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BERICHT/013: Das System e-Card - Auf dem Weg zum Bundesverfassungsgericht (SB)


Kritiker der E-Card beschreiten den Rechtsweg

Verhandlung zur Elektronischen Gesundheitskarte vor dem Sozialgericht Düsseldorf


Kläger, Anwalt des Klägers, Anwalt der Beklagten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Reges Medieninteresse am Verfahren zur e-Card
Foto: © 2012 by Schattenblick

Es wäre schon eine große Überraschung gewesen, wenn der Klage, mit der Sven S. sein Recht auf medizinische Versorgung ohne Nutzung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) durchsetzen wollte, gleich in der ersten Instanz stattgegeben worden wäre. Vor zwei Jahren hatte der 32jährige Wuppertaler von der Bergischen Krankenkasse Solingen verlangt, auch ohne die von dieser Versicherung frühzeitig ausgegebene e-Card weiterhin von ihr gedeckte medizinische Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Durch die geplante Speicherung der Daten auf einer Serverinfrastruktur, auf die nicht nur Arzt und Patient, sondern auch Dritte Zugriff haben sollen, sieht Sven S. seine im Volkszählungsurteil 1983 als Grundrecht anerkannte informationelle Selbstbestimmung beeinträchtigt.

Die 9. Kammer des Sozialgerichts Düsseldorf entschied demgegenüber in der mündlichen Verhandlung am 28. Juni 2012, daß eine Befreiung von der gesetzlichen Pflicht, im Rahmen einer gesetzlichen Krankenversicherung mit der eGK versorgt zu werden, nicht in Frage käme. In der Urteilsverkündung wurde die Entscheidung der Richterin und ihrer beiden Beisitzer vor allem mit dem Argument begründet, daß auf der eGK nicht anders als auf der bisherigen Krankenversichungskarte nur die Stammdaten des Versicherten gespeichert wären, also Name, Geburtsdatum, Geschlecht, Anschrift und Versichertennummer. Hinzugekommen sei lediglich das Lichtbild, während alle künftigen Anwendungen freiwillig seien und der Einwilligung des Versicherten bedürften.

Kläger im Verhandlungsaal - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sven S. streitet im Interesse von Millionen
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Was die Entwicklung der e-Card hin zu einem Universalschlüssel für individuelle Patientendaten mittels eines vielseitig begehbaren Datennetzes im Rahmen geplanter Anwendungen wie des Eintrags von Notfalldaten und der elektronischen Krankenakte betrifft, so zog sich das Gericht auf die Aussage zurück, dafür im vorliegenden Fall nicht zuständig zu sein. So wurde das, was den Kläger zu der Befürchtung veranlaßt, zum "gläsernen Patienten" zu werden, in diesem Prozeß weitgehend ausgeklammert. Laut der Vorsitzenden Richterin gebe es keine Veranlassung, die Bedenken zu den Speichermöglichkeiten des Systems e-Card in Hinsicht auf den Streitgegenstand zu erörtern, weil es nicht Aufgabe des Gerichts sei, eine umfassende Prüfung der Rechtmäßigkeit der Einführung der eGK vorzunehmen. Auch wenn eine solche Entscheidung sicherlich im Ermessen des Gerichts liegt, so dokumentiert sie auch den voluntaristischen Charakter einer Einführung in der Beurteilung des Streitfalls, dessen Beweggründe maßgeblich in der geradezu paradigmatischen Veränderung angesiedelt sind, die die e-Card im Verhältnis von Patient, Arzt, Krankenkasse und anderen Institutionen des Gesundheitswesens zeitigt.

