den Tisch gezogen werde. Darüber hinaus kann man im Zuge einer psychischen Krise mit seiner Selbstbestimmung auch mal an Grenzen geraten. Wer fühlt sich dann noch verantwortlich? Ich denke, der Einzelne ist nicht nur für sich selbst und die Gemeinschaft verantwortlich. Sondern die Gemeinschaft hat auch eine Verantwortung für den Einzelnen. Für einen "Kunden" aber fühlt sich niemand verantwortlich.

Renate: Verstehst du dich etwa nicht als Kundin? Wie ist es bei dir mit den Anbietern? Was nimmst du in Anspruch?

Sibylle: Eigentlich gehe ich nur so zirka einmal im Quartal zu meiner Psychiaterin. Da bin ich dann fünf Minuten drin, wir unterhalten uns meist über Nebensächliches, und sie stellt mir ein Rezept aus. Mehr will ich da auch gar nicht. Für mich ist das zurzeit okay, aber für jemanden, der erstmalig erkrankt ist oder sich in einer schwierigen Lage befindet, ist das viel zu wenig. Manche Ärzte sind ja ganz engagiert und tun ihr Bestes, aber sie müssen hält eine bestimmte Anzahl Patienten haben, um klarzukommen.

Für die Psychiatrie-Erfahrenen ist übrigens das Argument der Ökonomisierung meist nicht ersichtlich - die nicht stattfindenden Gespräche beispielsweise führen sie oft auf Unwilligkeit oder Bösartigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurück. Ansonsten beobachte ich, dass es riesige Unterschiede in der Behandlung und Betreuung der einzelnen Psychiatrie-Erfahrenen gibt. Es gibt Leute, die erleben die Klinik heute noch ganz genauso wie ich vor fünfundzwanzig Jahren. Andere kriegen bei einem Klinikaufenthalt alles: mehrere Einzelgespräche mit der Psychologin, Einzel- und Gruppenmusiktherapie, Psychosegruppe, Seelsorgegruppe usw. Zu meinem Leidwesen sind es nach meiner subjektiven Beobachtung eher die hoffnungsvolleren und fitteren Patienten, die diese "schönen" Angebote bekommen, gerade nicht die kränkeren.

Renate: Wie siehst du die Sache mit dem gepflegten Umgang denn im ambulanten Bereich?

Sibylle: Ich glaube, viele Psychiatrie-Erfahrene machen beim betreuten Wohnen gute Erfahrungen. Langjährige, vertrauensvolle Beziehungen sind für viele Psychiatrie-Erfahrene sehr wichtig, mitunter überlebenswichtig. Zumal wenn sie sonst keine oder keine sehr tragfähigen sozialen Netzwerke haben. Ich frage mich sowieso, wieweit man informelle Beziehungen einseitig mit Problemen belasten kann, mit psychischen Problemen, aber auch mit Sachfragen. Irgendwann können Angehörige oder Freunde die psychische Not auch nicht mehr aushalten, fühlen sich hilflos. Natürlich werden diese Beziehungen auch nicht immer positiv gesehen: Manche erleben ihre Betreuer sehr bevormundend oder als "Antreiber" oder "Kontrolettis". Wieder andere sind enttäuscht, weil ihre Erwartungen und Wünsche nach Verständnis und Geborgenheitsgefühlen nicht erfüllt werden. Unterschiedlich gesehen werden übrigens auch die Beziehungen an so genannten geschützten Arbeitsplätzen, z.B. in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Während einige auch da sehr zufrieden sind, kommen von anderen ernst zu nehmende Klagen, dass die Unterschiede zwischen den "gesunden" pädagogischen Mitarbeitern und den "kranken" Beschäftigten sehr stark ausgespielt würden. Von anderen hörte ich, dass der Arbeits- und Auftragsdruck stark zugenommen habe und von einem "geschützten" Arbeitsplatz - mit abgefederten Arbeitsbedingungen - kaum noch die Rede sein könne.

Renate: Was du beschreibst, sind kontrastreiche laufende und gegenläufige Tendenzen. Sehr positiv erlebe ich die zahlreichen außerinstitutionellen Kooperationszusammenhänge, im Rahmen derer wir beide uns ja auch nähergekommen sind, z.B. gemeinsam gestaltete Fortbildungen, Psychoseseminare, interessante Projekte wie die Peer-Beratung, Beschwerdestellenarbeit, gemeinsame Redaktionsarbeit oder sonstige Projekte, die gemeinsam von Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Profis in Angriff genommen wurden und werden. Meines Erachtens sind dies neue Umgangsformen, die nicht genug gepflegt werden können. Sie zu pflegen ist allerdings schwierig in einem Klima von Zeitnot, Minutenzählerei, Dokumentationsübertreibungen, ständigen Strukturveränderungen, Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes und einem Verständnis von Erfolg, das sich vor allem in schwarzen Zahlen ausdrückt. Ich denke, dass heutige Mitarbeiter es da schwerer haben als wir in den Siebzigerjahren, die Fronten sind alles andere als klar, das gesellschaftliche Interesse an Psychiatrie ist nicht gerade auf einem Höchststand, und die durch Ökonomie gesetzten Zwänge scheinen jedes inhaltliche Argument auszustechen.

Sibylle: Und was wünscht du dir für die Zukunft in Bezug auf den gepflegten Umgang?

