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INTERVIEW/013: Das System e-Card - Paul Unschuld zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens (SB)


Vom Niedergang der klassischen Medizin in der "Gesundheitswirtschaft"

Interview mit Paul Unschuld, Medizinhistoriker, am 18. April 2012 in Berlin



Prof. Dr. Paul Unschuld ist Medizinhistoriker, Sinologe und Direktor des Horst-Görtz-Stiftungsinstituts für Theorie, Geschichte und Ethik Chinesischer Lebenswissenschaften der Charité Universitätsmedizin Berlin. In seinem Buch "Ware Gesundheit - Das Ende der klassischen Medizin" setzt er sich kritisch mit dem grundlegenden Wandel der medizinischen Heilkunst und der Rolle der Heilberufe in einem zusehends ökonomischen Interessen nachgeordneten Gesundheitswesen auseinander. Im Anschluß an die Konferenz "Medizinqualität statt e-Card-Bürokratie - zu Risiken und Nebenwirkungen der elektronischen Gesundheitskarte" im Berliner Hotel Aquino beantwortete Professor Unschuld dem Schattenblick einige Fragen.

Im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Paul Unschuld
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Professor Unschuld, Sie vertreten die These, daß in der medizinischen Entwicklung ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, demzufolge die Ärzteschaft zunehmend aus dem Zentrum der Entscheidungen im Gesundheitswesen verdrängt wird und Krankheit volkswirtschaftlich wertvoller ist als Gesundheit. Wodurch sonst legitimiert sich der Beruf des Arztes außer durch seine Kompetenz im Umgang mit Krankheit? War es nicht seit jeher so?

Paul Unschuld: Nein. Die Frage ist vielmehr: Was braucht die Gesellschaft? Braucht sie hundertprozentige Gesundheit von den Vorständen bis hinunter zur Arbeiterschaft? Als vor 200 Jahren die Manufakturen aufkamen, war es noch eine echte Pyramide: oben ein Boß, dann gehobenes Angestelltentum, dann die Leitenden und unten eine breite Arbeiterschaft. Damit die Firma funktionieren konnte, mußten alle gesund sein und hart schuften. Von daher ist es verständlich, warum die deutschen Staaten und andere euopäische Länder damals eine Gesundheitspolitik entwickelt haben, um Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Lebensumstände und Umweltbedingungen so zu gestalten, daß das, was über die Verantwortung des Individuums hinaus an Krankheitsrisiken besteht, zu minimieren, damit wirklich alle von unten bis oben, schichtunabhängig, gesund im Sinne ihrer Arbeitsfähigkeit sind. Das Rentenalter wurde zwei Jahre nach Abschluß der Arbeitsfähigkeit gesetzt, und dann starben die meisten Leute auch.

Der zweite Punkt war eben, daß man Millionen von jungen, gesunden Männern für die Volksheere bzw. Massenarmeen und natürlich auch Frauen brauchte, die diese bei Laune hielten bzw. den Nachwuchs aufzogen. Gesundheit war also nicht mehr Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck des starken Staates. Das hat in Deutschland und in anderen europäischen Staaten unser Gesundheitswesen und auch unsere Stärke hervorgebracht. Das war das Soziale, und dazu kam noch das Demokratische, und beides hat diesen kleinen Erdteil für eine kurze Weile zum Beherrscher der Meere und der anderen Kontinente gemacht. Die Perversion kam in der NS-Zeit mit der Volksgesundheit, die nicht nur durch Viren oder Gene bedroht wurde, sondern angeblich auch durch bestimmte Bevölkerungsgruppen, die nun als "Schädlinge" definiert wurden, die es dann auszuradieren galt. Der Satz von Rudolf Virchow - "Politik ist nicht weiter als Medizin im Großen" - ist einer der schlimmsten Sätze, der je in Deutschland ausgesprochen wurde und der dann nach 1933 auch befolgt worden ist. Ich finde diesen Satz heute noch genauso schlimm und prophetisch für das, was sich dann zugetragen hat.

