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ARTIKEL/396: Psychiatrische Versorgung in Thailand - in, mit und durch die Gemeinde (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 129 - Heft 3, Juli 2010
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Miteinander leben
Psychiatrische Versorgung in Thailand - in, mit und durch die Gemeinde

Von Thomas Meinhart


Thailand ist den meisten vor allem bekannt als beliebtes und viel besuchtes Urlaubsland. Scheinbar unberührte Strände, eine exotische Kultur oder Trekkingreisen in einer fremdartigen Landschaft mit fernöstlicher Flora und Fauna sind Dinge, die vor allem westliche und nicht zuletzt zahlreiche deutsche Touristen magisch anziehen. Doch welche Assoziationen entstehen, wenn man an die Gesundheitsversorgung oder gar die psychiatrische Versorgung in Thailand denkt? Klammert man moderne und teure Privatkrankenhäuser aus, deren Leistungen in der Regel zahlungskräftigen Ausländern oder reichen Thailändern vorbehalten sind, bleibt den meisten Reisenden der Zugang zum thailändischen Gesundheitssystem sicher verborgen.

Eine Gruppe von Studentinnen und Studenten des Studiengangs Master Mental Health der Hochschule München (HM) und Praktikerinnen und Praktiker hatten im Februar dieses Jahres die Gelegenheit, das thailändische Gesundheitssystem und psychiatrische Einrichtungen von innen zu sehen sowie mit Vertretern des Public-Health-Ministeriums, der Chula University in Bangkok und der University of Chiang Mai in einen fachlichen Austausch zu treten. Initiiert und organisiert wurde dieser Besuch von Professor Dr. Manfred Cramer von der Hochschule München und Dr. Amporn Benjaponpitak vom Public-Health-Ministerium in Bangkok.

Wie in fast allen Gesellschaften ist die psychiatrische Versorgung auch in Thailand in das staatliche Gesundheitssystem eingebettet und Teil der medizinischen Versorgung. Das thailändische System weist einige Besonderheiten auf und ist nicht ohne weiteres mit westeuropäischen Modellen zu vergleichen.

Die Entwicklung sozialer Sicherungssysteme in Thailand

Thailand ist eine konstitutionelle Monarchie und seit Mitte der 1980er-Jahre als Land mit weitgehend funktionierenden demokratischen Strukturen anzusehen. Dennoch ist Stabilität meist eine trügerische. Auseinandersetzungen zwischen so genannten "Gelben" und "Roten" und die heikle Rolle des Militärs lassen diesen Umstand immer wieder deutlich werden. So zuletzt auch bei Unruhen mit gewaltsamen Ausschreitungen im Frühjahr/Sommer 2010.

Die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in Thailand hat eine lange Geschichte. Der häufige Wechsel zwischen Militärregimen und demokratisch gewählten Regierungen machte eine konsequente Umsetzung von sozialen Sicherungssystemen schwierig. Bereits 1954 wurde der "Social Security Act" vom Parlament verabschiedet. Umgesetzt wurde er damals aber nicht.

Die Verantwortung der sozialen Absicherung lag und liegt traditionell vor allem beim Individuum und seiner Familie. Insbesondere die Absicherung unvorhersehbarer Lebensereignisse erfordert hohe materielle und immaterielle gegenseitige Unterstützung und Transferleistungen zwischen den Angehörigen.

1974 wurde schließlich eine erste Versicherung gegen Arbeitsunfälle mit dem "Workmen's Corporation Fund" geschaffen. 1975 sollten "Low Income Households" (Haushalte mit niedrigem Einkommen) freie medizinische Hilfe bekommen. Anfang der 1990er-Jahre kam es zu einem neuem "Social Security Act". Angestellte in Betrieben des formellen Sektors erhielten Sozialversicherungsleistungen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilten sich den Beitrag. Verwaltet wurde das Geld durch eine staatliche Institution. Problematisch war nur, dass 75 Prozent aller Angestellten im informellen Bereich beschäftigt waren und damit nicht in den Genuss des Versicherungsschutzes kamen. Mit der Asienkrise 1997 und dem damit verbundenen Anstieg der Arbeitslosigkeit verschärfte sich die Situation noch weiter. Mehr als ein Drittel der Bürger war bis 2001 ohne Versicherungsschutz.