Renate: Mir scheint, dass jede Zeit auf ihre Weise gefährdet ist, speziellen, zeitgeistabhängigen Versuchungen zu erliegen, Versuchungen, sich Begegnung und Beziehung zu entziehen. Solche Versuchungen kommen meist getarnt daher, z.B. als neue wissenschaftliche Erkenntnisse, gerade in Mode gekommene fachliche Ideale oder als angebliche Sachzwänge. Für die zwischenmenschliche Begegnung in der Psychiatrie wünsche ich mir, dass das, was in den Psychoseseminaren so im Vordergrund steht, die verständnisvolle Annäherung an die Erfahrungen Betroffener und die gemeinsame Erarbeitung von Sichtweisen zwischen den Beteiligten, viel mehr Wurzeln auch im Alltag der Kliniken und Dienste schlägt. Aber psychisch erkrankte Menschen, die bei diesen Aktivitäten nicht mithalten können, sind nach wie vor auf Kliniken und Dienste angewiesen, und was da im Augenblick an Ressourcen zurückgefahren wird und gleichzeitig an lebensfremden Dokumentationsrastern gefordert wird, darf bei der jetzt manchmal vorherrschenden Empowerment- und Recovery-Euphorie nicht vernachlässigt werden. Jetzt aber zu dir, Sibylle. Was wäre in deinen Augen das Wichtigste, damit der Umgang in der Psychiatrie sich in unserer Gegenwart als ein gepflegter erweist?

"Was da an Ressourcen zurückgefahren und an lebensfremden Dokumentationsrastern gefordert wird, darf bei der manchmal vorherrschenden Empowerment- und Recovery-Euphorie nicht vernachlässigt werden"

Sibylle: Auf die Gefahr hin, dass das ein alter Hut ist, möchte ich doch noch mal die Forderung aufstellen, dass Menschen, die mit der Psychiatrie zu tun bekommen oder denen eine bestimmte Maßnahme empfohlen wird, gut und ausführlich informiert werden. Dann erhoffe ich mir, dass die Unterstützung engagiert geschieht, das heißt jetzt nicht überaktiv oder gar übergriffig, sondern mit innerer Beteiligung; dass die Mitarbeiter wirklich interessiert sind an dem Schicksal der Patienten oder Klienten und nicht einfach "Fälle abarbeiten". Ich wünsche mir auch eine positive, ermutigende Grundhaltung.

Renate: Kannst du noch etwas genauer sagen, was du darunter verstehst?

Sibylle: Bei allem, was sich dann manchmal doch nicht verwirklichen lässt, ist es mir ein großes Anliegen, dass niemand aufgegeben wird. Oft ist es ja wichtig, dass Helfer die Hoffnung stellvertretend für den Betroffenen aufrechterhalten. Dass sie, ohne die Probleme zu beschönigen, auch immer die Fähigkeiten und positiven Seiten des Klienten im Blick behalten. Dass Mitarbeiter, wenn sie zum Beispiel von einem Psychoseseminar oder etwas anderem hören, das nicht von vornherein pauschal abwehren mit dem Satz "Mit unseren Klienten geht das nicht". Dass man den Psychiatrie-Erfahrenen die Zeit lässt, die sie brauchen. Und dass Mitarbeiter einen weiten Horizont haben, was mögliche und auch "nicht normale", unbürgerliche Lebensmodelle angeht, dass sie auch mal die fachliche Brille abnehmen können und den Menschen, um den es geht, nicht ausschließlich durch ein Geflecht von diagnostischen Begriffen betrachten, sondern einfach schauen: Was ist mit diesem Menschen los? Insbesondere ist mir dabei auch wichtig, dass von vornherein und langfristig beachtet wird, dass auch Psychiatrie-Erfahrene ganz unterschiedliche Menschen sind, trotz gleicher Diagnosen und oft ähnlicher Lebensverhältnisse.

Renate: Sprichst du da aus eigener Erfahrung?

Sibylle: Aus meiner eigenen Erfahrung heraus wünsche ich mir auch eine gewisse Bescheidenheit, was die Änderbarkeit von Menschen durch Einflüsse von außen angeht, und dass darauf geachtet wird, dass angestrebte Ziele wirklich Ziele des Klienten sind. Und ich hoffe, dass die Mitarbeiter die Freude an der Arbeit mit psychiatrieerfahrenen Menschen behalten. Das heißt nun nicht, dass sie ständig strahlen müssten oder nicht auch schlechte Tage haben dürfen, aber wenn sie eine pauschal negative oder pessimistische Sicht auf ihre Klienten entwickeln, doch innehalten und überlegen, wie es anders gehen könnte.

Sibylle Prins, ehemalige Verwaltungsangestellte, ist Autorin zahlreicher Artikel und Bücher und aktiv in Selbsthilfe, Trialog und Fortbildung. Zuletzt erschien "Tagtraumzeit - Nachdenkzeit - Lächelzeit" (Paranus-Verlag, 2010). Internet-Kontakt: www.sibylle-prins.de

Renate Schernus, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin, war bis zu ihrer Berentung leitende Psychologin in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Sie ist aktiv in Therapie und Fortbildung und eine der Mitinitiatoren der "Soltauer Initiative für Sozialpolitik in Ethik". Diverse Buchveröffentlichungen, zuletzt zusammen mit Sibylle Prins: "Wir sind weit miteinander gegangen - eine Psychiatrie-Erfahrene und eine Psychotherapeutin im Gespräch (Paranus-Verlag, 2009). E-Mail-Kontakt: renate.schernus@t-online.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

DGSP-Jahrestagung 2010: Sibylle Prins mit Christian Nieraese auf einer Lesung im Struwwelpeter-Museum in Frankfurt am Main

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 133 - Heft 3, Juli 2011, Seite 8 - 12
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2011

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