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GESCHICHTE/069: Thomas Szasz ... Psychische Krankheiten - kein Mythos, aber doch ganz anders (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 176 - Heft 2/22, April 2022
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Psychische Krankheiten - kein Mythos, aber doch ganz anders

von Jürgen Karres


60 Jahre nach Thomas Szasz' Buch "The myth of mental illness" lohnt es sich, einen erneuten Blick auf die Kernaussagen dieses epochalen Werks zu werfen. Und psychische Krankheiten dabei gut von somatischen zu unterscheiden. Thomas Szasz - so man ihn überhaupt noch kennt - wird heute meist missverstanden. Und er selbst hat zu diesen Fehldeutungen nicht unerheblich beigetragen.


Eingang in die Geschichte der Psychiatrie erfuhr Thomas Szasz, der US-amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker ungarischer Herkunft (1920 in Budapest geboren), vornehmlich durch seinen 1960 erschienenen Aufsatz "Mythos Geisteskrankheit", dem ein Jahr später ein fast gleichnamiges Buch (dt. "Geisteskrankheit - ein moderner Mythos") folgte. Liest man dies so schlagwortartig, lautet die Szasz'sche Aussage: Geisteskrankheit (resp. psychische Krankheit) gibt es nicht! Das aber meinte Szasz wohl (zunächst) gar nicht. Heißt es doch am Ende seines Essays: "Wenn ich behaupte, dass Geisteskrankheiten nicht existieren, so will ich damit nicht sagen, dass die sozialen und psychologischen Erscheinungen, die gegenwärtig mit diesem Etikett versehen werden, ebenfalls nicht existieren würden. [...] Mir geht es um die Etikettierung, die wir Lebensproblemen anheften, und darum, wie wir mit ihnen umgehen, nachdem wir sie etikettiert haben." (1960)


Der metaphorische Charakter von psychischen Krankheiten

Was also wollte Szasz ursprünglich zum Ausdruck bringen? Er wandte sich mit seiner radikalen - und m.E. nach bewusst provokanten Formulierung - gegen die herrschende Psychiatrie und ihr Konzept psychischer Krankheiten. Und er stellte das darin enthaltene Krankheitsverständnis fundamental infrage. Psychische Krankheiten seien eben nicht dasselbe wie körperliche Krankheiten! Man müsse ihren "metaphorischen Charakter" anerkennen. Heißt, sie sind "keine Krankheiten im medizinischen Sinn" (S. 20), sondern das Wort "Krankheit" werde hier nur in einer analog-metaphorischen Weise als Sprachbild verwendet. Kein Naturphänomen also, sondern vom Menschen erschaffen - und in diesem Sinne eben ein "Mythos".

Das steht auch heute diametral zu einer Biologischen Psychiatrie, die weiter und weiter versucht, psychische Krankheiten naturalistisch zu fassen. Aber genau gegen die schon damals vorgenommene Konstruktion psychischer Krankheiten als Gehirnkrankheiten wehrte sich Szasz. Gehe es doch bei den sogenannten psychischen Krankheiten realiter um "persönliche, soziale und ethische Probleme der Lebensführung" (S. 289). Und das heißt nichts anderes, als dass Szasz einer der Gründerväter der Sozialpsychiatrie ist! Nicht den möglichen Krankheitswert psychischer Probleme stellte er ja infrage, sondern deren Einordnung in ein medizinisches Modell. Stattdessen rückte er das Persönliche und Soziale in den Vordergrund. Demgemäß ist also (von Ausnahmen abgesehen) nicht ärztlich-medizinisch zu explorieren, sondern psychologisch und sozial. Wobei die Herkunft des Begriffes "psychische Krankheit" aus dem somatischen Felde wesentlich bleibt. Für Szasz ergab sich daraus die zentrale Frage: "Welchen Einfluss hatte die Medizin und insbesondere der Begriff der körperlichen Krankheit auf die Entstehung des Konzepts der Geisteskrankheit bzw. psychischen Krankheit?" (S. 42) Und man kann noch einen Schritt weitergehen und fragen, welche Folgen es hat, wenn man von psychischer Krankheit spricht.

