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INTERVIEW/015: Das System e-Card - Wolf-Dieter Narr zum emanzipatorischen Potential der Medizin (SB)


Der Mensch als Objekt medizinalindustrieller Interessen



Interview mit Wolf-Dieter Narr am 18. April 2012 in Berlin

In seiner über 30 Jahre währenden Lehrtätigkeit am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin wie nach seiner Emeritierung vor zehn Jahren hat sich der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr stets für die Demokratisierung der Gesellschaft und die Emanzipation des Menschen von Zwangsverhältnissen und Fremdbestimmung eingesetzt. Der Mitbegründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie hat sich nicht nur in zahlreichen Publikationen mit den Herausforderungen autoritärer und repressiver Staatlichkeit auseinandergesetzt, sondern auch als Aktivist für die Rechte etwa von Flüchtlingen oder Psychiatriepatienten gestritten. Sein jüngstes Buch zum Thema Menschenrechte steht demnächst zur Veröffentlichung an.

Wolf-Dieter Narr hat sich auch mit Fragen des Gesundheitswesens auseinandergesetzt und in dem Sammelband "Digitalisierte Patienten - verkaufte Krankheiten" [1] fundierte Kritik an der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) geübt. Vor einer Konferenz des Aktionsbündnisses "Stoppt die e-Card!" beantwortete Wolf-Dieter Narr dem Schattenblick einige Fragen.

Im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wolf-Dieter Narr
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Herr Narr, wo würden Sie den Bruch in der medizinhistorischen Entwicklung ansiedeln, bei dem die heute stark technifizierte und auf das einzelne Symptom, auf die Normierung von Gesundheit und Krankheit ausgerichtete und standardisierte Medizin ihren Anfang genommen hat?

Narr: Ganz grob betrachtet würde ich historisch zwei Brüche sehen. Der eine ist, natürlich mit Foucault gesprochen, die Geburt der Klinik und damit einer naturwissenschaftlichen Medizin, in der die Anatomie die zentrale Rolle spielt. Das geht dann über Rudolf Virchow, die Zellularpathologie und anderes weiter. Aber da war die Medizin im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Paradigmas, das sie natürlich nicht zureichend reflektiert hat, immer noch relativ konventionell. Der richtige Sprung kommt heute, wo es von der Therapie in die Prävention geht. In den 70er, 80er und 90er Jahren hat sich das ganz stark entwickelt. In diesem Feld sehe ich riesige Gefahren, weil der menschliche Körper als potentiell unbegrenzte Anlagemöglichkeit entdeckt wird. Die Erde ist begrenzt, aber bei den Anlagemöglichkeiten des menschlichen Körpers, wenn man gar von der Rekonstruktion zur Konstruktion übergeht, hat man keine Hemmungen mehr.

Das ist zum Teil natürlich sehr progressiv in dem Sinne, daß man auch Krankheiten damit behandeln kann, siehe Krebsforschung und andere Dinge mehr. Aber es stellt gleichsam die Geschöpflichkeit des Menschen prinzipiell in Frage und macht ihn zum Homo constructus. Auch darüber kann man diskutieren. Man kann nur nicht darüber diskutieren, wenn man überhaupt kein eigenes Konzept mehr hat, sondern das Konzept ökonomisch und technologisch vorgegeben wird. Genau das ist der Fall. Ein Symptom dafür ist, daß die Krankenhäuser jetzt von Ökonomen, Betriebswirten oder VWLern geleitet werden. Und daß der Gesundheitssektor nur der expandierende Sektor im Weltmarkt auch in der Bundesrepublik ist. Nicht nur mit Schönheitskliniken natürlich, denn das ist ja noch vergleichsweise harmlos, wenn auch eine Schweinerei aus verschiedenen Gründen. Weil es sehr gefährlich ist, haben sie es ja gerade für Kinder verboten. Das läßt sich aber über Verbote nicht machen.