Erst ab 2001 sollte eine Wende nach der Krise gelingen. Der bis heute als Person höchst umstrittene, damalige Premierminister Thaksin Shinawatra konnte unter anderem durch sein populäres 30-Baht-Programm(1) die Mehrheit der Wähler für sich gewinnen. Jeder Bürger Thailands sollte Zugang zu nahezu kostenloser medizinischer Versorgung erhalten. Erbracht wurden die Leistungen durch staatliche Kliniken, die am Programm teilnahmen und eine Pauschale pro Fall erhielten, die zu 70 Prozent aus den Einnahmen der Tabak- und Alkoholsteuer finanziert wurde. Nach dem Regierungswechsel 2006 wurde das äußerst populäre 30-Baht-Programm von der Opposition - namentlich modifiziert - übernommen.

Heute sieht sich der staatliche Gesundheitssektor in Thailand konfrontiert mit einer Abwanderung von qualifiziertem Personal in den bis zum Äußersten geförderten privaten Sektor. Moderne Krankenhäuser exportieren Gesundheitsleistungen an ausländische Patienten. Krankenhäuser werben wie moderne Wellness- und Gesundheitstempel um zahlungskräftige Kundschaft aus der ganzen Welt. Kunden sind vor allem Patienten aus der arabischen Welt, Westeuropa und Nordamerika. Die Abwanderung des Fachpersonals führte dazu, dass zeitweise tausende Arztstellen in staatlichen Krankenhäusern nicht besetzt waren bzw. werden konnten, weil die Bezahlung im privaten Bereich um bis zu zehnmal höher lag!

Psychiatrische Versorgung

Doch wie verhält es sich mit der psychiatrischen Versorgung in Thailand? Sie fällt wie die Behandlungen im somatischen Bereich prinzipiell unter die Grundversorgung und steht allen Bürgern offen. Vorausgesetzt, sie verfügen über einen thailändischen Pass.

Die Strukturen der thailändischen Psychiatrie sind grundsätzlich verschieden im Vergleich zu beispielsweise denen in Deutschland. Thailands Gesellschaft ist noch weniger stark von der Erosion tragender sozialer Systeme wie Familie, Nachbarschaft und Gemeinde betroffen, als dies in vielen hoch industrialisierten Gesellschaften der Fall ist. Ein Umstand, der dazu führt, dass professionelle Systeme erst subsidiär greifen bzw. nur rudimentär existieren. Nicht zuletzt auf dem Land zählen die Familien meist viele Mitglieder, und die Zahl der Kinder ist hoch. In Bangkok, der mit Abstand größten Stadt des Landes(2), werden unzählige Geschäfte, Marktstände und Garküchen, die das prägnante Bild der Metropole ausmachen, nicht selten von mehreren Mitgliedern einer Familie betrieben.

Die soziale Versorgungspyramide baut sich von unten nach oben auf: An der Basis finden sich die sozialen Netzwerke der Bürger, die im Falle der Erkrankung zum Beispiel eines Gemeindemitglieds aktiv werden. Unterstützt werden diese von landesweit zirka 900.000 so genannten Paraprofessionals: Bürgerhelferinnen und -helfer, die medizinisch geschult sind und zwischen Gemeinde, den Betroffenen, ihren Familien und Krankenhäusern vermitteln und - an örtlichen 'Primary Health Care Centers' angesiedelt ihre Dienste erbringen. Sie erhalten vom Staat eine geringe Aufwandsentschädigung und können als das Rückgrat in der staatlichen Gesundheitsversorgung bezeichnet werden.