Ich sage: Ob man medizinisch (nach Krankheit) fragt oder psychosozial (nach Lebensproblemen) - das verändert fast alles! Der medizinisch Fragende landet folgerichtig bei psychischen Krankheiten, die "wie andere Krankheiten" seien (S. 292). Eine Auffassung, die sich in den letzten Jahrzehnten sowohl in Fachkreisen als auch in der Öffentlichkeit weitgehend durchgesetzt hat. Thomas Szasz kommentiert dies in der Neuauflage seines Werkes im Jahre 2008 äußerst markant: Damit "verwandeln politische Macht und Standesinteressen eine falsche Überzeugung gemeinsam in eine 'gelogene Tatsache'" (S. 14).

Auf der anderen, psychosozialen Fährte gelangt man hingegen in eine ganz andere Landschaft: eine, die von menschlichen Problemen und Konflikten, von Fragen der Lebensführung und (belastenden) gesellschaftlichen Gegebenheiten gekennzeichnet ist. Sozialpsychologie eben, seinerzeit mit dem heute völlig unmodernen Wort "Moralphilosophie" belegt. Aber damals wie jetzt in der Nähe philosophischer und ethischer Frage stehend, wie z.B. dieser: "Wie soll der Mensch leben?"


Die Frage nach der richtigen Kategorie

Die sogenannten psychischen Krankheiten sind laut Szasz also anderen Krankheiten nicht gleich. Einzugestehen ist allerdings, dass es "Verhaltens-, Denk- und Gefühlsmuster gibt, die für einen Menschen und die mit ihm Interagierenden sehr unangenehm sein können, und dass einige dieser Muster so dysfunktional sind, dass es als adäquat erscheinen muss, sie als Krankheiten zu bezeichnen" (S. 312). Das jedoch ist gut zu unterscheiden von Krankheiten im genuin medizinischen Sinn, die zu einer gänzlich anderen Kategorie gehören.

Dass sie heute dennoch weitgehend im Zuständigkeitsbereich der Medizin angesiedelt werden, hat mit einem radikalen Umwandlungsprozess seit den 1960er Jahren zu tun, in dem es "Psychiatern und ihren mächtigen Verbündeten gelang, Wissenschaft, Gerichte, Medien und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Zustände, die sie als 'psychische Störungen' bezeichnen, Krankheiten sind" (S. 294). Dies, obwohl bis heute keine (!) Diagnose einer psychischen Krankheit pathologiebasiert ist.

Die Folgen dieses Kategorienfehlers sah Szasz vor 60 Jahren, also in der noch weitgehend psychopharmakafreien Zeit der Psychiatrie, schon in großer Klarheit: Das irrige Konzept der psychischen Krankheit bringe Menschen dazu, nach einer neuropathologischen Erklärung für ihre zwischenmenschlich-sozialen Probleme zu suchen. Ihr Leben werde so "medikalisiert" und dies führe dazu, dass es Gesundheitsfachleuten zur Behandlung überlassen wird, statt persönliche Verantwortung zu übernehmen und nach Wegen zu suchen, sich selbst zu helfen (S. 293). Welch ungeheuer wichtiger Gedanke, der auch das eigene Aktivwerden und die Bedeutung von Selbsthilfe bei der Bewältigung psychischer Krankheiten anspricht! Medizinische Erklärungen "dienten hingegen hauptsächlich dazu, Probleme in persönlichen und sozialen Beziehungen zu vernebeln und 'wegzuerklären'" (S. 207). Der leidende Mensch werde geradezu daran gehindert, die eigentlichen Ursachen seiner Leidenszustände zu erkennen.


Erweiterung des Krankheitsschemas durch Freud

Allerdings muss dieses Schwarz-Weiß-Bild seit den Erkenntnissen von Sigmund Freud noch einmal anders und differenzierter gezeichnet werden. Mit Freud wurde ja die Definition von Krankheit erweitert. Folgte die Psychiatrie bis dahin dem berühmten Diktum Griesingers "Psychische Krankheiten sind Gehirnkrankheiten", so gelangt nun ein Gegenmodell in die Welt. Die Neurosen, wie Freud sie nennt, seien "Krankheiten", die sich durch traumatische Erfahrungen vornehmlich aus der Kindheit und damit in Verbindung stehenden verdrängten Erinnerungen und Konflikte ausbildeten. Die Kriterien für das Vorliegen einer Krankheit werden so fundamental verändert! Im Grunde gibt es damit jetzt zwei Klassen von Krankheiten: 1. die organischen Krankheiten und 2. die psychischen Krankheiten (ohne eine primär somatische Pathologie). Szasz wird nicht müde festzuhalten, dass Letztere etwas anderes sind und bedeuten, als die strukturell in einer Körperpathologie verankerten Krankheiten (S. 316). Und in diesem Zusammenhang tätigt er dann auch den Satz "Der Begriff 'Geisteskrankheit' oder 'psychische Krankheit' ist eine Metapher" (S. 16). Oder eben ein Mythos! Freud hingegen verabschiedete sich trotz der o.g. Neufassung der Krankheit keineswegs vom medizinischen Modell. Er erweiterte es lediglich, sodass Krankheiten jetzt als somatisch oder psychisch angesehen werden konnten. "Den ethischen, politischen und sozialen Problemen, unter denen die Psychiatriepatienten leiden", wurde er damit aber "[nicht] gerecht" (S. 108).