Vorsitzende Richterin - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sozialrichterin Elke Hagemann
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Der Anwalt der beklagten Krankenkasse, Ingo Kegler, hatte bekräftigt, man habe nur Zugriff auf administrative Daten und nicht auf Angaben, die aus freiwilligen Anwendungen hervorgingen. Das elektronische Rezept sei nicht mehr Bestandteil der derzeit ausgegebenen Karten, auch gehörten freiwillige Anwendungen wie die elektronische Patientenakte und Notfalldaten nicht zur aktuellen Ausstattung der e-Card. Letztere seien ab 2013 auf freiwilliger Basis einzutragen. Auf jeden Fall sei die für nächstes Jahr geplante Vollversorgung der Versicherten mit der eKG ohne Lichtbild nicht vorgesehen, so Kegler in Hinsicht auf die Weigerung des Klägers, ein solches an die Kasse zu senden. Hinsichtlich der Telematikinfrastruktur, also der Vernetzung der IT-Systeme von Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäusern und Krankenkassen, verwies er auf die mit deren Ausbau betraute gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH).

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Jan Kuhlmann (links), Anwalt des Klägers Sven S., trifft auf Anwalt der Bergischen Krankenkasse, Ingo Kegler (rechts)
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Dieser könnten die Gesundheitsdaten von Millionen Bürgern nicht anvertraut werden, wie die zahlreichen Pannen des Projekts, die gescheiterten Testläufe und fehlerhaften Karten belegten, machte hingegen der Anwalt des Klägers, Jan Kuhlmann, geltend. Er nahm unter anderem die nichterfolgte Einführung der unter § 291a SGB V Elektronische Gesundheitskarte vorgesehenen Anwendungen zum Anlaß, das Dilemma seines Mandanten zu schildern, gar nicht zu wissen, worauf er sich mit der Nutzung der e-Card einließe. Zwar wurde die Einführung der eGK zum 1. Januar 2006 im Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung im November 2003 unter Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt beschlossen, doch wurde erst im Oktober 2011 mit der Ausgabe einer Version der eKG begonnen, die mit der ursprünglich beabsichtigten Karte nicht mehr viel gemein hat. Sein Mandant habe jedoch nur jetzt die Chance, sich der Akzeptanz einer e-Card zu verweigern, die in Zukunft ganz anders aussehen könnte, so Kuhlmann unter Verweis auf die Diskrepanz zwischen dem Gesetzestext und der aktuellen Funktionsweise der eKG.

Kläger und Beklagte im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Erster Akt in einem Verfahren von vielleicht weitreichender Bedeutung
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Der Anwalt führte zum Beleg des verfassungswidrigen Charakters der Zwangsverpflichtung zur Nutzung der eGK zudem an, daß im Urteil zur Vorratsdatenspeicherung des Bundesverfassungsgerichts vorgesehene Kriterien wie eine für die Öffentlichkeit transparente Kontrolle, ein Verstöße gegen den Datenschutz ahndendes Sanktionssystem und die Gewährleistung eines hohen Datenschutzstandards auf dem jeweiligen Stand der Technik nicht im Gesetz enthalten wären. So würden Patientendaten auf Servern gespeichert, die von privaten Unternehmen betrieben würden, weshalb man nicht ausschließen könne, daß diese Daten zum Beispiel in die Hände von Pharmaunternehmen gelangten.

Auch sei in der Verfassung nicht vorgesehen, daß ein Patient aufgrund der in einer "Monopol-Gesundheitsakte" enthaltenen Chronik seiner Arztbesuche bei einem etwaigen Wechsel des behandelnden Arztes oder beim Einholen einer zweiten Meinung vor dem Problem stände, den Anschein zu erwecken, seinem Arzt nicht zu vertrauen. Vorinformationen dieser Art beschädigten das Arzt-Patienten-Verhältnis. Kuhlmann betonte, wie wichtig es sei, daß nur der Patient wisse, wo seine Daten verfügbar wären, was bedeute, daß er mehrere Möglichkeiten zum Anlegen elektronischer Krankenakten haben müsse.