Aber problematischer ist natürlich, daß es keine Kriterien der Medizin und ihrer Organisationen, von der Forschung angefangen, mehr gibt, sondern eine weltweite internationale Konkurrenz um fortschrittliche pharmazeutische Methoden, um Biotechnologie usw. entfacht wird. Aktuell sehe ich da überhaupt keine Hemmungen.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

"Der menschliche Körper als potentiell unbegrenzte Anlagemöglichkeit" Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Der Patient ist ja als solcher immer schon ein fremdverfügtes Objekt medizinaler Interessen gewesen. Wo würden Sie seine Position in diesem Verhältnis verorten?

WDN: Bei der Bedeutung, die die Medizin generell und selbstverständlich für jeden einzelnen hat, würde ja eigentlich noch immer das alte lateinische Motto gelten: Tua res agitur - deine Sache wird betrieben. Das würde heißen, ohne daß man plötzlich in einen Healthismus gehen muß, also Gesundheit und das eigene Befinden zum Zentrum des Lebens macht, daß man lebt, um gesund zu bleiben, aber nicht gesund ist, um zu leben. Aber immer müßte es Gesundheitserziehung von Anfang an geben, was in der Tat ein zentrales Schulfach ist, das man auch sehr gut kombinieren kann mit Biologie, Soziologie und anderen Fächern. Gesundheitserziehung im Sinne des Wissens über den eigenen Körper, seine Befindlichkeit und die Umwelt selbstverständlich - das wäre ein ganz spannendes Fach. Das große Problem ist ja, daß alle Fächer - auch in der Medizin - so voneinander abgeschottet werden, daß die Mediziner sich untereinander überhaupt nicht verstehen.

Ich habe vor drei Jahren in der Charité gelegen. Das ist ein Riesengebäude. Ich war in der 123. Abteilung im 19. Stock. Die Neurologie ist ein spannendes Fach, weil kein Mensch genau Bescheid weiß. Aber daß die da irgendwie miteinander zusammenarbeiten ist ein Unding. Das ist ein bürokratisches Monstrum. In ökonomischer Hinsicht ist es vielleicht sinnvoll, aber sonst in keiner anderen Weise. Daß die Medizin dadurch nicht kompakt zusammenarbeitet ist das große Problem. Aber zurück zu Ihrer Frage. Der Mensch muß, glaube ich, natürlich über sich selber - das gehört ja zu seiner Kenntnis - und nicht nur über die Welt Bescheid wissen, damit er den aufrechten Gang betreiben kann.

Die Voraussetzung wäre natürlich, daß jeder Bürger als Patient über sich selber Bescheid weiß. Erst dann wäre er ein möglicher Partner im medizinischen System, aber das medizinische System selber ist weniger denn je auf Kooperation, also auf die Arzt-Patienten-Beziehung, angelegt. Das wäre auch mit dem heutigen Patienten überhaupt nicht möglich. Heute ist es im Gegenteil so, daß die Mediziner untereinander emphatisch dissozial sind. Sie arbeiten nicht zusammen. Man könnte viele Dinge nur lösen, wenn sie zusammen diagnostizieren und kooperieren, übrigens auch das Gleiche verdienen würden, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir haben eine völlig dissoziative Medizin, und der Patient wird eigentlich nur in Festreden gewürdigt. In jedem medizinischen Buch wird das Kernverhältnis zwischen Patient und Arzt beschrieben, doch wenn man genau hinschaut, dann stellt man fest, daß es überhaupt nicht funktioniert.

SB: Wenn es nach dem Ausmaß der Thematisierung medizinischer Probleme in den Medien geht, wo das Publikum mit medizinischen Informationen geradezu überschüttet wird, müßten die Menschen doch aufgeklärter denn je sein?