Jetzt haben wir keinen Grund mehr, die wirtschaftliche Entwicklung des Staates bzw. die seiner Konzerne an die Gesundheit der Bevölkerung zu knüpfen. Wir haben die Arbeitsplätze nach China, Brasilien und Indien ausgelagert. Für die Jobs mit Anspruch an hohe technologische Fähigkeiten haben wir genügend Leute, die sich selbst um ihre Gesundheit kümmern. Und Gott sei Dank haben wir keine Massenarmeen mehr, nur Krisenreaktionskräfte, und die paar Leute dazu finden sich. All das führt dazu, daß Gesundheit kein vorrangiges politisches Ziel mehr ist. Gesundheit ist jetzt wieder Selbstzweck geworden.

Interessant ist, daß die deutsche Gesundheitspolitik mit der Zeit des ausgehenden Feudalismus einherkam. Vor zehn oder fünfzehn Jahren hatten wir in Deutschland eine sozialistische Gesundheitsministerin, die aus dem Kommunistischen Bund Westdeutschland stammte. Und sie forderte die Menschen auf, sich wieder selbst um ihre Gesundheit zu kümmern. Daran sieht man, daß hier Makroentwicklungen im Gange sind, die von einem Klassenstandpunkt, um es marxistisch auszudrücken, oder von der politischen Handlung völlig unabhängig erfolgen. Jetzt ist Gesundheit also wieder Selbstzweck, und dann heißt es, rauchen Sie nicht, machen Sie Sport, leisten sie sich ein Fitneßstudio, dann kriegen sie auch etwas dafür, der eine mehr, der andere weniger.

Und nun kommt der Nikolai Kondratieff ins Spiel, ein russischer Wirtschaftstheoretiker. Der hat vorausgesagt, daß der nächste wirtschaftliche Aufschwung durch das Gesundheitswesen zustande kommt. Und dann hat ein Hamburger Professor Heinz Lohmann den Begriff "Gesundheitswirtschaft" eingeführt. Gesundheitswirtschaft ist nun wirklich etwas völlig Neues. Ihre Befürworter stellen fest, daß wir bisher nicht ökonomisch waren, Krankenhäuser viel zu viel Geld verschwendeten und Chefärzte selbstherrlich gehandelt hatten. Wir müssen das jetzt ökonomisch gestalten.

Dagegen ist rein gar nichts einzuwenden. Problematisch wird es nur, wenn aus der Ökonomie Kommerz wird, das heißt, wenn private Investoren ins Gesundheitswesen einsteigen und dann eine Rendite daraus ziehen wollen. Ein Beispiel dafür, wie etwas eigentlich Sinnvolles sich unter dem Zwang der Gesundheitswirtschaft verändert hat, ist der Morbiditätsrisikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Da werden derzeit 80 kostenintensive Krankheiten definiert, bei denen eine Krankenkasse ein höheres Risiko für Geldabfluß hat. Die Techniker-Krankenkasse hat vielleicht eine gesündere Klientel als die AOK, also müssen wir der AOK, wenn sie solche Patienten hat, aus dem Morbiditätsrisikostrukturausgleich etwas dazuzahlen. Da spielen sofort kommerzielle Gesichtspunkte mit hinein, daß die Gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr vorrangig nach medizinischen Kriterien vorgehen, sondern sich sagen, wir kriegen für diese und jene Krankheiten so und so viel, also suchen wir nach Patienten mit diesen Krankheiten.