Nach der absehbaren Abweisung der Klage kündigte Kuhlmann an, beim Landessozialgericht in Essen Berufung einzulegen. Nach einer wiederum zu erwartenden Ablehnung der Klage seines Mandanten wäre dann der Weg zum Bundesverfassungsgericht frei, wo möglicherweise schon im nächsten Jahr ein definitiver Entscheid über die eKG getroffen werde. Bis dahin haben die Unterstützer des Klägers, das von 54 Bürgerrechtsorganisationen, Datenschützern, Patienten- und Ärzteverbänden getragene Bündnis "Stoppt die e-Card", die Chance, die mit dem Prozeß und der praktischen Einführung der eKG zunehmende Aufmerksamkeit für die mit der e-Card verbundenen Probleme und Gefahren für die Mobilisierung einer kräftigen Bewegung gegen das in seinen absehbaren wie möglichen Folgewirkungen für die große Mehrheit der Betroffenen völlig unzureichend ausgeleuchtete IT-Projekt des Gesundheitswesens zu nutzen.

Gesetzestexte auf dem Richtertisch des Sozialgerichts - Foto: © 2012 by Schattenblick

Im Zweifelsfall weithin auslegbar ...
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Mehr als genug Gründe, gegen die Einführung der e-Card zu mobilisieren

Damit wurde nur wenige Stunden nach der Verhandlung in einem nahegelegenen Hotel begonnen. Die Versichertenorganisation Neuanfang e. V. hatte zu einem Pressegespräch eingeladen, in dem die Mehrheit der noch im Verhandlungssaal anwesenden Medienvertreter durch Abwesenheit glänzte, obwohl die im NH-Hotel zusammengekommenen Kritiker des Projekts auf all das zu sprechen kamen, was in der Gerichtsverhandlung offenblieb. Dies mag dem Aktualitätsdruck geschuldet gewesen sein, unter dem große Zeitungen und Sender stehen, doch spiegelt sich in dieser publizistischen Praxis auch das Desinteresse, relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen auf eine Weise auf den Grund zu gehen, die den kritischen öffentlichen Diskurs überhaupt erst ermöglicht.

Moderatorin - Foto: © 2012 by Schattenblick

Elke Steven führt durch die Veranstaltung
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Nach der Vorstellung der Referentinnen und Referenten durch Dr. Elke Steven vom Komitee für Grundrechte und Demokratie ergriff Jan Kuhlmann das Wort, um die Entscheidung des Gerichts zu kommentieren. Er bestätigte noch einmal, daß die Abweisung der Klage bereits im Vorwege durch die Pressemitteilung des Sozialgerichts und anderer Prozeßvorbereitungen zu erwarten war. Letztlich sei jedoch nur das Bundesverfassungsgericht in der Lage, die gesetzlichen Grundlagen der eKG aufzuheben. Der Anwalt des Klägers betonte, daß man zwischen dem, was im Gesetz steht, und seiner Ausführung durch die Krankenkassen und die gematik unterscheiden müsse. Beides laufe völlig auseinander, weil die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben nicht mit der praktischen Einführung der e-Card übereinstimme. Seine Strategie laufe darauf hinaus, die Nichtübereinstimmung des Gesetzes mit der Realität wie mit der Verfassung auf dem Rechtswege prüfen zu lassen. Die Krankenkassen und die gematik hielten sich nicht an das Gesetz, und es entspreche auch nicht den Vorgaben der Verfassung.

Anwalt beim Pressegespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Jan Kuhlmann erläutert die rechtlichen Optionen
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So finde das Einholen der Zustimmung der Versicherten zu den freiwilligen Anwendungen nicht statt, obwohl dies gesetzlich geregelt ist, wie überhaupt die vorgesehenen freiwilligen Anwendungen nicht realisiert worden wären. Währenddessen seien bei der gematik bereits Anwendungen in der Vorbereitung, die so nicht im Gesetz stünden. Das allein könnte Anlaß für die Richter sein, das Projekt zu stoppen. Verfassungsrechtlich wiederum seien das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf informationelle Selbstbestimmung tangiert, wie Kuhlmann unter Verweis auf das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung erklärte. Er erinnerte daran, daß die Richterin in der mündlichen Urteilsbegründung praktisch erklärt habe, daß der Patient die eKG gar nicht benutzen müsse, weil er sich auch ohne diese Karte behandeln lassen könne. Dies sei ein Grund dafür, warum das Gesetz zur eKG aus der Sicht des Gerichts nicht in die Rechte des Klägers eingreift. Zwar müsse man noch abwarten, wie sich dies in der schriftlichen Urteilsbegründung niederschlägt, doch wenn das zuträfe, dann sei dies Wasser auf die Mühlen der Gegner der eKG. Der Anwalt schloß auch die Möglichkeit nicht aus, daß das Gericht nicht ganz verstanden habe, welche neue Qualität mit der zentralisierten Vernetzung der Gesundheitsdaten einhergehe.