WDN: Wahrscheinlich hat auch die politische Informiertheit der Menschen im Verhältnis zu früheren Zeiten, wo es so etwas überhaupt nicht gab, zugenommen, aber gleichzeitig fehlt bis in die Professionen hinein das Verständnis darüber, was sogenannte Politik ist und wie sie funktioniert, fast vollständig. Sonst könnten sich die Leute nicht so auf einzelne Personen fixieren und diese projektive Identifikation mit der Bundeskanzlerin oder dem Bundespräsidenten betreiben, völlig irrelevante Personen, und andere Dinge mehr. Die Nichtkenntnis des politischen Prozesses ist etwas, das mich immer wieder erneut schier umwirft. Das geht ja bis hin zu Kollegen, wenn Ökonomen meinen: Der Politiker muß das regulieren, wir regulieren das Finanzkapital. Denken Sie, das Parlament und die Bundesregierung könnten etwas tun im Kontext der Finanzregulierung. Das ist Quatsch ohne Soße! Mit anderen Worten: Die Fülle der Medien sagt ja nichts darüber aus, daß die Leute etwas davon verstehen.

Ich weiß, daß es auch in den Zeiten, wo ich den Fernseher nicht einschalten würde, weil es mir zu spät ist, gute Sendungen gibt. Aber das reicht, glaube ich, nicht aus. Ich war an der Medizin immer interessiert, vor allem vom Organisatorischen her. Ich habe früh in der TU ein Projekt mitgemacht, gemeinsam mit meinem Freund Frieder Naschold, der früh gestorben ist, über die Frage, wie man Medizin sinnvoller Weise organisieren kann. Aber ich habe mich mit den inneren Problemen der Neurologie erst beschäftigt, als das bei mir zugeschlagen hat. Meine Nichtgehfähigkeit hing nicht mit meiner Muskulatur zusammen, sondern damit, daß mein Kleinhirn nicht mehr steuert. Obgleich die Mediziner auch darüber nicht besonders gut Bescheid wissen und es auch nicht können, weil so viele Rückkopplungsschleifen in unserem Kopf existieren, daß sie das nicht nach dem naturwissenschaftlichen Motto, X bewirkt Y und dann ergibt sich Z, erforschen können. Das ist eine so umfassende Problematik, daß die Medizin im Grunde genommen selber experimentiert. Der Neurologe braucht den Patienten, um zu wissen, was er betreibt.

Ich habe zu meinen beiden jungen Neurologen gesagt, interpretieren Sie einmal die Daten der Computerresonanztomographie, meinetwegen auch zusammen mit dem Techniker. Ich verstehe ein bißchen von Erkenntnistheorie, ich will sehen, wie Sie von diesen Daten zu Aussagen kommen und dann die Normalität meiner Erkrankung mit anderen Normalitäten vergleichen. Dazu war keine Zeit. Vielleicht haben sie auch befürchtet, daß ich zu kritisch bin, weil ich meine erkenntnistheoretischen Zweifel geäußert habe, was völlig irrelevant ist, weil es nur gebildetes Gerede war. Aber ich wollte eigentlich - gar nicht um sie vorzuführen - nur wissen, wie sie von den Daten der Computerresonanztomographie zu ihrer Diagnose gelangen. Und wie kommen sie von der Diagnose, abgesehen von Normaldiagnosen im PC, die sie natürlich erhalten, zu der Normalität und dann zu meiner Diagnose. Sie haben mir dann den Rücken punktiert, und da lief der Mediziner schon hinter mir her: 'Herr Narr, Sie können wieder besser laufen'. So ein Unsinn. Aber die These war nicht schlecht, denn es gibt Leute, bei denen der Hydrodruck viel zu groß ist und die deswegen nicht mehr laufen können, aber das war speziell bei mir nicht der Fall. Und das herauszufinden, vom Mediziner her im Doppelpaß sozusagen mit dem Patienten, der sich darum kümmert, könnte möglicherweise ein gewisser Fortschritt sein, aber eben nicht ein Fortschritt der dauernden Kumulation, sondern der jeweils individuellen Diagnose mit den Kompetenzen, die sie sonst haben könnten.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Nicht nur über die Welt, sondern auch sich selbst Bescheid wissen ... Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Es ist interessant, daß Sie sagen, daß die Medizin den Patienten braucht. Es gab in den 70er Jahren in der Linken auch Initiativen wie Beispiel das Sozialistische Patientenkollektiv, die vertreten haben, daß der Patient die medizinischen Berufsstände produziert, daß er sozusagen der eigentliche Produzent dieser Betriebe und der darum entstehenden Verwaltung usw. ist. Heute hat es der einzelne Mensch ja im wesentlichen mit Normen zu tun, auf die er ausgerichtet ist und zu denen er sich in einer bestimmten Weise verhalten muß. Kann man das so sagen?