Natürlich können sie diese Leute nicht mit dem Netz auf der Straße einfangen, also üben einige Druck auf die Ärzte aus, Patienten so zu diagnostizieren, daß sie noch in eine Zahlung für den Morbiditätsrisikostrukturausgleich hineinfallen. Also wird verhandelt, manchmal zwischen Ärzten und Krankenkassen hinter dem Rücken eines Patienten. Dann fragt die Krankenkasse, Herr Doktor, könnten Sie den Befund nicht auch so und so formulieren? Dann macht er das, bekommt vielleicht zehn Euro dafür, und die Krankenkasse erhält mehr Geld aus dem Morbi-RSA, aber dem Patienten wird, ohne daß er nochmal in der Praxis war, das Stigma dieser Krankheit angehängt. Prof. Karl Lauterbach hat es in einem Lehrvortrag vor Vertretern der Gesetzlichen Krankenkassen, was ich in meinem Buch auch dargelegt habe, sehr schön ausgeführt, indem er sinngemäß gesagt hat: "Wenn man Leukämie diagnostiziert und eine teure Operation erforderlich ist, dann kostet es vielleicht 120.000 Euro. Jedenfalls kriegt man den Betrag aus dem Morbiditätsrisikostrukturausgleich erstattet. Jetzt geht ihr hin und fragt in verschiedenen Krankenhäusern nach: Wieviel wollt ihr für die Operation haben? Der eine sagt 100.000, der andere 90.000, ein dritter 80.000 - und sie geben es dem, der 70.000 bietet. Dann haben sie als Krankenkasse 50.000 Euro verdient." Da fragt man sich doch: Was soll das? Wo spart ein Krankenhaus, das für 70.000 operiert, wenn andere 100.000 verlangen, die Kosten ein? Stellen sie nur unbedarfte Ärzte aus Rumänien ein? Und dann sagt Prof. Karl Lauterbach sinngemäß den schönen enthüllenden Satz, daß der lukrativste Patient der HIV-Patient sei, wenn man es nur richtig anstellt. Dann sagt man sich natürlich, wenn ein HIV-Patient ein lukrativer Kunde im Marktdenken ist, den will doch keiner weggeben. Welches Interesse hat das System also noch, den HIV-Patienten auszukurieren, wenn alle an ihm verdienen? Aus diesem Grund habe ich die provokante These aufgestellt: Kranksein ist für die Gesetzlichen Krankenkassen und die pharmazeutische Industrie und daher auch für die Volkswirtschaft sehr viel profitabler als dieses alte Ziel Gesundheit.

SB: Als das Gesundheitssystem in Abhängigkeit von den Erfordernissen der Wirtschaft und des Militärs begründet wurde, herrschten Zustände vor, in denen die Menschen ohne Rücksicht auf Verluste ausgepreßt wurden, denn ihre Arbeitskraft war ersetzbar. Wo siedeln Sie den qualitativen Wechsel historisch an?

PU: Dieser Wandel begann um 1770 oder 1780. Johann Peter Frank und andere haben damals Bücher über die "medicinische Polizey" verfaßt. Polizei bedeutete seinerzeit Politik. Das war das erste Mal, daß Ärzte dem Staat empfahlen, medizinisch-politisch tätig zu werden und dies nicht den Menschen zu überlassen. Die aus heutiger Sicht unmöglichen Zustände, die sie beschrieben, sind natürlich nicht sofort beendet worden. Das vollzog sich erst im 19. Jahrhundert, an verschiedenen Orten vielleicht sogar erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber man kann sagen, daß sich die Medizin durchaus im Rahmen des gesellschaftlichen Überbaus verantwortlich gefühlt hat. Das galt wiederum nicht für jeden Mediziner, aber man kann es trotzdem der Medizin zuschreiben, die auch bereit war, dieses Mandat zu übernehmen und auch dieses Privileg wahrzunehmen, nämlich unangenehme Fragen zu stellen. Selbst Rudolf Virchow ist in diesem Sinne eines der besten Beispiele dafür, da er immerhin Kritik am Umgang mit den Webern geübt hat.

Nicht jeder nimmt das wahr, weil jeder in seiner Art unterschiedlichen gesellschaftlichen Zwängen unterworfen ist, aber dennoch haben es genügend wahrgenommen, so daß man letzten Endes sagen kann: Wir hatten eine kontinuierliche Verbesserung. Man braucht sich dazu nur unsere gesetzlichen Bestimmungen über Wohnraum, Wärme, Trockenheit, Höhe eines Balkon usw. anzuschauen, die auf eine kontinuierliche Minimierung der Risiken abzielen. Ich will jetzt nicht sagen, daß es irgendwann eine bestimmte Schnittstelle gegeben hat, sondern es war ein kontinuierlicher Effekt, der natürlich auch bis heute nicht perfekt ist. Und jetzt erleben wir diese Abkoppelung. Bei den Flugrouten zum Beispiel haben wir belastbare Daten darüber, daß Menschen, die in einer bestimmten Lärmbelästigung leben, krank werden und Herz-Kreislaufkrankheiten verstärkt auftreten, von den Kindern ganz zu schweigen, aber es interessiert offenbar keinen mehr. Die Diskussion um neue Start- und Landebahnen wird ausschließlich mit Argumenten wirtschaftlichen Wachstums geführt; Wachstum ist nicht länger unabdingbar mit der Gesundheit möglichst der Gesamtbevölkerung verknüpft.