Szasz wirft der Psychoanalyse wie der dynamischen Psychiatrie daher zu Recht "Verschleierung und Verhüllung moralischer und politischer Konflikte vor", die sie "als rein persönliche Probleme" (S. 40) behandelten. Eine Linie, die sich bis in die Biologische Psychiatrie von heute zieht, wo psychiatrische Symptome isoliert statt in ihren sozialen Kontexten wahrgenommen werden. Umgekehrt aber bewegt sich Szasz mit der geschilderten Bestreitung des Krankheitscharakters v.a. der Hysterie auch in eine gefährliche Richtung. Rückt er doch das ganze Bündel neurotischen Leidens in die Nähe von Simulantentum. Natürlich aber sind psychische Störungen ernst zu nehmen, darf die Erkenntnis, dass es sich bei ihnen nicht um "Krankheiten wie alle anderen auch" handelt, nicht zu der Auffassung führen, "alles sei gar nicht so schlimm" (P. Schneider, S. 179).


Der somatische Irrweg der Mainstream-Psychiatrie

Bleibt man bei der differenzierenden Szasz'schen Analyse - statt seinen an diesem Punkt seltsam anmutenden Gedankengängen zu folgen, welche die Gefahr in sich tragen, psychisches Leid zu bagatellisieren -, so muss man mit Blick auf die seitdem erfolgte Entwicklung der Psychiatrie leider konstatieren, dass diese in ihrem Mainstream den somatischen Irrweg, vor dem Szasz so eindringlich gewarnt hatte, weitergegangen ist. Mit dem Niedergang der Psychoanalyse in der Psychiatrie und dem Aufkommen von Psychopharmaka war die neurologische Wende der Disziplin bekanntlich nicht mehr aufzuhalten. Der somatische Blickwinkel setzte sich mehr und mehr durch, es kam zu einer Medikalisierung der Seele. Und befördert durch die neuen technischen Möglichkeiten (EEG, funktionelles MRI etc.) rückte das Gehirn als angeblich maßgebendes Organ erneut und verstärkt in den Mittelpunkt. Psychische Defekte wurden mehr und mehr biologisiert und die medikamentöse Behandlung zum Grundhandwerkszeug der Psychiater.

In diesem Zuge rückte der psychisch beeinträchtigte Mensch - wie von Szasz befürchtet - als verantwortlich Handelnder immer mehr gegenüber der Krankheit in den Hintergrund. Objekt- anstelle von Subjektorientierung! Statt aktiver Arbeit an den Selbsthilfe- und Bewältigungskräften, wurde er von einer naturwissenschaftlichen Medizin als zu behandelnder Kranker in eine weitgehend passive Rolle gedrängt. Szasz hingegen war stets bemüht, "die Arten von Spielen zu beschreiben, die Menschen mit anderen und sich selbst spielen" (S. 41) und daraus die auftretenden Leidenszustände zu erklären. Kommunikation spielte für ihn eine entscheidende Rolle. Und was ist Psychotherapie bis heute anderes als ein Miteinander-Reden? Nochmal zusammengefasst heißt das: Szasz sah das Phänomen der sogenannten Geisteskrankheiten nicht als medizinisches, sondern als psychosoziales Problem. Und liegt hierin nicht weit mehr Wahrheit als in der verengt biologischen Perspektive, dieser dem Menschen als Person und sozialem Wesen nicht gerecht werdenden "Neuromythologie" (F. Hasler)?!