WDN: Ich habe keine große Studie darüber gemacht, aber meine Einschätzung ist eher die, daß der Normalpatient zu wenig über sich selber weiß, gar nicht so sehr über die Medizin, und daß er neuerdings nicht mehr patriarchal behandelt wird. Frigga Haug hat einen hervorragenden Artikel über die "Patientin im neoliberalen Krankenhaus" [1] geschrieben. Die Patienten müssen sich selbst die Ärzte packen und ihnen sagen, jetzt muß das und das mit mir geschehen. Mit anderen Worten, sie werden als Kundinnen oder Kunde behandelt, obwohl sie damit wiederum überfordert sind. Der Patient selber verhält sich weder als Bürgerin oder Bürger noch wird er dazu in Stand gesetzt, aber auch das medizinische System ist darauf nicht in irgendeiner Weise angelegt. Und umgekehrt sind es die Ärzte auch nicht, sie kooperieren nicht einmal untereinander, obwohl es so viele Gemeinschaftspraxen gibt. Die Gemeinschaftspraxen sind eigentlich geldmacherische Institutionen, in denen meistens nur Orthopäden oder Dentisten zusammen sind, die die entsprechenden Maschinen haben, weil sie vier, fünf, sechs Leute sind. Man wird sofort geröntgt, es wird alles mögliche gemacht, aber sie arbeiten nicht mit denen zusammen, die sie fachlich ergänzen. Ich habe mir einmal den Spaß gemacht, medizinische Fachzeitschriften zu studieren. Bei den Orthopäden steht fast nichts über die Neurologie und bei den Neurologen fast nichts über die Orthopädie, obwohl sie beide unter anderem am Rückgrat, einem Zentralorgan des Menschen, tätig sind.

SB: Aber diese Ausdifferenzierung ist ja offensichtlich auch ein Ergebnis des wissenschaftlichen Fortschritts, einer immer mehr ins Detail gehenden empirischen Forschung, bei der der Mensch als Ganzes möglicherweise gar nicht mehr auftaucht.

WDN: Das Faktum ist da und man kann auch nicht plötzlich die ganze Spezialisierung reduzieren. Das wäre eine Reduktion ad absurdum, oder eine Art terroristische Reduktion. Die klassische Humboldt-Universität ist von einem Wissenschaftsgedanken aus organisiert worden. Das ist heute unmöglich. Früher war das natürlich alles in einer viel kleineren, viel näheren Weise zusammen. Das hat sich enorm spezialisiert und wird so weitergehen. Aber gerade, wenn sie das Problem sehen, müssen sie alles tun, in der Ausbildung, der Organisation, aber speziell in der Medizin, um Querstreben einzuziehen.

