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BERICHT/015: Der Entnahmediskurs - Ein Schritt vor, zwei zurück (SB)


Hirntod und andere Schattenseiten der Transplantationsmedizin

Workshop am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld vom 12. bis 14. September



Die Krise der Transplantationsmedizin liegt weniger im sogenannten Organmangel als in der beschädigten Rechenschaft, die sie über ihre Normen, Methoden und Prozeduren ablegt. So wird mit der Aussage, jeden Tag stürben drei auf der Warteliste für eine Organtransplantation stehende Menschen in der Bundesrepublik aufgrund unzureichender Spendebereitschaft, suggeriert, dies sei einer moralisch verwerflichen Verweigerungshaltung geschuldet. Tatsächlich sterben diese Menschen an den Folgen eines Unfalls oder einer Krankheit. Auch wenn diese Folgen bisweilen durch Ersatzorgane aufgehoben werden können, läuft die moralische Verpflichtung, dafür Organe zu spenden, zumindest so lange ins Leere, als die Gesellschaft nicht auch andere schwerwiegende Defizite, die Menschen schaden und töten können, mit dem gleichen moralischen und finanziellen Impetus zu beseitigen versucht, wie es bei der Transplantationsmedizin der Fall ist. Darüber hinaus sind die Widersprüche, die sich bei der Voraussetzung auftun, eine Organentnahme nur am gestorbenen Menschen vorzunehmen, so eklatant, daß der moralische Druck, mit dem die Organernte gesteigert werden soll, an den Versuch einer unter fragwürdigen Behauptungen erwirkten Nötigung grenzt.

Selbst wenn alle Bundesbürger über einen Organspendeausweis verfügten und darauf die Bereitschaft angestrichen hätten, im Todesfall ohne Einschränkungen Organe spenden zu wollen, würde die Verfügbarkeit vitaler Ersatzorgane niemals den Bedarf decken können. Laut einer in NRW durchgeführten Untersuchung des im Jahr 2010 erreichbaren Potentials an Organspenden wäre, wenn alle Menschen identifiziert würden, die als Spender in Frage kämen, lediglich eine Steigerung von derzeit etwa 13 auf 21 Spender pro eine Million der Bevölkerung machbar. Der Zuwachs beträfe zudem vor allem ältere Spender mit dementsprechend schlechterer Organqualität, also ungünstigerer Prognose hinsichtlich der wahrscheinlichen Dauer, bis eine Retransplantation nötig würde [1].

Nicht durch Herz-Kreislauf-Versagen zu sterben und damit nur mehr als Spender für Gewebe in Frage zu kommen, die nicht mehr durchbluteten Leichen entnommen werden, sondern im Zustand erhaltener Kreislauftätigkeit noch warm durchblutete Organe spenden zu können, setzt in der Bundesrepublik die Hirntoddiagnose zwingend voraus. Dies schränkt den Kreis der Organspender so sehr ein, daß die in dem Vorwurf, die Bundesbürger zeigten nicht genügend Bereitschaft zur Organspende, liegende Unterstellung, damit könnten alle auf der Warteliste stehenden Patienten versorgt werden, falsche Erwartungen weckt. Auch wenn alle für hirntot erklärten Sterbenden als Multiorganspender fungieren, gibt es nicht genug Menschen, die, intensivmedizinisch mit künstlicher Beatmung und anderen pflegerischen Leistungen betreut, das Entnahmekriterium des Hirntodes erfüllten.