SB: Rudolf Virchow hat die Zellularpathologie begründet und beschäftigte sich mit der seinerzeit kleinsten Einheit des Lebens. Die Fragmentierung der Physis war im besonderen von cartesianischen Ideen beeinflußt, die den Körper als Apparat und Mechanismus auffaßten. Sehen Sie im historischen Kontext einen Zusammenhang zwischen dieser rein medizinisch-wissenschaftlichen Entwicklung und den heutigen Positionen in der Medizin, von denen Sie sprechen, von der Zerstörung des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient zum Beispiel?

PU: Rudolf Virchows Leistungen muß man ein wenig korrigieren. Er war Demokrat und wollte sich sogar mit Bismarck duellieren. Bereits als Medizinstudent hat er ein politisches Manifest über den demokratischen Staat verfaßt und darin die Gleichberechtigung aller Individuen in einem Staat gefordert. Gleichberechtigung bedeutet bei ihm allerdings nicht, daß jeder dasselbe Potential besitzt. Seine gesamte Forschung in der Zellularpathologie ist nichts anderes als die Übertragung des demokratischen Regierungsprinzips auf den Körper. Er sieht im Körper den Staat und in der Zelle das Individuum. In seiner Konzeption sind alle Zellen gleichberechtigt, aber aus der einen entwickelt sich das und aus der anderen dieses. Er hat also nichts anderes gemacht, als den Körper zu demokratisieren. Seine Zellularpathologie ist schlicht und einfach eine körperliche Demokratie.

In diesen Zusammenhang muß man auch seine Aussage, Politik sei nichts anderes als Medizin im Großen, sehen. Das war nicht negativ gemeint, obwohl er den Staat mit dem Körper und seine Institutionen mit den körperlichen Organen verglichen hat. "Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen" bedeutet, auch im Staat gibt es Individuen, die alle das gleiche Recht haben müssen, aber aus dem einen entwickelt sich dies und aus dem anderen das. In den letzten zwei Jahrhunderten haben sich die Ärzte aufgrund des bereits angesprochenen Mandats und Privilegs erstmals in der Geschichte ein Vertrauen erwerben können. Das war vor 200 Jahren nicht der Fall. In dieser Zeit hat die europäische Medizin die vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung entwickelt und als ein hohes Gut schätzen gelernt. Das hohe gesellschaftliche Ansehen der Ärzte heutzutage beruht immer noch auf diesen letzten 200 Jahren.

Aber dieses Vertrauen wird jetzt zerstört, weil keiner, der zu seinem Hausarzt oder in die Klinik geht bzw. von einer staatlichen gesundheitspolitischen Maßnahme hört, noch darauf vertrauen kann, daß es zu seinem besten medizinischen Nutzen geschieht, sondern immer hinterfragen muß, ob das, was den Patientem verordnet oder angeraten wird, nicht aus einem ökonomisch-kommerziellen Interesse erfolgt. Ich habe vor kurzem gehört, daß ein Oberarzt in Halle Strafanzeige gegen einen bundesweit agierenden Klinik-Konzern wegen mehrtausendfacher Körperverletzung gestellt hat, wegen zu vieler Operationen und unnötiger Diagnosen und dergleichen. Hier schert einer aus aus der Phalanx der Willigen aus. Wenn das in die Öffentlichkeit kommt, wird es wieder dazu beitragen, daß die Leute ihr Vertrauen verlieren und sich fragen, ist das ein kommunaler Klinikverbund, der nur vier Prozent haben will, oder ein privater Investor, der elf Prozent verlangt. Da wirft ein Klinikinvestor 500 Mitarbeiter aus seinen Unikliniken heraus, weil er sonst das Renditeziel von mehr als zehn Millionen [1] in diesem Jahr nicht erreichen könne. Entschuldigen Sie, wo steht geschrieben, daß eine Uniklinik mehr als zehn Millionen Rendite an den Investor bringen muß?