Genau das geschieht nicht, sondern das Gegenteil. Bologna und anderer Unsinn bedeutet ja im Gegenteil, daß die Studenten, wenn man so will, verblödet werden. Sie verstehen, wenn überhaupt, ein bißchen von ihrem eigenen Fach, aber überhaupt nicht, was darüber hinaus geht. Obwohl es Soziologie oder Politikwissenschaft erst dann spannend machen würde, wenn man sie mit anderen Fächern vernetzt. Es wird nie mehr einen Universalgelehrten wie Leibniz geben. Das gibt es heute nicht mehr, aber es wäre leicht möglich, daß jedes Menschenkind von der Wiege bis zur Bahre den Blick über die Zäune lernt und dann plötzlich begreift, wie viel Freude das macht. Was mir fehlt und was ich nur partiell angereichert habe, ist, daß man sich Grundkenntnisse zur Vorgehensweise der Physik erwirbt. Nicht, daß man plötzlich Physiker ist, aber daß man weiß, wie dort gedacht wird. Und umgekehrt, daß der Physiker nicht als völlig blödsinnig gilt, wenn er soziale Zusammenhänge erkundet. Das wäre erreichbar. Es müßte im Grunde genommen eine neue Form der Universität, der Schule und der Ausbildung geben. Aber darum geht es nicht. Das genaue Gegenteil wird angestrebt. Der Lieblingsausdruck der Studentenbewegung war ja seinerzeit 'Fachidiot'. Heute ist der Fachidiot das Vorbild schlechthin.

SB: Woran liegt es Ihrer Ansicht nach, daß eine Entwicklung dominiert, in der sich viele Menschen nicht mehr zuhause fühlen?

WDN: Obwohl ich ursprünglich gar nicht wußte, daß ich den Lehrberuf ergreifen würde, hat es mich seitdem beglückt, zu sehen, daß junge Leute - und bei Kindern ist das noch viel klarer - neugierig sind und wissen wollen. Das ist doch das, was jedes Kind umtreibt. Dies gilt es zu fördern, auch wenn man nie alles panoptisch rundherum erkennen kann, damit die Fähigkeit entwickelt wird, in andere Bereiche zu schauen und die Fantasie anzuregen, die für unsere Urteilskraft unheimlich wichtig ist. Sie können nicht verstehen und urteilen, wenn sie sich nicht relativ viel vergleichend umschauen. Das wäre wirklich eine wunderbare Aufgabe und auch machbar. Aber das ist natürlich nicht machbar, wenn man von den Leuten verlangt, flexibel, mobil, jederzeit auch als Arbeitsloser einsetzbar zu sein. Notfalls werden sie dann noch mit Hartz 4 in einer Weise behandelt, daß der Artikel 1.1 Grundgesetz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" dauerverletzt wird.

SB: Prävention wird heute in einem immer größeren Ausmaß auch disziplinatorisch eingesetzt, indem die Menschen nicht nur beraten, sondern regelrecht auf eine spezielle Lebensweise konditioniert werden. Sie dürfen bestimmte Sachen nicht essen, bestimmte Genußmittel nicht benutzen und so weiter. Wo würden Sie diese Art von starker Regulation einordnen?

WDN: Das ist eine große Frage, weil Prävention in verschiedenen Bereichen auch verschiedene Dinge bedeutet. Klar ist, wir leben in einer Zeit, in der die Kehre zur Prävention Vorrang hat und die Prävention schon primär eine Form von Herrschaftsmittel ist. Die Politik ist bei uns so organisiert, daß sich zwischen der Bevölkerung und dem, was die sogenannten Repräsentanten machen, ein Vakuum auftut. Im Extremfall war das an der Stasi zu beobachten. Da das ZK von nichts wußte, wollten sie von der Stasi wissen, was die Bürgerinnen und Bürger der DDR denken. Am Schluß haben sie überhaupt nichts gewußt, weil die Stasi ihrerseits gelogen hat.

