Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → REPORT

INTERVIEW/007: Ersatzteillager Mensch - Sigrid Graumann warnt vor reduziertem Menschenbild (SB)


Von der biologischen Todesdefinition zum Konzept des Todes der Person?

Interview mit Sigrid Graumann am 24. März 2012 in Essen-Steele



Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann hat Biologie mit Hauptfach Humangenetik und Philosophie an der Universität Tübingen studiert. Sie war von 1994 bis 1997 Mitglied im Graduiertenkolleg Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen und schloß 2000 ihre erste Dissertation in der Humangenetik über wissenschaftsethische Fragen der somatischen Gentherapie ab. Von 1997 bis 2002 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften in Tübingen und von 2002 bis Ende 2008 am Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft in Berlin. Sie schloß 2009 eine zweite Dissertation in der Philosophie über menschenrechtsethische Fragen der UN-Behindertenrechtskonvention an der Universität Utrecht ab. Von 2009 bis 2011 war sie akademische Rätin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg. Seit Oktober 2011 ist Sigrid Graumann Professorin für Ethik im Fachbereich Heilpädagogik und Pflege an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Ihre Forschungsinteressen sind ethische Fragen der Biomedizin und ihre gesellschaftlichen Folgen sowie Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung.

Von 2000 bis 2002 und von 2003 bis 2005 war sie Mitglied der Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin des Deutschen Bundestags. Seit 2004 ist sie Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und im Vorstand der Akademie für Ethik in der Medizin, seit 2009 in der Gendiagnostikkommission und im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft sowie seit 2011 im Fachausschuß "Freiheits- und Schutzrechte, Frauen, Partnerschaft und Familie, Bioethik" beim Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von behinderten Menschen. [1]

Sigrid Graumann nahm an der Tagung "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert" teil, die am 23./24. März 2012 im Kulturzentrum GREND in Essen-Steele stattfand. Am Rande der Konferenz beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Sigrid Graumann - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sigrid Graumann
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Sollte die Kritik am Hirntodkonzept dazu führen, diesem Konstrukt den Boden zu entziehen, stellt sich die Frage, was danach kommt. Was ist in diesem Zusammenhang Ihres Erachtens zu befürchten?

Sigrid Graumann: Der Hirntod ist als biologische Todesdefinition tatsächlich so vielen kritischen Einwänden ausgesetzt, daß dieses Konstrukt früher oder später nicht mehr haltbar sein wird. Im Moment beobachten wir eine Strategie vor allem aus Kreisen der Ärzteschaft, verzweifelt an diesem Konzept festzuhalten. Ich denke, das wird nicht gelingen. Es muß meiner Meinung nach offen thematisiert werden, daß es sich bei der heutigen Praxis um eine Organentnahme bei Menschen im Sterbeprozeß handelt. Dies könnte dazu führen, daß in der Bevölkerung das Vertrauen in die Transplantationsmedizin sinkt und diese in der gegenwärtigen Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Ich bin mir indessen sicher, daß bestimmte Interessengruppen angefangen von Patientenorganisationen bis hin zur Ärzteschaft alles in Bewegung setzen werden, um die Transplantationsmedizin als solche ungeachtet aller Einwände fortzusetzen.

Daher steht zu befürchten, daß die biologische Todesdefinition vermutlich in einem schleichenden Prozeß durch die Definition des Todes der Person ersetzt wird. Wenn das geschieht, haben wir kein hartes Todeskriterium mehr, was zur Folge hat, daß Menschen, die nicht oder nicht mehr die Kriterien erfüllen, die eine Person ausmachen, nämlich selbstbewußt zu sein, sich Handlungsziele setzen zu können und Wünsche zu äußern, potentiell gefährdet sind. Unter die neue Definition droht eine ganze Reihe von Gruppe zu fallen: Es können Wachkomapatienten, Menschen im Endstadium von Alzheimer, Menschen mit schweren geistigen Behinderungen oder auch schwerbehindert geborene Kinder sein, die dann als Kandidaten für eine Organexplantation ins Auge gefaßt würden. Das ist eine gesellschaftliche Folge, die ich für gefährlich halte.

SB: Was für ein Menschenbild wird damit transportiert?

SG: Dabei wird der Mensch nicht mehr als Mitglied der sozialen Gemeinschaft gesehen, vielmehr reduziert man Menschsein auf personale Fähigkeiten, also bestimmte kognitive, rationale Fähigkeiten. Es handelt sich also im Grunde um die Gleichsetzung von Mensch und Person.

SB: Müßte dann nicht die Frage der Organspende an andere Themen gekoppelt werden, um sie auf breitere Füße zu stellen?

SG: Ich bin der Meinung, daß man hier tatsächlich sozialethisch argumentieren muß, weil große Gefahren in dieser gesellschaftlichen Entwicklung auszumachen sind. Ich befürchte, daß wir eine Diskussion bekommen werden, in der die Organspende unter das breite Dach der Gestaltung des eigenen Sterbens, wie wir es bereits mit den Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und der Sterbehilfedebatte kennen, subsumiert wird. Ich sehe in der bioethischen Debatte die Tendenz, das Thema Transplantation und Bereitschaft zur Organspende als rein individuelle, persönliche, selbstbestimmte Entscheidung zu sehen und nicht die gesellschaftlichen Folgen mit zu thematisieren.

