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ARTIKEL/418: Leitlinien für den Umgang mit Neuroleptika - ein Erfahrungsbericht (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Ein Zurück ist für niemand mehr denkbar"

Leitlinien für den Umgang mit Neuroleptika und deren Umsetzung in der sozialpsychiatrischen Arbeit - ein Erfahrungsbericht

Von Benno Volk und Stefan Feld


Angeregt durch die von der DGSP initiierte Neuroleptika-Debatte hat sich die die Stiftung Bethesda-St. Martin in Boppard Leitlinien gegeben, die zu einem veränderten Umgang mit Antipsychotika verpflichten - ein ermutigendes und nachahmenswertes Beispiel.


Die Stiftung Bethesda-St. Martin ist seit über 25 Jahren mit zahlreichen Diensten und Einrichtungen sozialpsychiatrisch tätig. In den Bereichen Wohnen, Arbeit und Beschäftigung, Therapie, Begleitung und Beratung werden insgesamt zirka 600 Personen im nördlichen Rheinland-Pfalz dezentral begleitet.

Im Zuge der Neuroleptika-Debatte sind für den Fachbereich Behindertenhilfe der Bethesda-St. Martin gemeinnützige GmbH Leitlinien für den Umgang mit Neuroleptika entwickelt worden. Vorangegangen waren intensive Diskussionen in verschiedenen Leitungsgremien und die Reflexion im Umgang mit den Wirkungen der Neuroleptika auf die von uns betreuten Menschen. Diese Thematik wurde danach intensiv in den einzelnen Einrichtungsteilen bearbeitet. Seit zwei Jahren richten wir unsere Arbeit (Assistenz und Beratung der Klienten bei Einnahme und im Umgang mit Psychopharmaka) nach diesen Leitlinien aus und können auf erste positive Erfahrungswerte verweisen.


Impulse durch Aufklärung und Fortbildung

In 2009 starteten wir mit mehreren Fachveranstaltungen, zu denen auch die (Fach-)Öffentlichkeit, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und die von uns betreuten Menschen eingeladen wurden. Unter anderem konnte auch Dr. Volkmar Aderhold gewonnen werden, der auf einem Auftaktsymposium zum Thema "Wirkungsweisen und Risiken von Neuroleptika - Möglichkeiten der minimalen Anwendung" sprach, mit anschließenden Diskussionen, und in einrichtungsinternen Fortbildungen unseren Prozess begleitete. Im Frühjahr 2010 folgte eine ganztägige Fachtagung gemeinsam mit dem Verein zur Unterstützung gemeindenaher Psychiatrie Rheinland-Pfalz e.V. Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und professionell Tätige setzten sich mit dem Leitthema "Verantwortung wahrnehmen - Konsequenzen aus der Neuroleptika-Debatte" auseinander. Es entwickelte sich die Erkenntnis, dass wir, gerade auch aus der Verantwortung für die vielen so genannten chronisch kranken Menschen in unserer Betreuung, die Risiken, die durch die langjährige Gabe von Neuroleptika entstehen können, mit beachten müssen.


Kritisch hinterfragt: die Medikation

Gemeinsam und beispielhaft für alle Einrichtungen berichten wir in diesem Beitrag über eine Außenwohngruppe in Koblenz. Dort leben 19 Personen im Alter von 30 bis 78 Jahren in einem Appartementhaus über vier Stockwerke verteilt. Es handelt sich um eine Außenwohngruppe des Hauses Bethesda in Boppard und hat den Status einer Einrichtung mit umfassendem Leistungsangebot. Im Haus arbeiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der verschiedensten Professionen. Die Mitarbeiterzahl entspricht dem gängigen Betreuungsschlüssel.

Bereits vor dem Einsetzen der öffentlichen Neuroleptika-Debatte gab es unter den Mitarbeitenden Überlegungen zu den Nebenwirkungen von Medikamenten, den damit verbundenen Auswirkungen auf das körperliche Wohlgefühl der Bewohner sowie zu der Form der Ausgabe von Medikamenten, den häufigen Arztbesuchen der Bewohner und nicht zuletzt zu dem Tatbestand, dass die Themen Medikamente und Facharztkontakte inzwischen zu einem zentralen Bestandteil unserer Arbeit geworden waren. Auch wurde immer mehr infrage gestellt, ob die Anzahl und Dosierung der verordneten Medikamente für eine Gesundung bzw. Stabilisierung der Bewohner hilfreich sind. Oder ob auch weniger Medikamente und eine niedrigere Dosierung ausreichend sein könnten und die bekannten Beschwerden über Nebenwirkungen der Medikamente sich dann reduzieren würden. Ein Großteil der Bewohner nahm gleichzeitig mindestens zwei, einige bis zu drei verschiedene, in teilweise hoher Dosierung verabreichte Neuroleptika ein. Hinzu kamen noch Medikamente, die aufgrund einsetzender somatischer Probleme verschrieben wurden, sodass eine tägliche Gabe von insgesamt 14 bis 18 Tabletten nicht selten war (ohne Bedarfs- und Depotmedikation).