Die Kommunikationstechnologie, die natürlich einerseits eine wunderbare Angelegenheit ist, denn es sind auch befreiende und das Wissen enorm vermehrende Elemente dabei, wird primär dazu benutzt, um im Grunde immer detaillierter über einzelne Personen wie auch über Gesamtorganisationen Bescheid zu wissen, ohne daß sie die Grundstruktur verändern. Sie können so ein Riesenkrankenhaus wie die Charité steuern, ohne es organisatorisch zu verändern, indem sie den Eindruck haben, aufgrund der Fülle der Daten und ihrer Kombinationsmöglichkeit jederzeit zu wissen, was, wo passiert ist. Sie können sich jederzeit melden lassen, ob irgendwelche Probleme auftauchen, ob abweichendes Verhalten gegeben ist und dergleichen mehr. Und da wird Prävention im Zusammenhang mit der Informationstechnologie zu einem Mittel, um das zu betreiben, was ich bürokratischen Extremismus nenne. Man sieht von allen Besonderheiten ab, ist aber aufgrund des Wissens auf der Datenebene in der Lage, unmittelbar auf den Einzelnen zurückzugehen. Man kümmert sich eigentlich nicht mehr um den Einzelnen, auch nicht um die soziale Organisation, sondern man wendet das Wissen, das man informationell hat, unmittelbar auf die einzelnen Menschen an. Und da besteht schon die Gefahr, daß der Mensch als soziales Wesen nur noch abstrakt behandelt wird. Das ist zunächst einmal die Logik der Bürokratie. Nur geht das mit der Datenverarbeitung unendlich weiter.

Hinsichtlich der Prävention kann man natürlich sagen: 'Vorsorge ist besser als Nachsorge'. Das ist ja zunächst auch wichtig,. Es gibt Dinge, die man jedem von uns beibringen muß, gewisse Sachen zu tun oder nicht zu tun, weil sie eindeutig negativen Charakters sind. Man geht ja auch nicht bei Verkehr über die Straße. Es gibt natürlich Dinge, die wir alle im Sinne der Prävention vernünftigerweise tun. In einer komplexeren Gesellschaft wird das wahrscheinlich zunehmen. Es ist faszinierend, wenn man die Prävention im Gesundheitsbereich mit der Prävention im Sicherheitsbereich vergleicht. Es bestehen ungeheuer viele Analogien. Überall wird vermieden, die Ursachen der Probleme beim Namen zu nennen. Man muß eigentlich Demokratie und Bildung neu organisieren, aber man vermeidet die Reorganisierung und greift von oben informationell nach unten. Die Prävention ist eine hochgradig abstrakte Angelegenheit. Obwohl sie, richtig verstanden und praktiziert, natürlich eine wunderbare Angelegenheit ist. Daß man mit Vernunft in die Zukunft blickt und nicht blind in den Sumpf rennt, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

SB: Meinen Sie nicht, daß der ökonomische Zwang, den Menschen in Arbeit zu bringen, ihn sozusagen auch effizient zu vernutzen, sich auch in einer Form der Prävention ausdrückt, die in erster Linie disziplinatorischen Charakter hat?

WDN: Das gilt ja selbst im Gesundheitsbereich für die Risikofaktoren. Natürlich gibt es Risikofaktoren, zu denen das Rauchen und natürlich auch Fettleibigkeit gehören. Das Problem ist ja schon Jahrzehnte alt, seit die AOK solche Risikofaktoren gefunden hat. Nun ist es natürlich nicht sinnvoll, zu sagen, man braucht sie nicht zu beachten und es wäre eigentlich wunderbar, wenn kleine Kinder schon zu rauchen anfangen und Drogen nehmen und dergleichen. Nur bei Risikofaktoren geht es nicht darum, die Einzelnen zu kriminalisieren, sondern sie gesellschaftlich in Stand zu setzen, gegen solche Formen wie die Fettleibigkeit vorgehen zu können. Wer will das schon als Junge oder Mädchen sein? Es geht darum, sie in einer Umgebung groß werden zu lassen, in der es ihnen Spaß macht, daß sie gut laufen können. Es ist immer eine Frage der gesellschaftlichen Umgangsformen, während Prävention, wie sie herrschaftlich benutzt wird, eben genau nicht die Gesellschaft verändert. Auch das, was man Primärprävention nennt, ändert nichts an den Faktoren, die die Menschen, bevor sie krank werden, schon in Schwierigkeiten bringt, sondern man läßt alles, wie es ist, weil ganz andere Interessen an der Organisation bestehen. Man versucht von oben, indem man isoliert Prävention übt, tätig zu werden.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Über Prävention als herrschaftliche Steuerungslogik
Foto: © 2012 by Schattenblick