Neben der Möglichkeit, Berufung beim Landessozialgericht einzulegen, gebe es noch die Alternative einer Sprungrevision. Dabei könnten sich die Kläger mit der Gegenpartei einigen, vor das Bundessozialgericht zu gehen, was dann die letzte Instanz wäre, bevor das Bundesverfassungsgericht angerufen würde. All das müsse bis Ende nächsten Jahres abgeschlossen sein, um der schlußendlichen Verwirklichung der zentralen Datenspeicherung zuvorzukommen.

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Silke Lüder schildert desaströse Entwicklung des Telematikprojekts
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Die Sprecherin der Aktion "Stoppt die e-Card", Dr. Silke Lüder, blickte noch einmal zurück auf die Geschichte des Projekts, zu deren Beginn vollmundige Versprechungen gemacht worden seien, während man nun "einer Galavorstellung aus der Reihe Pleiten, Pech und Pannen" beiwohnen könne. Damals ging es noch darum, die Patientendaten auf großen Servern in zentralen Patientenakten zu speichern, um zwei Millionen Teilnehmern am Gesundheitswesen den Zugriff auf das Datenmaterial zu ermöglichen. Rezepte und Notfalldaten sollten zur effizienteren medizinischen Behandlung auf der Karte gespeichert werden, immense Einsparpotentiale wurden angekündigt, doch sechseinhalb Jahre später habe man mit der eKG nur noch ein digitales Gerippe vor sich. Selbst die gesetzlichen Krankenkassen seien in den letzten Jahren nicht mehr von dem Projekt überzeugt gewesen, so daß sie unter Androhung hoher Geldstrafen zu seiner Verwirklichung hätten gezwungen werden müssen.

Die nun bis Ende des Jahres an 70 Prozent der Versicherten auszugebenden e-Cards könnten zwar nicht mehr leisten als die bisherige Krankenversichertenkarte, seien aber ungefähr zehnmal so teuer. In den Jahren 2007 und 2008 habe man in sieben Bundesländern mit 60.000 Versicherten, mehreren hundert Arztpraxen und diversen Apotheken Tests durchgeführt, deren Ergebnis niederschmetternd gewesen sei. Die Abläufe in den Praxen hätten sich unter anderem wegen des kompliziert auszufüllenden elektronischen Rezepts verlangsamt, wodurch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient gelitten habe, beide hätten sich die sechsstellige PIN- Nummer nicht merken können, was die Nutzung der Karte weiter verkomplizierte. Das Vorhaben, durch das Foto auf der Karte deren mißbräuchliche Verwendung zu verhindern, erfordere laut EU-Datenschutzrichtlinien die Prüfung der Übereinstimmung von Foto und Versichertem, was aber nicht geschehe. Wer tatsächlich betrügen wolle, was nur selten vorkäme, der brauche nur ein falsches Foto einzureichen. Während der Mißbrauch im Gesundheitswesen einen zweistelligen Millionenbeitrag im Jahr verschlinge, koste die Einführung der eGK jedes Jahr mehrere 100 Millionen Euro schon im Vorwege ihrer tatsächlichen Etablierung.

Insgesamt solle das Projekt laut gematik bis zu 14 Milliarden Euro kosten, was Lüder massive ökonomische Interessen bei der Durchsetzung des Projekts vermuten läßt. Vor seiner Ernennung zum Gesundheitsminister sei der FDP-Politiker Daniel Bahr ein strikter Gegner des Projekts eGK gewesen, während er als Amtsträger das genaue Gegenteil tue.