Dazu tragen Fortschritte in der Notfallmedizin ebenso bei wie eine erhöhte Verkehrssicherheit oder verbesserte Arbeitsschutzmaßnahmen. Ohnehin machen Unfallopfer mit Schädelhirntrauma, die das verbreitete Bild des potentiellen Organspenders prägen, den weitaus kleineren Teil der tatsächlichen Organspender aus. Medizinische Gründe wie Hirnblutungen, die neben äußeren Verletzungen aus vielfältigen Krankheitsverläufen entstehen, können ebenso zu einer Hirntoddiagnose führen wie Hirninfarkte oder eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Auch aufgrund dessen sind weniger als die Hälfte aller Organspender in der Bundesrepublik jünger als 65 Jahre. Letztlich wird der strukturelle Mangel an Organen durch die starke institutionelle Förderung der Transplantationsmedizin, die unter anderem von der Aussicht auf Vollversorgung mit Ersatzorganen genährt wird, eher vergrößert, geht die Organtransplantation als Therapie der Wahl vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen doch zu Lasten anderer Formen der medizinischen Prävention und Behandlung.

Zudem steht der immense politische und institutionelle Aufwand, der betrieben wird, um diese Therapieform zu propagieren und zu fördern, im krassen Mißverhältnis etwa zur Vermeidung hygienisch bedingter Krankenhausinfektionen, die je nach Schätzung zwischen 10.000 und 40.000 Todesopfer im Jahr zur Folge haben. Hier wäre zu fragen, ob die Arbeitsüberlastung im ökonomisch rationalisierten Krankenhausbetrieb nicht mitverantwortlich dafür ist, daß die hygienischen Standards diesem Problem nicht gewachsen sind.

Auch soziale Faktoren sind dafür verantwortlich, wie lange ein Mensch lebt und ob er dies mit besserer oder schlechterer Gesundheit tut. Laut dem "Datenreport 2013", der gerade in einer Vorabversion [2] veröffentlicht wurde, "haben Männer und Frauen, deren Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze liegt, im Verhältnis zur hohen Einkommensgruppe ein 2,7- beziehungsweise 2,4-fach erhöhtes Mortalitätsrisiko. Die mittlere Lebenserwartung bei Geburt von Männern der niedrigen Einkommensgruppe liegt fast elf Jahre unter der von Männern der hohen Einkommensgruppe. Bei Frauen beträgt die Differenz rund acht Jahre. Auffallend ist dabei, dass sich auch zwischen den mittleren Einkommensgruppen Unterschiede zeigen, sodass von einer graduellen Abstufung der Lebenserwartung ausgegangen werden kann". Mit einem rund 16,1 Prozent umfassenden Sockel armutsgefährdeter Personen in der Bundesrepublik 2011 ist also ein erheblicher Teil der Bevölkerung von verminderter Lebenserwartung betroffen, was zudem einen insgesamt schlechteren Gesundheitszustand der niedrigsten Einkommensgruppe beinhaltet.

Dabei ist die geringere Dauer des Lebens bei den ärmsten Bundesbürgern nicht nur einem selbstverschuldeten Mangel an Gesundheitspflege zuzuschreiben, wie im Überschwang neoliberaler Bezichtigungslogik gerne behauptet wird. Die schlechtere Versorgung mit hochwertigen Lebensmitteln und Wohnverhältnissen, gesundheitsschädliche Arbeiten und psychosoziale Streßfaktoren, die auch durch gesundheitlich abträgliche Formen des Konsums kompensiert werden, als auch die Notwendigkeit, teure Zusatzversicherungen abzuschließen, wenn man jedwede medizinische Leistung in Anspruch nehmen will, fordern einen Tribut, der sich in konkreten Einbußen an Lebenszeit ausdrückt. Den lebensverkürzenden Mangel an sozialer Gerechtigkeit nicht in Rechnung zu stellen, während das durch die neoliberale Gesundheitswirtschaft wie Rentenpolitik in Frage gestellte Solidargebot bei der Organspende eingefordert wird, läßt auf andere Interessen als ungeteilte Menschenfreundlichkeit schließen. In den USA, wo der Mangel an Spenderorganen zur "national health crisis" erklärt wurde, ist dieses Mißverhältnis allerdings um einiges krasser. Dort ist, um nur einen sozialen Indikator zu nennen, ein Sechstel der Bevölkerung mit anwachsender Tendenz von Phasen unzureichender Ernährung betroffen, während ein Drittel dieser Gruppe regelrecht hungert.