Und darüber wird Prävention als herrschaftliche Steuerungslogik geformt, mit Disziplinierung und dem Versuch, die Leute so zu trimmen, daß man ihnen nichts mehr aufgeben muß, sondern daß sie den Polizisten, der kontrolliert, ob die Gedanken in der herrschenden Form gedacht werden oder man davon abweicht, schon in sich tragen. Kommunikationstechnologie wird ja schon auf eine Weise produziert, die sehr kostenreich ist und vor allem in Asien Arbeitsverhältnisse hervorbringt, daß es einem nur graust. Aber selbst wenn man das weglassen würde, gibt es in der Informations- und Kommunikationstechnologie eine Fülle von Dingen wie die bessere und einfachere Verständigung miteinander oder die Möglichkeit, sich informationell zu unterstützen, die man akzeptieren könnte, aber nicht indem sie primär dazu benutzt werden, um nichts zu ändern. Wenn Sie in einer Gesellschaft leben, die eigentlich primär davon lebt, daß Asozialität Trumpf ist, daß die Leute sich gegenseitig nicht helfen, sondern das Gegenteil betreiben, dann ist es natürlich irreführend und bedenklich, zu meinen, daß man durch die IuK (Informationsverarbeitung und Kommunikation) und das Internet das soziale Element ersetzen könnte. Es geht nicht darum, auf alte Art und Weise kulturkritisch zu sagen, daß das schlecht sei, weil es neu ist. Das ist überhaupt nicht das Problem. Es ist schlecht, weil es die Menschen sich selber entfremdet und als soziale Wesen unfähig macht, obwohl der Hunger an Sozialität von den Studierenden, unter denen ungeheuer viele Leute Verhaltensprobleme haben, bis hin zur Altenpflegeeinrichtung, wo vieles, was Altersdemenz genannt wird, in Wirklichkeit eine Sozialdemenz ist, sehr manifest ist. Wenn die einmal da ist, dann kann sie natürlich nicht wieder mit drei oder vier kleinen Gesprächen behoben werden.

SB: Soziale und gesellschaftliche Faktoren werden immer mehr biologisiert, wie etwa die Suche nach dem Kriminalitätsgen zeigt. Gerade Fragen, die den Menschen existentiell bewegen und auch emanzipieren könnten, werden von den Strategien der Biologisierung besetzt. Wie würden Sie dies in einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung verankern, die an einem Mangel an sozialen Utopien leidet?

WDN: Diese Entwicklung betrifft mehrere Faktoren. Zum einen, daß der menschliche Körper eine riesige Anlagesphäre ist, die sich vehement entwickelt und möglicherweise auch die Verlängerung des Lebens betrifft, wo der Tod plötzlich marginalisiert zu werden scheint und die Geschöpflichkeit an den Rand gedrängt wird. In jedem menschlichen Körper und Menschen selber steckt eine riesige Anlagemöglichkeit der Forschung, der Entwicklung, der Technologie, der Pharmaindustrie und dergleichen mehr. Die Faszination, daß sich ein neuer Raum aufzutun scheint, hat damit zu tun, daß es keine New Frontier im Sinn dieses amerikanischen Begriffs mehr gibt. Zwar ist die Globalisierung noch nicht an ihr Ende gelangt, wenn man an China und Afrika denkt, so daß es noch etliche Stellen gibt, die Anlagemöglichkeiten bieten. Aber nun stellt unter anderem unser Körper die New Frontier dar. Auch in der Pflanzenbiologie, der Ernährungssicherheit und beim Klima gibt es noch riesige Möglichkeiten, die Kosten des Kapitalismus seinerseits kapitalistisch zu regenerieren. Das, würde ich sagen, ist die große Hoffnung, die viele haben.