In dieses System gemeindenaher Strukturen werden traditionell auch die Klöster und Tempel im tief buddhistisch geprägten Thailand mit einbezogen. Sie leisten einen wichtigen Beitrag bei der Reintegration psychisch Erkrankter in die Gemeinde, indem sie zahlreichen Männern(3) mit vor allem chronischer Erkrankung Unterkunft, Nahrung und Arbeit bieten. Sie nehmen an den täglichen Almosengängen der Mönche teil, wodurch auch die Stigmatisierung durch die Bevölkerung verringert wird. In Thailand existieren zirka 30.000 buddhistische Tempel und Klöster, die auf diesem Weg wichtige Integrationsarbeit vollbringen.

Den Gästen aus Deutschland wurde gezeigt, dass Mönche und psychisch Erkrankte durchaus ein "Miteinander leben" praktizieren. Der Abt des Klosters am Rande von Bangkok stand den staunenden Besuchern Rede und Antwort, und die "Patienten" zeigten freudig "ihr" Kloster, die Räumlichkeiten, in denen sie leben, sowie die Nutztiere, um die sie sich tagtäglich kümmern.

Ambulante Strukturen wie in Westeuropa existieren in Thailand nicht. Die gemeindenahe Versorgung geschieht primär durch soziale Netzwerke, Bürgerhelfer, traditionelle Medizin und Klöster.

Psychiatrische Krankenhausbehandlung

Seit den 1970er-Jahren baut Thailand sein "Community Mental Health System" aus. Allein schon aus Kostengründen ist der endlose Ausbau hoch professionalisierter und institutionalisierter Strukturen nicht denkbar. Dabei ist die thailändische Gesellschaft konfrontiert mit der Erosion sozialer Netzwerke bedingt durch Landflucht sowie zunehmender Vergreisung der Gesellschaft. Beides wächst mit dem Wohlstand des südostasiatischen Landes.

Auch die Ausbildung von "Mental Health Professionals" zielt darauf ab, die drängendsten Probleme in der Gesundheitsversorgung in, mit und durch die Gemeinde in den Griff zu bekommen.

So überrascht es nicht, dass psychiatrische Krankenhäuser, wie wir sie kennen, eine nachgeordnete Rolle spielen. Thailand verfügt mit seinen 65 Millionen Einwohnern gerade einmal über 17 psychiatrische Krankenhäuser mit zirka 8000 Betten. Sie versorgen jeweils eine der 17 (politischen) Provinzen im Land. Lediglich 200 Psychiater stehen zur Verfügung, sodass sich maximal ein Prozent der psychisch Erkrankten in stationärer Behandlung befindet. Die durchschnittliche Verweildauer im Krankenhaus liegt zwischen 30 und 33 Tagen.

Der thailändischen Krankenhauspsychiatrie kann man dabei nicht vorwerfen, rückständig zu sein. Das 'Somdet Chaophraya Hospital'(4) in Bangkok präsentiert sich als ein modernes Haus, dass sich in Bezug auf die Infrastruktur kaum von westlichen Krankenhäusern unterscheidet. Sieht man einmal davon ab, dass die Wirtschaftskraft Thailands deutlich geringer als die deutsche ist, was eine gewisse Verhältnismäßigkeit schafft, und dass die Patienten in 30-Betten-Sälen nächtigen. Auf diesen Umstand angesprochen, erklärt das Personal um Chefarzt Dr. Weerapon den Gästen aus dem Westen, dass es in Thailand kulturbedingt nicht ungewöhnlich sei, mit mehreren Menschen in einem Raum zu schlafen. Für den europäischen Betrachter ein gewöhnungsbedürftiger Anblick. Dennoch liegen hier deutliche kulturspezifische Besonderheiten vor, die nicht automatisch einen Rückschluss auf die Behandlungsqualität erlauben. Lediglich auf den Privatstationen sind die gewohnten Zweibettzimmer zu finden.

Ebenfalls überraschend ist die hoch angesehene und fest etablierte Behandlung mit Elektrokrampftherapie (EKT). Sie wird bei vielen Störungsbildern angewandt, wenn auch als Ultima Ratio und nur mit Einverständniserklärung des Patienten. So zum Beispiel bei allen schweren Fällen von Depression, Schizophrenie, sogar bei Suizidalität und Fremdaggressivität. Auch wenn die Behandlung in einem modernen Setting unter Narkose und ärztlicher Aufsicht geschieht, überrascht diese Offenheit gegenüber der EKT. Zumal auch andere moderne (Pharmako-) Therapien bekannt sind und zur Verfügung stehen.