Abschließend erinnerte Lüder noch einmal daran, daß man mit der Verweigerung der Abgabe eines Fotos keinen Rechtsbruch begehe. Die von den Kassen ausgehende Drohung, bei Nichteinreichung des Fotos werde der Arzt eine Privatrechnung ausstellen, entspreche nicht dem Gesetz, sondern gehe auf eine Regelung zwischen dem Spitzenverband Bund der Kassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aus dem Jahr 2008 zurück. Diese Regelung sei inzwischen überholt und sollte, das ist zumindest die Forderung der Vertragsärzte, wieder gestrichen werden. Zudem gebe es Widerstand der Ärzte, die die e-Card mehrheitlich ablehnten, gegen die Durchführung weiterer Testläufe. Sie wollten nicht, daß ihre Praxen "in eine an den Kassenservern online angeschlossene Kontrollstelle, Datenverarbeitungsstelle und in eine Art Hilfspolizei für die Kassen" verwandelt werden, so Lüder in ihrer schriftlichen Erklärung zum Pressegespräch.

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wolfgang Linder empfiehlt Verweigerung des Fotos
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Wolfgang Linder vom Komitee für Grundrechte und Demokratie forderte denn auch die gesetzlich Krankenversicherten im Namen der Organisationen, die den Widerstand gegen die Einführung der e-Card organisieren, dazu auf, sich dem Ansinnen ihrer Krankenkassen, ihre Fotos einzusenden, zu widersetzen. Über die persönliche Ablehnung der eKG ginge es darum, die Bundesregierung, das Bundesministerium für Gesundheit und den Deutschen Bundestag dazu zu bringen, das Projekt zu stoppen und das zuständige Gesetz zu ändern. Kern des Projekts sei die lebenslange Speicherung sämtlicher Behandlungsdaten möglichst aller Versicherten auf zentralen Servern, stellte der ehemalige Datenschutzreferent der Stadt Bremen unmißverständlich klar. Die Kosten für das Projekt rentierten sich nur beim Erreichen dieses Stadiums. Die zu diesem Zweck verbreitete Begründung, man wolle dadurch Doppelbehandlungen und einander widersprechende Behandlungen Diagnosen oder Verschreibungen verhindern, hält Linder für nicht stichhaltig. Dies könne man ohne zentrale Datenspeicherung auch auf andere Weise erreichen, etwa indem die Kommunikation zwischen Ärzten und Krankenhäusern verbessert würde. Die Absicht der zentralisierten Datenverwaltung habe von Anbeginn des Projekts auf der Agenda gestanden, so daß Alternativen nicht ernsthaft geprüft würden.

Mit einem Zitat seines früheren Datenschutzkollegen Thilo Weichert, heute Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein, kam Linder auf die dem Projekt innewohnenden Gefahren zu sprechen. "Große Datensammlungen erzeugen immer große Begehrlichkeiten" - dies münzte der Referent zwar zuerst auf mißbräuchliche Datennutzung durch Hacker, für die der schnelle Zugang zu großen Datenpools höchst attraktiv ist, wie man etwa an dem regen Handel mit illegal erworbenen Daten ermessen kann. Doch auch der Zugriff aller Ärzte, ihrer Mitarbeiter und anderer Beschäftigter des Gesundheitswesens stelle eine potentielle Gefahr dar, selbst wenn unter diesen absehbar zwei Millionen Menschen nur ein kleiner Prozentsatz aus Eigeninteresse oder durch Zwang illegal auf diese Daten zugreifen sollte.

Im Zusammenhang mit den erheblichen Interessen der Wissenschaft und Wirtschaft verwies Linder auf das von der EU initiierte Projekt "Electronic Health Records for Clincal Research" (EHR4CR) [1]. Diese Public-Private Partnership verfolgt das Ziel des Aufbaus einer europäischen Datenplattform, mit der sich Patienten für wissenschaftliche Studien identifizieren und elektronische Patientenakten in die Forschungsplattformen und Netzwerke des Gesundheitswesens integrieren lassen sollen. Der Referent sagte voraus, daß die Karte zum Vehikel von Interessen gemacht wird, die mit den Bedürfnissen der Ärzte und Patienten wenig, mit denen der IT-Industrie, der medizinischen und pharmazeutischen Forschung wie der Gesundheitsbürokratie jedoch sehr viel zu tun haben. Ist der Datenpool einmal vorhanden, dann würden die Projekte wie von selbst sprießen, natürlich angetrieben von Expansions- und Profitchancen größten Ausmaßes.