Auch werden Verkehrs- und Arbeitsunfälle wie körperliche Schädigungen, die die agroindustrielle Lebensmittelproduktion durch die anwachsende Antibiotikaresistenz, die Zunahme allergischer Reaktionen und toxischer Substanzen in der Nahrung zeitigt, als Blutzoll der herrschenden Produktionsweise stillschweigend hingenommen. Bei alledem sind die elenden Sozialverhältnisse in anderen Ländern der Welt, die im Zusammenhang mit eigenen wirtschaftlichen Interessen stehen, noch gar nicht genannt. Der altruistische Primat der Organspendewerbung krankt zudem daran, daß er in einem besonders kostenintensiven und für einige Akteure wie die Pharmaindustrie dementsprechend profitablen Bereich der sogenannten Gesundheitswirtschaft stattfindet. Werden erwerbsabhängig Beschäftigte in der neoliberalen Leistungsgesellschaft zeitlebens darauf gedrillt, den Wert der Ware Arbeitskraft in eigener Anstrengung so hoch wie möglich zu treiben, um überhaupt noch Abnehmer auf einem Markt zu finden, der von nicht minder durch Überlebensnot getriebener Konkurrenz übersättigt ist, so sollen sie sich am Lebensende auf eine Weise solidarisch zeigen, die den Marktsubjekten zuvor mit sozialdarwinistischer Logik ausgetrieben wurde.

Als weitere Probleme, die die Krise der Transplantationsmedizin, die vor allem eine ihrer Glaubwürdigkeit ist, bedingen, sind zu nennen: Die Störungen, die eine Organspende im Ablauf des Sterbeprozesses verursacht; die häufig schlechte psychosoziale Situation der Patienten auf der Warteliste, insbesondere wenn sie vergeblich auf ein Ersatzorgan hoffen; die psychologischen Belastungen, unter denen manche Empfänger der Organe Verstorbener leiden; der nichteingetretene Zuwachs an Lebensqualität bei einigen Empfängern neuer Nieren, die mit einer Dialyse zwar eingeschränkt, aber besser lebten [3]; notwendige Retransplantationen nach Ausfall des in seiner Tätigkeit zeitlich befristeten neuen Organs; die durch die medikamentöse Unterdrückung der Abstoßungsreaktion erzeugten Anfälligkeiten und Nebenwirkungen [4].

Hirntodkonzeption von inneren Widersprüchen eingeholt

Zentral für die Krise der Transplantationsmedizin bleibt jedoch nach wie vor die Frage, wann der sterbende Mensch als tot bezeichnet wird, um ihm auf ethisch vertretbare Weise vitale Organe wie Herz, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm zu entnehmen. Die Verpflanzung von Nieren und Leberlappen ist im Rahmen einer Lebendspende möglich, doch auch in diesen Fällen besteht übergroßer Bedarf, so daß diese Organe ebenfalls hirntot erklärten Menschen entnommen werden. Dieses Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage läßt sich nicht mit konventionellen marktwirtschaftlichen Methoden ausgleichen, solange das Tötungsverbot als zentrale Säule zivilisatorischer Entwicklung Bestand hat. Wie die unlängst eingestellte Praxis der Entnahme vitaler Organe nach der Hinrichtung zum Tode verurteilter Straftäter in China gezeigt hat, ist diese Grenze keineswegs so gesichert, daß sie nicht perforiert werden könnte. Das gilt auch für Vorschläge, die aktive Sterbehilfe, die in den Niederlanden auch an nichteinwilligungsfähigen Menschen durchgeführt wird, mit einer Organentnahme zu verbinden.