Dann gibt es noch zwei Ärztinnen aus Wiesbaden, die sich erfrecht haben, lokal zu veröffentlichen, was zwei ihrer Patientinnen, die sie an die Rhön-Kliniken überwiesen haben, dort erlebt haben. Daraufhin haben die beiden Ärztinnen eine Abmahnung erhalten [2]. Die Krankenkassen handeln natürlich aus Eigeninteresse rational, denn sie wollen ein Wirtschaftsbetrieb mit Gewinn werden. Ein Bekannter von mir, ein bundesweit bekannter Architekt, erzählte mir neulich, daß er den Auftrag bekommen hat, in der Stadt XY ein AOK-Verwaltungsgebäude zu bauen. Er habe dann bei dem örtlichen AOK-Chef nach dem Kostenrahmen angefragt. Entschuldigen Sie, hat er gesagt, das gibt es bei uns nicht. Wofür muß die AOK in einem Glas-Marmorpalast eines namhaften Architekten rein aus Prestige-Gründen residieren?

SB: Heutzutage werden nicht mehr alle Menschen gebraucht, um die erreichte Produktivität zu erhalten oder zu steigern. Demnach würde es keinen Grund geben, alle Menschen in einem relativ guten Gesundheitszustand zu halten. Wie geht eine Volkswirtschaft damit um, daß diese Menschen dennoch eine gewisse Grundversorgung brauchen, aber sich aus ihren Erträgen nicht gleichzeitig die Rentabilität der sogenannten Gesundheitswirtschaft speisen läßt, weil sie nicht über das entsprechende Einkommen verfügen und häufig nicht einmal in der Lage sind, Sonderleistungen, die die Krankenkassen nicht decken, zu bezahlen?

PU: Das ist eine schwierige Frage. Damit müßte man eigentlich einen Gesundheitsökonomen beauftragen, die diesen Fragen merkwürdigerweise überhaupt nicht mehr nachgehen. Es ist ja so, daß unser System zunehmend weniger Erwerbstätige hat, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen oder ein kleines Einfamilienhaus kaufen können, was vor 50 Jahren noch ein Postbote konnte. In bestimmten Berufsgruppen wird noch ordentlich Geld verdient, und es gibt Konzerne, die Milliardengewinne verbuchen. Aber das Geld, das in Umlauf ist, kommt aus Transferzahlungen. Das wird überhaupt das Modell der Zukunft sein. Leute müssen irgend etwas tun und kriegen dafür einen bestimmten Bonus vom Staat zugewiesen, damit sie keinen Aufstand machen. Mit diesem Geld müssen sie dann ihr Leben fristen. Diese Transferzahlungen werden immer mehr zunehmen, je weniger Leute imstande sind, sich mit ihrer Hände Arbeit einen Lebensunterhalt zu verdienen. Aus diesen Transferzahlungen ergeben sich auch die Einkünfte der Gesundheitswirtschaft. Es ist also völlig egal, ob sie das selbst verdienen oder vom Staat als Hartz IV zugewiesen bekommen. Es muß nur an der Grenze sein, daß das System gerade noch funktioniert. Und da entwickeln sich völlig neue Strukturen.

SB: Bei Hartz IV wird mit Sanktionen gearbeitet. Es erfolgen Leistungskürzungen, wenn sich die Empfänger nicht an die Vereinbarungen halten. Können Sie sich vorstellen, daß mit diesem Bevölkerungsteil, der als unproduktiv gilt, im gesundheitspolitischen Sinne anders verfahren wird? Sie hatten in Ihrem Vortrag den Datenfundus, der durch die elektronische Gesundheitskarte entsteht, als Möglichkeit zur Manipulation ausgewiesen.