Auf dem Weg zur Monotherapie

Nach mehreren Diskussionsrunden zwischen der Leitung und den Mitarbeitern des Hauses wurde beschlossen, einen neuen Weg im Umgang mit den Medikamenten zu beschreiten. Das Ziel sollte nach Möglichkeit die Monotherapie sein oder annähernd an sie heranreichen. Gleichzeitig sollten Medikamente und Arztbesuche weniger thematisiert werden und im Alltag nicht mehr einen so hohen Stellenwert einnehmen wie bisher. Auch sollte die Vergabe von Bedarfsmedikamenten überdacht und erst andere Möglichkeiten (z.B. Gespräche, gemeinsame Aktivitäten) ausprobiert werden. Vor einem Arztbesuch sollte mit dem Bewohner besprochen werden, wo aus seiner, aber auch unserer Sicht eine Veränderung der Medikation sinnvoll und möglich erscheint. Im Arztgespräch sollte von Mitarbeiterseite - das Einverständnis des Bewohners vorausgesetzt - eine dementsprechende Unterstützung erfolgen.

All das kann natürlich nur gelingen, wenn die Betroffenen mit ins Boot genommen werden. So haben wir unsere Ideen mit den Bewohner besprochen, sind auf deren Ängste eingegangen, haben die gebremst, die gar keine Medikamente mehr einnehmen wollten, und konnten insgesamt mit unseren Vorschlägen überzeugen.

Als nächsten Schritt haben wir bei den behandelnden Fachärzten für unseren neuen Ansatz geworben und um Unterstützung gebeten. Nach anfänglichen Bedenken haben sie uns auf dem Weg begleitet und sind fast immer auf die Vorschläge zur Veränderung der Medikation eingegangen. Hier galt es natürlich, auch Verantwortung zu übernehmen. Dies war uns bewusst und hat sich im Nachhinein auch als der richtige Schritt erwiesen.

Eine unserer ersten Maßnahmen war dann die veränderte Medikamentenausgabe. Die Bewohner, die bisher noch nicht eigenständig die Medikation einnahmen, erhielten bei den Mahlzeiten eine Dosette mit ihren Medikamenten zur selbstverantwortlichen Einnahme. Heute, nach inzwischen zirka zwei Jahren Erfahrung mit dieser Praxis, können wir sagen, dass die allermeisten sehr gewissenhaft mit ihren Medikamenten umgehen, und nur bei wenigen mussten wir zeitweise zu einer kontrollierten Ausgabe zurückkehren, um dann aber wieder einen neuen Versuch zu starten.

Nicht bei allen konnte das Ziel der Monotherapie bislang erreicht werden, jedoch konnten die Medikamente bis auf eine Ausnahme bei allen Betroffenen reduziert werden - zum Teil sogar drastisch.


Was sich geändert hat ...

Alle Bewohner berichten, dass sich mit der Medikationsänderung eine deutliche Reduzierung der Nebenwirkungen einstellte. Sie sind "wacher", nehmen mehr am Leben teil und stellen teilweise durch ihr "neues Verhalten" andere Anforderungen auch an die Mitarbeiter. Wir haben dies gerne angenommen, da es für uns jetzt auch möglich ist, die Bewohner für neue Aktivitäten zu gewinnen, bzw. die Bewohner uns zu Aktivitäten auffordern, was früher so nicht denkbar war. Sie stellen für sich fest, dass sie doch über ein erstaunliches Leistungsvermögen verfügen.

Insgesamt kann nach unserer Erfahrung gesagt werden, dass die Bewohner von der Reduzierung der Medikamente profitiert haben. Es kam nicht zu vermehrten Krankenhausaufenthalten, im Gegenteil, die Aufenthalte sind deutlich zurückgegangen. Die Facharztbesuche beschränken sich inzwischen auf einen im Quartal. Internistische Krankheiten und Besuche bei entsprechenden Ärzten sind auch eindeutig rückläufig. Das Thema Krankheit wird im Hausalltag heute anders besprochen und dann auch nur noch selten. Der Blick ist mehr auf die Gestaltung des eigenen Lebens oder in der Gemeinschaft ausgerichtet.