Seinen Anfang nahm der Kompromiß, die Organernte auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod anzusiedeln, 1968 mit den Harvard-Kriterien. Indem das Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death den Tod des ganzen Menschen, dessen sichere Feststellung zuvor eindeutige Todeszeichen wie Totenstarre und Leichenflecken verlangte, auf das "irreversible Koma" bezog, öffnete es die Tür für die Debatte, ob man nicht weitere Formen tatsächlicher wie mutmaßlicher komatöser Bewußtlosigkeit in neue Todesdefinitionen einbeziehen sollte. Zwar wurde mit dem Uniform Determination of Death Act (UDDA) 1981 das "irreversible Ende aller Funktionen des Gehirns inklusive des Hirnstamms" als Entnahmekriterium in den meisten US-Bundesstaaten legalisiert. Doch hat die Gültigkeit dieser Todesdefinition bis heute nicht allgemeine Anerkennung gefunden, auch wenn sie sich in der klinischen Praxis bewährt hat.

Das hat unter anderem mit ihrem Zustandekommen nach der ersten erfolgreichen Herztransplantation durch den Chirurgen Christian Barnaard 1967 zu tun. Das dabei verpflanzte Organ war einem noch nicht verstorbenen Spender entnommen worden. Der medizintechnische Fortschritt, zentrale lebenserhaltende Funktionen des Organismus nach dem Ausfall der Spontanatmung durch künstliche Beatmung aufrechterhalten zu können, hatte Möglichkeiten des Zugriffs auf Spenderorgane eröffnet, die zuvor undenkbar gewesen waren. Wollte man nicht auf die Zeit vor 1967 zurückfallen, als zu verpflanzende Organe aus nicht mehr durchbluteten Leichen stammten, so mußte der Glaube, man entnehme vitale Organe nur aus Verstorbenen, schon aus ethischen Gründen wiederhergestellt werden. Dies führte dazu, daß die ethische und juristische Theorie der medizinischen Praxis nachgeordnet wurde, so daß der widersprüchliche Charakter der Hirntodkonzeption auch als Geburtsfehler dieses Entnahmekriteriums bezeichnet werden könnte.

Die künstliche Beatmung des damit paradoxerweise zum warm durchbluteten Leichnam gewordenen Menschen konserviert einen Zustand, den einige Mediziner und Bioethiker aus guten Gründen auch als intermediäres Leben, als Individualtod, als unbestimmten Zustand zwischen Leben und Tod oder als eine Form des verlängerten Sterbens bezeichnen. Die im Organspendeausweis verwendete Formulierung "Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen/Geweben zur Transplantation in Frage kommt", trägt der differenzierten Auseinandersetzung mit dieser Todesdefinition jedenfalls nur unzureichend Rechnung.

Die Hirntodkonzeption war zwar für die Transplantationsmedizin ein Erfolg, weil sie sich weltweit als legaler Entnahmestandard etabliert hat. Bis heute leidet die moralische und empathische Anerkennung dieser Form der Todesfeststellung unter dem subjektiven Eindruck vieler Angehöriger und Pflegerinnen, bei den warm durchbluteten Körpern der Hirntoten keine Gestorbenen vor sich zu haben, sondern in ihren Lebensmöglichkeiten schwer behinderte Sterbende.

Bei der Diskussion - Foto: © 2013 by Schattenblick

Moderatorin Claudia Wiesemann (links), Referentin Sabine Müller (rechts) Foto: © 2013 by Schattenblick

Auf die intuitive Ahnung, daß es grundfalsch sein könnte, die verbliebenen Vitalfunktionen der Hirntoten sehenden Auges zu ignorieren, um sie bei der Organentnahme auch im traditionellen Sinne zu Tode zu bringen, ging die Neurologin Dr. Sabine Müller auf dem Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" ein. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Universitätsmedizin Berlin hat sich bereits 2011 mit einer Veröffentlichung [5] in der Reihe Aus Politik und Zeitgeschichte der Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB) einen Namen als Kritikerin der Hirntodkonzeption gemacht. In Bielefeld ging sie in ihrem Vortrag "The importance about truthful information about brain death" noch einmal ausführlich auf einzelne Fragen zur Gültigkeit dieser Todesdefinition ein.