Auch Linder erinnerte daran, daß sich aus dem Sozialgesetzbuch 5 keine Pflicht ergebe, der Aufforderung der gesetzlichen Krankenkassen zur Einsendung eines Fotos nachzukommen. Zudem könnten die Versicherten vorerst ihre alte Krankenversichertenkarte weiter benutzen, so daß sie ihren Versicherungsschutz nicht verlieren, wenn sie die neue Karte nicht akzeptierten. Läuft die Gültigkeit der alten Karte aus, dann greift das sogenannte Ersatzverfahren. Die Versicherten können sich dann vor dem ersten Arztbesuch im Quartal durch ihre Krankenkassen einen Behandlungsausweis ausstellen lassen, und weitere Arztbesuche würden dann per Überweisung organisiert.

Bei Ablehnung der e-Card könnten die Versicherten auch von ihrer Kasse einen mit Rechtsmittelbelehrungen versehenen Bescheid verlangen, um dann Widerspruch einzulegen und kostenfreie Klage beim Sozialgericht zu erheben. Die Mustertexte dazu könnten bei FOEBUD [2] oder auf der Website der Aktion Stoppt die E-Card! heruntergeladen werden.

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kathrin Vogler klärt auf über parlamentarische Widrigkeiten Foto: © 2012 by Schattenblick

Als vierte Referentin kam die Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, Kathrin Vogler, zu Wort. Die stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses weist seit längerem auf die mit der e-Card verbundenen Gefahren hin und bot den anwesenden Journalisten einen interessanten Einblick in die politischen Bedingungen, unter denen dieses Projekt im Bundestag vorangetrieben wird. Dort sei die Mehrheit, die für die eGK eintritt, mit dem Wechsel der FDP-Fraktion von der Seite der Gegner auf die der Befürworter noch größer geworden. Im Bundestagswahlkampf 2009 hat die FDP noch einen Antrag für ein Moratorium für die eKG im Bundestag eingebracht, dem Die Linke gegen alle anderen Fraktionen des Hauses zugestimmt habe. Wie die FDP wollte man verhindern, daß die e-Card zu einem Milliardengrab für Krankenkassenbeiträge wird. Schon vor sechs Jahren sei man von Gesamtkosten von bis zu 14 Milliarden Euro ausgegangen, doch wieviel inzwischen ausgegeben worden sei und wieviel in Zukunft ausgegeben werden müsse, habe ihr auch die FDP-Politikerin Ulrike Flach, Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, auf eine von ihr selbst gestellte Kleine Anfrage im Mai 2011 nicht beantworten können.

Vogler erinnerte daran, daß im Rahmen des Projekts eKG geplant sei, daß die Patienten die Verfügungsgewalt über ihre Daten behalten sollten. Allerdings seien Alternativen zur Zentralisierung der Daten wie etwa dezentrale Speichermöglichkeiten nicht ergebnisoffen getestet worden, obwohl derartige Möglichkeiten für die Versicherten sicherer und ihrer Selbstbestimmung zuträglicher seien. Auch wolle die FDP, seit ihr das Gesundheitsministerium untersteht, von der strikten Freiwilligkeit der Nutzung der Karte nichts mehr wissen. Als der FDP-Politiker Philipp Rösler nach der Bundestagswahl 2009 Bundesgesundheitsminister wurde, legte er die e-Card für ein halbes Jahr auf Eis, was bedeutete, daß auch die im eigenen Antrag geforderten Schritte nicht eingeleitet wurden.