Für die Mitarbeiter ergeben sich aus Herausforderungen in der täglichen Arbeit veränderte Arbeitsansätze. Wo früher verstärkt mit Medikamenten "gearbeitet" wurde, sind heute mehr nicht medizinische Hilfen gefragt (siehe Leitlinien). Diese Anforderungen werden von den Mitarbeitern positiv aufgenommen und gemeinsam mit den Bewohnern umgesetzt. Natürlich kommt auch der eine oder andere Bewohner in gesundheitlich labile Phasen, die für ihn und andere schwierig und anstrengend sein können. Aber auch hier wird geschaut, dass dies zuerst mit den Möglichkeiten der sozialen Arbeit aufgefangen wird.

Abschließend kann gesagt werden, dass wir diesen neuen Weg gerne gegangen sind, bestimmt noch vieles verbessert werden kann, aber ein Zurück für niemand mehr denkbar ist. Vor allem die Bewohner wünschen und fordern auf diesem Weg unsere Begleitung und Unterstützung.

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Leitlinien für den Umgang mit Neuroleptika der Stiftung Bethesda-St. Martin, Boppard

Grundlage unserer Arbeit ist eine umfassende psychosoziale Betreuung. Die Einnahme von Neuroleptika kann in diesem Kontext lediglich ein Baustein sein.

Wir verstehen uns als Anwalt der Klienten/Klientinnen und vertreten deren Anliegen. In Wahrnehmung unserer Verantwortung für sie verpflichten wir uns auf folgende Leitlinien:

1. Die Einnahme von Neuroleptika ist keine Bedingung zur Inanspruchnahme unserer Betreuungsdienste.

2. Es wird im Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme kein Druck ausgeübt. Die Einnahme wird nicht per Zwang durchgesetzt.

3. Unsere Betreuungsarbeit stellt sich auch auf Menschen ein, die die Einnahme von Neuroleptika nicht oder nur in geringer Dosierung wünschen. Das erfordert konzeptionelle Veränderungen/Ergänzungen:

  • Ein/eine Mitarbeiter/-in (Bezugsbetreuer/-in, Gruppenleiter/-in) ist über die jeweilige aktuelle Medikation (Neuroleptika und andere) informiert. Die Medikation wird dokumentiert.
  • Die Verordnung und Einnahme von Medikamenten (Neuroleptika und, andere) ist ein ständiges und wichtiges Thema im Gespräch zwischen Klient/-in, Betreuer/-in und Arzt/Ärztin. Einmal im Quartal - im Bedarfsfall auch öfter - wird die Möglichkeit einer Medikamentenreduzierung erörtert. Ziel: Gering- und Monodosierung.
  • Wesentliche Vitalwerte werden regelmäßig überwacht und dokumentiert. Bei den vom Arzt/Ärztin zu erhebenden Werten achten wir auf die termingerechte Durchführung. Bei auffälligen Werten werden notwendige Maßnahmen unverzüglich mit den behandelnden Facharzt/Fachärztin bzw. der Fachklinik beraten.
  • Die Vergabe von Bedarfsmedikation erfolgt nur, wenn andere Interventionsmöglichkeiten (z.B. persönliche Zuwendung, Gespräch, Ernährung, Bewegung, atmosphärische Maßnahmen, Ablenkungsbemühungen durch andere Angebote) ausgeschöpft oder nicht möglich sind. Dabei wird streng auf die Indikationsstellung geachtet.
  • Die Kultur im Umgang mit unseren Klienten/Klientinnen wird überdacht, z.B. hinsichtlich des Orts und der Gestaltung der Medikamentenausgabe oder des Orts und der Gestaltung der Einzel-/Gesprächskontakte.
  • Das vorhandene Beschwerdemanagement wird dahin gehend erweitert, dass auch eine Bearbeitung der Thematik "Medikation" möglich ist.
  • Die Überprüfung von Gültigkeit und Anwendung dieser Leitlinien erfolgt jährlich im Rahmen der Konferenz der Einrichtungsleiter/-innen.



Benno Volk, Diplom-Sozialarbeiter, Leiter der Außenwohngruppe Moselweiß in Koblenz; Stefan Feld, Diplom-Sozialarbeiter, Leiter des Hauses Bethesda und des Gemeindepsychiatrischen Zentrums in Boppard. Beide arbeiten in der Stiftung Bethesda-St. Martin in Boppard.

E-Mail-Kontakt:
benno.volk@stiftung-bethesda.de
stefan.feld@stiftung-bethesda.de
Internet: www.stiftung-bethesda.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012, Seite 36 - 37
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2012

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