Allein die somatische Integration bei sogenannten Hirntoten wie die Regulation des inneren Milieus (Homöostase) der Körpertemperatur, verschiedener Körperflüssigkeiten, des Blutzuckers und Mineralienhaushaltes, weiterer Stoffwechsel- und Ausscheidungsfunktionen, der Wundheilung und Immunabwehr als auch vom Versagen des Gehirns unbeeinträchtigter Wachstumsfaktoren und mit der Geburt des Kindes erfolgreich beendeter Schwangerschaften verweist auf die Verzichtbarkeit zentralnervöser Steuerung für essentielle Lebensfunktionen. Kardiovaskuläre und hormonale Streßreaktionen bei der operativen Öffnung des Körpers zur Organentnahme ohne volle Betäubung des Hirntoten werden von potentiellen Spendern immer wieder zum Anlaß genommen, die Frage einer an welche Instanzen außerhalb des Gehirns auch immer adressierten Schmerzempfindung aufzuwerfen.

Müllers Kritik an der etablierten Diagnostik des Hirntodes betrifft vor allem den nicht vorgeschriebenen Einsatz der zerebralen Angiographie, mit der noch vorhandene Formen der Durchblutung etwa innerer Teile des Gehirns nachgewiesen werden können. In Zweifelsfällen sollten auch andere bildgebende Verfahren eingesetzt werden, um die Möglichkeit verbliebener neuraler Aktivitäten des Gehirns auszuschließen, fordert die Referentin, die dies 2010 in einem sehr lesenswerten Beitrag für die Zeitschrift "Ethik in der Medizin" unter dem Titel "Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-Diagnostik" [6] ausführlich begründete. Der Annahme, das für tot erklärte Gehirn sei nur noch eine diffuse Masse ohne Struktur und funktionsfähiges Material, hält Müller Untersuchungen entgegen, bei denen festgestellt wurde, daß die organische Struktur noch Stunden oder gar Tage nach der Entnahme der Organe erhalten geblieben war. In den USA haben Autopsien am Gehirn von Organspendern, bei denen nur moderate strukturelle Veränderungen am Nervengewebe festgestellt werden konnten, Zweifel an der Triftigkeit der getroffenen Hirntoddiagnose geweckt.

Die Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Sicht auf sogenannte Hirntote veranlassen Müller, das Erlangen eines Konsenses über eine angemessene Definition des Lebens und damit der Frage, ob Hirntote leben oder nicht, für illusorisch zu halten. Zu diesem Schluß gelangt sie nicht nur, weil die verschiedenen Auffassungen auf unterschiedlichen Sichtweisen über das Leben des Menschen beruhen, sondern das Interesse an der Aufrechterhaltung der Transplantationsmedizin seinerseits Einfluß auf die Diskussion nimmt.

Wie auch immer die Gesellschaft sich künftig zur Transplantationsmedizin stellt, so haben alle Entscheidungen weitreichende Folgen. So hat der President's Council on Bioethics (PCBE) der USA 2008 Stellung in der Debatte um die Hirntodkonzeption mit der Definition bezogen, die "fundamentale Arbeit" eines Organismus bestehe im Unterschied zu unbelebten Objekten darin, daß er im Austausch mit seiner Umgebung stehe. Er empfange von dort Reize und Signale und sei so der Welt gegenüber offen, er wirke willkürlich und selektiv auf die Welt ein und entspreche damit der empfundenen Notwendigkeit, seine Bedürfnisse zu befriedigen. [7] Diese Definition des Lebens, die Müller als metaphysisch bezeichnet, stehe im Widerspruch zur biologischen Sicht, laut der hirntote Patienten aufgrund der aufrechterhaltenen Funktionen somatischer Integration lebendige Organismen seien, die sich allerdings am Rande des Todes befänden. Erkennt man die Definition des Nationalen Ethikrates der USA als gültig an, dann betrifft dies auch den Status von Embryonen oder Föten, die demnach keine lebenden Wesen mehr sein könnten.