Psychische Krankheiten sind real

Ich möchte zu einer Schlusswürdigung der zentralen Szasz'schen Gedanken kommen. Thomas Szasz hatte schon 1960 eine Entwicklung vorausgesehen, die in den letzten Jahrzehnten mit der Etablierung der Biologischen Psychiatrie ihre traurige Realisierung erfuhr. Der Kern dieser Fehlentwicklung liegt im medizinischen Modell, in dessen Rahmen psychisches Leid verortet wird. Ein dem Menschen gerecht werdendes Modell muss aber breiter aufgestellt sein, sollte auch psychosoziale, philosophische und ethische Fragen mitbeinhalten. Krankheit selbst muss differenziert gesehen werden, v.a. dass somatische und psychische Krankheiten zwar gleichwertig, aber eben nicht gleich sind. Der von Szasz so betonte "metaphorische" Charakter psychischer Krankheiten ist in der Tat stets zu berücksichtigen. Versteht man Szasz so, gelangt man zu einer humanen und notwendigerweise psychosozialen Psychiatrie. Leider jedoch wurden die Szasz'schen Thesen höchst verzerrt rezipiert: verkürzt auf den Satz vom "Mythos Geisteskrankheit" wurde ihm unterstellt, er bestreite die Realität psychischen Leids. Dem aber war, wie ich versucht habe darzustellen, keineswegs so! Szasz hat vornehmlich das Konstrukt "psychische Krankheit" angegriffen, nicht das dahinterliegende Leid. Allerdings hat er mit missverständlichen Äußerungen selbst zu dieser Fehlinterpretation beigetragen.

Dabei ist Szasz dato wichtiger denn je! Denn, wie Fritz B. Simon im Vorwort richtig schreibt, "feiert der Mythos der Geisteskrankheit heute, in Zeiten der Hirnscanner [...] erneut Triumphe" (ebd.). In einer wirklich potenten Psychiatrie sollte hingegen der Schwerpunkt von Theoriebildung und Therapie auf dem komplexen psychosozialen Geschehen liegen, in das psychische "Krankheiten" eingebettet sind. Biochemische Prozesse und anatomische Strukturen greifen hier systematisch zu kurz! Und es mutet als Tragik an, dass ausgerechnet unter Berufung auf Szasz manchmal der Begriff der psychischen Krankheit insgesamt in Misskredit gebracht wird.

Indem nämlich auf dessen angeblichen Mythoscharakter verwiesen wird. Darin aber sollten sich alle einig sein: Psychische Krankheiten sind real. Und dieser Begriff war/ist für zahlreiche Menschen extrem hilfreich, erlaubt es, seelische Leiden endlich mit der Ernsthaftigkeit zu thematisieren, einzuordnen und anzuerkennen, die sie verdienen. Nur sollte eben keine Verengung psychischer Phänomene rein auf Krankheit erfolgen, geht es um eine gute Differenzierung im Szasz'schen Sinne gegenüber der Entität somatischer Phänomene. Leider gelingt das der modernen Psychiatrie mehr schlecht als recht und stehen wir oftmals vor der traurigen Tatsache, dass "die Vermessung des psychisch Kranken", wie sich Stefan Weinmann ausdrückt, "am sozialen Subjekt vollständig vorbeiziehen kann" (a.a.O., S. 15). Wäre man vor 60 Jahren Szasz gefolgt, stünden wir heute vor einer besseren Psychiatrie. Und das gilt trotz der späteren scientologischen Verirrungen dieses bedeutendsten Psychiatriekritikers des 20. Jahrhunderts.


Jürgen Karres ist Psychologischer Psychotherapeut i.R. und arbeitete langjährig mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Zudem ist er von Depressionen selbst Betroffener und in der Selbsthilfebewegung engagiert.


Literatur

Rattner, Josef (1995) Klassiker der Psychoanalyse. Hamburg: Nikol-Verlag, (zu Th. Szasz) S. 800-829

Schneider, Peter (2020) Normal, gestört, verrückt. Über die Besonderheit psychiatrischer Diagnosen. Stuttgart: Schattauer Simon, Fritz B. (2013) Vorwort. In: Szasz, Thomas S. (2013) Geisteskrankheit - ein moderner Mythos. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag

Szasz, Thomas S. (1960) The myth of Mental Illness (Essay in deutscher Übersetzung, siehe unter:
https://www.szasz-texte.de/texte/mythos-geisteskrankheit.html)

Szasz, Thomas S. (2013) Geisteskrankheit - ein moderner Mythos. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag (Neuauflage)

Szasz, Thomas S. (1978) Der Mythos der Psychotherapie. Wien, München, Zürich: Europaverlag

Weinmann, Stefan (2019) Die Vermessung der Psychiatrie. Köln: Psychiatrie Verlag

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 176 - Heft 2/22, April 2022, Seite 39-41
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 11. November 2022

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