2010 stellte der frühere niedersächsische Wirtschaftsminister Rösler der IT-Industrie auf der CEBIT in Aussicht, das Telematikprojekt in Gestalt einer abgespeckten Version der eKG zu realisieren, um es überhaupt in Gang zu bringen. Seitdem würde es forciert vorangetrieben. So wurde im GKV-Änderungsgesetz 2010 die Verpflichtung aller Arztpraxen und aller Kassen zur Online-Anbindung verankert. Im GKV-Finanzierungsgesetz 2010 wurden die Kassen dazu angehalten, zehn Prozent der Versicherten bis Ende 2011 mit den Karten auszurüsten, und im Versorgungsstrukturgesetz 2011 wurde diese Rate auf 70 Prozent erhöht. Säumigen Kassen werden Vertragsstrafen in Millionenhöhe angedroht.

Aus der Änderung des Transplantationsgesetzes zur sogenannten Entscheidungslösung erwuchs der e-Card zusätzliche Bedeutung, sei doch die Hälfte dieses Gesetzes der Speichermöglichkeit der Organspendeerklärung auf der eGK gewidmet. Vogler betonte insbesondere die Fragwürdigkeit der Regelung, Krankenkassenbeschäftigten ein Schreibrecht auf die persönlichen Datensätze der Versicherten zuzugestehen. Mit dem Transplantationsgesetz sei dadurch erstmals der Zugriff der Kassen auf tatsächliche Gesundheitsdaten ermöglicht worden. Der Änderungsantrag der Linksfraktion, die eGK komplett aus dem Gesetzentwurf zu streichen, wurde von der Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt. Ein Antrag der Grünenfraktion, der die Streichung des Schreibrechts für Krankenkassen zum Gegenstand hatte, wurde ebenfalls abgelehnt. Aus diesem Grund habe sie den Gesetzentwurf insgesamt ablehnen müssen, so Vogler zu ihrem persönlichen Stimmverhalten.

Ohnehin habe das Parlament in der ganzen Legislaturperiode noch nie qualifiziert über die eGK diskutiert. Jedesmal, wenn sich etwas an dem Projekt verändert habe, wäre dies als Änderungsantrag kurzfristig an ein Gesetz angehängt worden, das eigentlich einem ganz anderen Sachverhalt gewidmet gewesen sei. Vogler erklärte zum konkreten parlamentarischen Verlauf, daß Änderungsanträge bis zur zweiten oder dritten Lesung im Plenum noch eingebracht werden könnten, was in der Regel sehr kurzfristig erfolge, so daß man nur noch wenig Zeit habe, sie im Ausschuß zu beraten. Zu dem Zeitpunkt, an dem die öffentlichen Anhörungen zu den Anträgen zu den Gesetzentwürfen durchgeführt werden, hätten diese Änderungsanträge - mit Ausnahme desjenigen zum Transplantationsgesetz - nicht vorgelegen. Ansonsten seien die Änderungsanträge kurzfristig vor der Ausschußsitzung eingereicht worden, so daß keine Möglichkeit mehr bestand, eine Anhörung im Ausschuß durchzuführen. Anträge zur kurzfristigen Einladung von Sachverständige zum Thema e-Card seien in der Regel abgelehnt worden.

Ohne die Unterstützung der SPD als größerer Oppositionsfraktion, die jedoch kein Interesse daran habe, könne die Linksfraktion die Durchführung von Anhörungen nicht durchsetzen. Diese Situation habe ein intransparentes verkürztes Verfahren zur Folge, da das Thema auch in den öffentlichen Debatten im Plenum so gut wie keine Rolle spiele, wenn man sich nicht mit den vielen Sachverhalten, die in den entsprechenden Gesetzen ursprünglich geregelt werden sollten, auseinandersetzt. Ihre Versuche, auf diesem Weg eine öffentliche Debatte anzuregen, seien weitgehend folgenlos geblieben, so Kathrin Vogler zum Abschluß ihres aufschlußreichen Exkurses in den parlamentarischen Alltag.