Das psychiatrische Krankenhaus ist Moderator für Hilfen im Netzwerk und in der Gemeinde der erkrankten Bürger. Es steht in engem (unter Umständen 24-Stunden-) Kontakt mit lokalen Gesundheitseinrichtungen wie 'Primary Health Care Centers' sowie Bürgerhelfern. Patienten, die beispielsweise in einem Kloster Asyl erhalten, können phasenweise in die Behandlung zurückkehren, bzw. das Krankenhaus vermittelt "stabile" Patienten an lokale Klöster und Tempel. Arztpraxen nach europäischem Vorbild existieren in Thailand nicht.

Gemeindepsychiatrie in Thailand - ein Vorbild für den Westen?

Der Austausch mit den professionellen Kollegen in Thailand hat die Reisegruppe aus Deutschland sicherlich in vielerlei Hinsicht überrascht! Aufgeräumt wurde mit der wohl insgeheimen Erwartung, dass ein südostasiatisches Land wie Thailand, das als wirtschaftliches Schwellenland gilt, zwangsläufig eine unterdurchschnittliche Versorgung seiner psychisch erkrankten Bürger aufweisen müsse. Umso mehr erstaunte die "Modernität" der Ausbildung psychiatrisch Tätiger und die Ähnlichkeit der Verhältnisse, die im Bereich der stationären Versorgung im Vergleich mit westeuropäischen Modellen sichtbar wurde. Nur eben mit einem Bruchteil der finanziellen Ausstattung sowie quantitativ weniger stark verfügbar.

Beachtlich für europäische Betrachter ist zweifelsohne die Bedeutung, die sozialen Netzwerken und der "community", also der Gemeinde, in der Hilfe für (psychisch) kranke Menschen zukommt. Auf der einen Seite läuft die thailändische Gesellschaft Gefahr, mit zunehmender Industrialisierung und wachsendem Wohlstand auch einer verstärkten Erosion tragender sozialer Netzwerke ausgesetzt zu sein. Gleichzeitig wächst die Sensibilität für psychische Erkrankungen, was sich sicherlich auch im Anstieg der einschlägigen Erkrankungsstatistiken widerspiegelt. Auf der anderen Seite stellen drohende Stigmatisierung und erforderliche Präventionsmaßnahmen eine besondere Herausforderung dar, die nicht allein durch einen bloßen und grenzenlosen Ausbau institutioneller Systeme bewältigt werden kann. Der Weg, psychische Erkrankungen und damit verbundene Folgen in, mit und durch die Gemeinde in den Griff zu bekommen, anzugehen und zu lindern, scheint so ein "weiser" zu sein. Möglicherweise sogar einer, von dem wir lernen können, denn er bindet die Teile der Gesellschaft in die Versorgung psychisch Erkrankter ein, in denen sie leben.

Thomas Meinhart, Master Mental Health (MMH) und Diplom-Sozialpädagoge, ist Teamkoordinator der Tagesstätte Neuhausen in München. E-Mail-Kontakt: t.meinhart@gmx.de

Anmerkungen:

(1) 30 Baht entsprechen ca. 0,70 EUR.
(2) In Bangkok selbst leben rund 7 Millionen, in der 'Bangkok Metropolitan Region' mehr als 12 Millionen Menschen.
(3) Frauen bleibt die Aufnahme in Tempeln und Klöstern verwehrt.
(4) Ältestes psychiatrisches Krankenhaus Thailands (1889) und zweitälteste Psychiatrie in Asien. Es beherbergt auch ein Psychiatrie-Museum.

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Aufwachraum nach EKT
- Arbeitstherapie im Kloster - Landwirtschaft
- Wohn- und Schlafraum für neun Patienten im Kloster

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 129 - Heft 3, Juli 2010, Seite 29 - 31
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Heinz Mölders und der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2011

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