Gibt man demgegenüber die Tote-Spender-Regel auf, um die Praxis der Organtransplantation zugunsten der Organempfänger fortsetzen zu können, dann begünstigt das die Legitimation der aktiven Sterbehilfe. Richtet man sich hingegen nach dem ethischen Grundsatz, niemandem zu schaden, dann können Hirntoten keine Organe mehr entnommen werden, was dazu führte, daß weniger Organe zur Verfügung stehen und keine Herzen mehr transplantiert werden können. In jedem Fall benötige der Staat klare Definitionen, um administrativen Maßnahmen etwa des Erb- und Bestattungsrechts, der Pflege am Lebensende, der Transplantation und medizinischen Forschung treffen zu können.

Abschließend empfahl die Referentin, die Tote-Spender-Regel abzuschaffen, allerdings ohne auf das Prinzip zu verzichten, kein menschliches Wesen gegen seinen Willen zu töten. Auf Anfrage aus dem Publikum erklärte sie, das Töten eines als hirntot diagnostizierten Menschen durch die Entnahme vitaler Organe persönlich abzulehnen. Wenn sich aber ein Mensch aus altruistischen Gründen dazu bereiterkläre, akzeptiere sie seine autonome Entscheidung. So solle die Organspende erlaubt sein, sofern eine umfassend informierte Zustimmung des Spenders vorliegt. Auch zu diesem Zweck sollte die uneingeschränkte und wahrheitsgemäße Information über den Hirntod, die Organentnahme einschließlich der Vorbereitung des Spenders, ihre Risiken und ihr Nutzen wie die wissenschaftliche Diskussion über Todeskriterien gewährleistet werden.

Sabine Müller wünscht sich eine öffentliche Diskussion über die verschiedenen Ansichten hinsichtlich des Hirntods als auch möglicher Fehldiagnosen und Interessenkonflikte. Zudem plädiert sie für ein strenges Zustimmungsmodell, was auch die derzeit gültige erweiterte Zustimmungslösung ausschließt. Da sich die Zahl verfügbarer Organe dadurch verringere, sei es notwendig, auch die Zahl benötigter Organe zu senken, was durch eine verbesserte Prävention des Organversagens wie die Entwicklung alternativer Therapien, die auch die Entwicklung künstlichen Organersatzes einschließe, möglich werden soll.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] http://www.ethikrat.org/dateien/audio/plenarsitzung-26-09-2013-stippel.mp3

[2] http://www.wzb.eu/sites/default/files/u6/datenreport2013_vorab_online.pdf

[3] http://www.ethikrat.org/dateien/audio/plenarsitzung-26-09-2013-greif-higer.mp3

[4] http://www.deutschlandfunk.de/aus-feind-mach-freund.740.de.html?dram:article_id=111942

[5] http://www.bpb.de/apuz/33311/wie-tot-sind-hirntote-alte-frage-neue-antworten?p=all

[6] http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=4&cad=rja&ved=0CEQQFjAD&url=http%3A%2F%2Fdata7.blog.de%2Fmedia%2F231%2F5815231_f021f45040_d.pdf&ei=l6mUUqWfH6HpywPF1YD4BQ&usg=AFQjCNGvC_wf1q3MDwUX6txDddEqw5VsNQ&bvm=bv.57155469,d.bGQ

[7] https://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/morb0004.html

Bisherige Beiträge zum Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN→ REPORT:

INTERVIEW/022: Der Entnahmediskurs - Außen vor und mitten drin, Gespräch mit Prof. Dr. Ralf Stoecker (SB)
BERICHT/014: Der Entnahmediskurs - Fluß der Fragen, Meer der Zweifel (SB)

26. November 2013