Zur Brisanz der Verankerung der eGK im Transplantationsgesetz fügte sie an, damit werde zum ersten Mal deutlich, daß das System e-Card Bestandteil eines potentiellen Kontrollregimes sei. So hätten alle Rednerinnen und Redner in der Organspendedebatte betont, wie sehr es ihnen darum gehe, daß die Entscheidung, ob jemand Organe spenden möchte oder nicht, freiwillig zu erfolgen habe. Der SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier, einer der prominentesten Befürworter der Entscheidungslösung, habe die Absicht der geplanten Gesetzesänderung mit den Worten umschrieben, daß man den Menschen nur etwas penetranter auf die Pelle rücken wolle. Dem hält Vogler gegenüber, daß die Speicherung der persönlichen Entscheidung über eine mögliche Organspende in einer via Internet begehbaren Datenbank völlig unabhängig von der jeweiligen Position ein Kontrollregime eröffne.

Die Referentin begründete dies mit der Verinnerlichung einer Verhaltenskontrolle, wie sie etwa mit Attrappen von Überwachungskameras erreicht werde, die das Gefühl hervorriefen, beobachtet zu werden, auch wenn man diese Täuschung durchschaue. Die Speicherung der Entscheidung zur Organspende im e-Card-System wirke sich auf die Betroffenen als Beeinträchtigung ihrer Freiwilligkeit und Selbstbestimmung aus, da sie dazu neigten, sich der Erwartung zu unterwerfen, die an sie gestellt werde. Allein das Gefühl, irgend jemand könnte ihre Entscheidung kontrollieren, reiche dazu aus, so Vogler, die sich auf umfassende Untersuchungen im Rahmen der Surveillance-Forschung zur Internalisierung von Kontrollregimes stützen könnte.

Auch drohe aus anderer Richtung, nämlich der Kontrolle des erwünschten Verhaltens bei chronisch Kranken wie Diabetikern, die Gefahr, mittels der Verfügbarkeit umfassender Krankendaten zu überprüfen, ob der jeweilige Patient sich therapiekonform verhält und wie man eventuelle Abweichungen von den medizinischen Auflagen sanktionieren könne. Die Referentin befürchtet, daß das Transplantationsgesetz lediglich eine erste Tür zu Formen der Nutzung der mit dem System e-Card angehäuften Datenressourcen aufstoße, die gar nicht vorgesehen waren, aber aus gesundheitspolitischen oder anderen Nutzenerwägungen heraus eingeführt werden könnten.


Das Beschreiten des Rechtsweges ist zwar nur eine Möglichkeit, die e-Card zu stoppen, doch in Anbetracht des Tempos und Drucks, mit dem ihre Sachwalter ihre Durchsetzung erzwingen wollen, könnte diese Option maßgeblich zum Erfolg des Widerstands gegen das Telematikprojekt des Gesundheitswesens beitragen. Erst mit der konkreten Einführung der eGK wird den Versicherten bewußt, daß sich die Bedingungen ihrer medizinischen Versorgung verändern. Die sich dabei stellenden Fragen nicht nur durch die beschwichtigenden Ausflüchte der Betreiber des Projekts beantworten zu lassen, sondern den aus naheliegenden Gründen wie der zunehmenden Bürokratisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens aufkeimenden Verdacht zu nähren, hier gehe es weniger um die Interessen der Patienten als um die der sogenannten Gesundheitswirtschaft, haben sich die Kritiker und Gegner des Systems e-Card zur Aufgabe gemacht. In den nächsten anderthalb Jahre dürfte sich herausstellen, ob sich auch auf diesem so zentralen, tief in die individuelle Lebensführung eingreifenden Konfliktfeld ein zivilgesellschaftliches Engagement entfachen läßt, wie es gerade in jüngster Zeit zur Verhinderung anderer administrativer und industrieller Großprojekte Schlagzeilen machte.


Fußnoten:
[1] http://www.ehr4cr.eu/

[2] http://www.foebud.org/gesundheitskarte/muster-klage_gegen_egk_v1_3.pdf/view

[3] http://www.stoppt-die-e-card.de/index.php?/pages/foto.html

Ausführlicher Hintergrundsbericht zur e-Card siehe unter
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0010.html

4. Juli 2012