PU: Ich stelle mir das Schlimmste vor, sobald diese Daten verfügbar sind. Schließlich sind alle Argumente ökonomisch, um nicht zu sagen kommerziell. Ökonomisch gesehen ist es unsinnig, jemand mit 18 Jahren in eine Berufslaufbahn zu schicken, die viel Geld kostet und dann nur fünf oder zehn Jahre ausgeübt werden kann, weil die Person Chorea Huntington bekommt. Die Gesellschaft nagt wirklich am Hungertuch, und dann werden sich auch Mehrheiten finden, die sagen: Die nicht. Darüber, daß wir keinen Blinden zum Piloten ausbilden, regt sich natürlich keiner auf, und wenn wir dann sagen, die Huntington-Kranken dürfen keinen Beruf mehr erlernen, der eine bestimmte Investition übersteigt, sie können ja Besenbinder werden, wird sich auch darüber keiner mehr empören. Und dann kann man natürlich aufgrund der genetischen Marker oder eines bestimmten Krankheitsverhalten alle eugenischen Ziele ansteuern. Sie können Leute bevorzugen oder benachteiligen. Man kann sich da alle Schrecklichkeiten ausdenken. Ich bin fest davon überzeugt, wenn die Krise kommt, werden die Stärkeren dieses Instrument nutzen, um die Schwächeren über den Rand zu treiben. Und alle vergangene Erfahrung wird die Schleusen nicht schließen können. In Norwegen hat man gesehen, zu welchen Taten Leute fähig sind, die mitten unter uns gelebt und eine ganz normale Erziehung genossen haben. Ich bin in diesem Punkt sehr pessimistisch.

SB: Würden Sie die Triebkräfte der Entwicklung des Gesundheitswesens eher ökonomisch verorten oder sehen Sie noch andere Motive vielleicht entwicklungsgeschichtlicher Art am Werke?

PU: Das kann ich nicht sehen, aber ich sehe natürlich einmal ein ökonomisches und auch ein ideologisches Interesse daran. Es ist durchaus ein linkes Projekt, die Ungleichheiten in der Gesellschaft einzuebnen. Der Arzt soll demnach auch ein normaler Beruf werden. Warum muß, so lautet die ideologische Botschaft, ein Arzt auch hochangesehen sein? Er ist auch nur ein medizinischer Werktätiger. Daß der Arzt eine weitaus höhere Verantwortung tragen muß, als so mancher andere "normale" Job, wird dabei entweder außer Acht gelassen oder durch die Vision ausreichender Kontrollbürokratie aufgewogen. Aus demselben Grund kann man auch ans rechte Spektrum gehen, nur daß da wieder ein anderes Moment hineinkommt. Der Mittelstand ist für links und rechts eine Reizfigur, denn man hat es da mit der politisch am schwierigsten zu lenkenden gesellschaftliche Gruppe zu tun. Sie ist die kreativste und eigensinnigste, vielleicht auch die am besten gebildete Gruppe und so nicht so schnell in eine politische Schublade hineinzupacken.

Der Mittelstand hat weder rechts noch links irgendwelche Freunde. Zum Mittelstand zählen auch die Apotheker, die ja klassische Gesundheitsexperten sind und dasselbe Schicksal wie die Ärzte erleiden. Früher galt und es gilt auch heute noch, daß eine Apotheke einem Apotheker gehören muß. Ein Apotheker durfte bis vor kurzem nur eine Apotheke besitzen. Jetzt darf er bis zu vier Filialen haben. Das markiert den Übergang zur Kettenapotheke. Eine Kettenapotheke wird dem Investor gehören, und der Investor wird natürlich nur Dinge verkaufen, die ihm einen satten Gewinn einbringen. Wenn dann ein Patient zu ihm kommt und sagt, Herr Apotheker, ich habe dieses oder jenes Mittel in der Werbung gesehen, hilft mir das? Wenn der Apotheker ordentlich bezahlt ist, kann er sagen, das hat mit ihnen wirklich nichts zu tun, vergessen Sie es. In einer investorengeführten Apotheke wird man dem Patienten dagegen sagen, ja natürlich, versuchen Sie es einmal, und am besten nehmen Sie gleich eine große Packung, dann haben Sie länger etwas davon. Auch hier verschwindet der Apotheker als mittelständischer Standesberuf. Da gibt es ideologische und ökonomische Hintergründe. Die großen Apothekenketten entsprechen eher dem Kapital und werden von daher gefördert. Und hier trifft man auf die ideologische Gegenseite, die nur ein Interesse daran hat, bisher elitäre Berufe auszuschalten. Insofern ist das Ideologische mit dem Ökonomisch-Kommerziellen sehr eng verknüpft.