SB: Wie würden Sie in diesem Zusammenhang das Thema der Selbstbestimmung bewerten, wie es heute propagiert wird? Man sagt ja, jeder sei selbst verantwortlich und habe die Freiheit, allein über sein Leben zu bestimmen. Ist das ein positiver oder eher negativer Begriff von Selbstbestimmung?

SG: Ich finde, es ist beides. Der Begriff der Selbstbestimmung kommt aus der Bürgerrechtsbewegung, der politischen Bewegung und der Frauenbewegung und ist in diesem Sinn eine wichtige Errungenschaft. Die Gefahr bei einem einseitigen Verständnis von Selbstbestimmung als Willkürfreiheit besteht darin, daß die sozialen Bedingungen, unter denen selbstbestimmte Entscheidungen getroffen werden, nicht mehr mit berücksichtigt werden und daß die Frage von gesellschaftlichem Druck, von sozialem Druck auf diese selbstbestimmten Entscheidungen aus dem Blick gerät.

SB: Könnte man angesichts der von Ihnen angeführten Herkunft des Begriffs Selbstbestimmung aus sozialen Bewegungen sagen, daß auf diese Weise Teile der ehemaligen Linken vereinnahmt oder sogar selbst zu Transporteuren der Tendenz, die Werte zu verändern, wurden?

SG: Auf jeden Fall. Ich glaube, das ist am deutlichsten in der Frauenbewegung zu sehen. Dort beziehen sich dieselben Leute, die die Selbstbestimmung der Frauen in der Schwangerschaftsabbruchdebatte infrage gestellt haben, heute positiv darauf, um Fortpflanzungsmedizin und Pränataldiagnostik zu rechtfertigen.

SB: Welche Veränderung findet da in der Gesellschaft statt? Wir hatten ja vorhin darüber gesprochen, daß das Bewußtsein für bestimmte Themen in der Vergangenheit viel breiter angelegt war, während heute eher eine Fragmentierung eintritt.

SG: Die Ursachen zu benennen ist natürlich außerordentlich schwierig. Ich denke, daß Individualisierung eine immer größere Rolle dabei spielt. Es sind in der Tat Veränderungen, die im Zusammenhang mit einer Fragmentierung der Gesellschaft zu sehen sind. Sie haben auch etwas damit zu tun, daß Paternalismus grundsätzlich abgelehnt wird, was ja auch eine positive Seite hat. Ich würde sagen, es ist eine ambivalente Entwicklung.

SB: Wir hatten in der Diskussionsrunde auch über den Druck der verschiedenen Krisen gesprochen und daß Menschen in einer Situation der Enge und der Not noch eher als ohnehin schon dazu neigen, gegen andere gesellschaftliche Gruppen zu argumentieren und vorzugehen. Könnte man dem etwas entgegensetzen?

SG: Ich neige dazu, diesen Zusammenhang für nicht unplausibel zu halten, aber er ist natürlich immer etwas spekulativ. Klar ist auf jeden Fall, daß eine Debatte über die Grenzen des Sozialstaats geführt wird und eine immer stärkere Individualisierung der Verantwortung für die eigene Gesundheit und die eigene soziale Situation stattfindet. Das sind natürlich Entwicklungen, die letztlich ungewollt durch das Starkmachen des Begriffs der Selbstbestimmung gefördert worden sind. Trotzdem würde ich das nicht nur als negative Entwicklung sehen. Ich möchte auf ein bestimmtes Verständnis von Selbstbestimmung nicht mehr verzichten.

SB: Unter den Teilnehmern dieser Tagung waren offenbar viele Menschen, die hinsichtlich diverser Fragen eine eher konservative Auffassung haben, aber an bestimmten Punkten sehr pointiert Stellung beziehen. Wäre das eine mögliche Stoßrichtung, um Menschen anzusprechen, die bislang nicht mit sozialen Bewegungen in Berührung gekommen sind?

SG: Das ist bei diesen bioethischen Themen schon seit Jahren sehr auffällig. Die Positionen bewegen sich da immer schräg, um es einmal so auszudrücken, zu anderen Weltanschauungen. Ich finde mich mit meinen kritischen bioethischen Positionen immer wieder mit Menschen im selben Boot, mit denen ich bei anderen Themen wie etwa Fragen sozialer Gerechtigkeit quer liegen würde. Ich denke, es ist eine Chance, aus einer isolierten Interessengemeinschaft herauszukommen und diese Themen in die Mitte der Gesellschaft hineinzutragen.

SB: Ich bedanke mich für dieses Gespräch.


Fußnote:
[1]‍ ‍http://www.efh-bochum.de/homepages/graumann/

19.‍ ‍April 2012