SB: Ihrer Ansicht nach wird das Arzt-Patienten-Verhältnis zerstört. Meinen Sie, daß es sich dabei um einen eigenständigen Prozeß handelt oder stecken Interessengruppen dahinter, die sich von einer Degeneration dieses Verhältnisses vielleicht neues Wachstum, neuen Gewinn oder eine leichter beherrschbare Gesellschaft versprechen?

PU: Das Problem fängt mit der sogenannten Patientenautonomie an. Wem dient das? Ganz sicher nicht dem Patienten. Ich bin Ordinarius in einer medizinischen Fakultät, aber als ich einen Leistenbruch erlitt, habe ich vier verschiedene Möglichkeiten geprüft, und mußte hinterher eingestehen, daß ich nicht unterscheiden kann, was das Beste für mich ist. Ich bin dann in meine Fakultät gegangen und habe mich von unserem Chirurgen operieren lassen. Die Patientenautonomie ist eine bewußt eingeführte Strategie, um die Patienten von den Ärzten und ihrer Einflußnahme zu lösen. Vergleichbar ist das mit der Auflösung des bisherigen Verbots der Werbung für rezeptpflichtige Arzeimittel in der Laienpresse. Das ist in Europa schon durch, in Deutschland wird es kommen.

Was hat das miteinander zu tun? Ärzte werden sechs, sieben Jahre lang ausgebildet und erlangen medizinischen Sachverstand, um zu bewerten, was für ihre Patienten gut ist. Das heißt, die Werbung prallt davon ab, weil das Fachwissen eine Schranke setzt. Der Patient ist dagegen sehr viel anfälliger für die Psychologie der Werbung. Indem jetzt in der Laienpresse für ein rezeptpflichtiges Medikament geworben wird, werden die Patienten dazu gebracht, zu ihrem Arzt zu gehen und zu sagen, Herr Doktor, ich habe gelesen, daß dieses Präparat gegen meine Krankheit helfen soll. Wenn der Arzt jetzt sagt, entschuldigen Sie, das haben Sie in der Presse gelesen, aber ich habe sechs Jahre Medizin studiert, und ich sage ihnen, das ist nichts für Sie. Für diesen Fall haben die Krankenkassen den sogenannten Internet-Pranger erfunden, damit der Patient im Internet seinen Arzt bewerten kann, zum Beispiel, daß der Doktor mich gar nicht ernst nimmt und nicht auf das hört, was ich sage. Da gehe ich nicht wieder hin usw. Darin sehe ich eine geschickte Strategie, die Barriere des störenden Arztes - dasselbe gilt übrigens auch für die Apotheker - auszuschalten, um das, was in jeder Wirtschaft funktioniert, über die Werbung die Konsumenten direkt zu beeinflussen. Wenn für Haribo oder Coca Cola geworben wird, ist keiner dazwischen, sondern man kann sich die tollsten psychologischen Tricks ausdenken, um den Konsumenten zum Einkauf zu ermuntern. Bei den Arzneimitteln liegt die Barriere des Arztes oder eben des Apothekers dazwischen, und die muß verringert werden. Ich bin der festen Überzeugung, daß das mit bewußter Strategie geschieht.

SB: Herr Professor Unschuld, vielen Dank für das lange Gespräch.


Fußnoten:
[1]‍ ‍http://www.fr-online.de/wissenschaft/diagnose-kahlschlag-im-klinikum,1472788,11752970.html
[2]‍ ‍http://www.op-marburg.de/Lokales/Marburg/Universitaetsklinik-droht-kritischen-Aerztinnen

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Paul Unschuld mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

11.‍ ‍Mai 2012