Es ist zunächst nicht falsch, daß man forschend etwas herausfinden möchte. Man kann darüber nachdenken, daß ganz bestimmte Elemente, mit denen man geboren wurde, zu diesem oder jedem Fehlverhalten führen können. Aber faktisch findet genau das Gegenteil statt. Man isoliert die Gene. Man findet heraus, daß ganz bestimmte Gene eher zu Trinkern oder zur Kriminalität passen. Das geschieht neuerdings auch in der Hirnforschung, wo man ganz bestimmte Hirnelemente näher an Drogensucht oder Kriminalität verortet. Jeder, der diese Forschung einigermaßen kennt, sieht sofort, daß das nicht von vornherein verkehrt ist, aber bestenfalls Hinweise auf Probleme gibt. Das ist ein ungefähres Wissen. Sie werden den Menschen nicht gleichsam genetisch konstruieren können, ohne ihn als soziales und umweltbewußtes Wesen und dergleichen mehr zu sehen.

Aber natürlich geht man tendentiell nach dem law of large numbers vor. Man untersucht 10.000 Leute, bei 8000 schlägt das Medikament dem Anschein nach an, bei 2000 nicht. Dann vergißt man die 2000, das macht die Pharmaindustrie ja fortlaufend. Wenn das Medikament bei der Mehrheit funktioniert, wendet man es an. Das Gleiche wird vermutlich auch in der Genetik passieren. Die Gefahr besteht darin, daß sich Eltern in der Sorge um ihren Nachwuchs davon beeinflussen lassen, und daß sozusagen von unten wie von oben. Von oben aus ökonomischen und politischen Steuerungsgründen, von unten aufgrund einer die eigene Geschöpflichkeit nicht mehr reflektierenden Angst. Es gibt im 90. Psalm diese wunderbaren Worte: "Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen," und dann kommt der Nachsatz: "auf daß wir klug werden". (Psalm 90,12 ) Ein toller Satz, finde ich. Er meint ja, daß es Befindlichkeiten gibt, die man einschränken, aber im Prinzip nicht verändern kann, aber gerade deswegen muß das Leben so eingerichtet werden, daß es spaßvoll ist und so weiter und so fort.

Genau das verschwindet, indem man eine Form des Gesundheitsbegriffs benutzt, der an Nazideutsch erinnert: Erbgesunder Mensch. Ich bin in der Zeit geboren und habe mich viel damit beschäftigt. Die Nazis haben diese Formel propagiert, allerdings vermischt mit der Rassenideologie. Heute benutzt fast niemand mehr die Rassenideologie, sondern man betreibt im Grunde genommen in einer aseptischen Weise, was die Nazis seinerzeit gedacht haben. Man redete ja damals auch nicht vom sich fortzeugen, sondern du sollst dich höher zeugen. In dieser Enhancement-Ideologie liegt eine enorme Gefahr. Das Faszinosum all dieser Technologien liegt nicht in ihnen selber, also daß man etwa in der Krebsforschung ein wenig weiterkommt, sondern in der Isolierung und darin, daß man Veränderungen betreibt, ohne daß sich die menschliche Gesellschaft irgendwie verändern muß. Man kann sie genauso autoritär lassen. Man kann die Menschen genauso dumm lassen wie sie sind. Man muß keine Radikaldemokratie und keine Menschenrechte realisieren, die ja die Ekstase des aufrechten Gangs, Blochisch gesprochen, meint. Man braucht all das nicht, sondern macht alles technologisch, so daß man daran verdient und gleichzeitig von oben eingreifen kann.

SB: Wir besuchen heute eine Konferenz des Aktionsbündnisses "Stoppt die e-Card!" Welche Einwände erheben sie gegen die elektronische Gesundheitskarte (eGK)?

WDN: Zunächst einmal wird sie falsch verkauft. Man erweckt den Eindruck, als ob es eigentlich nur darum ginge, einige Daten von Patienten zu sammeln. Wenn der Arzt diese im Notfall sofort verwenden kann, dann leuchtet der Nutzen der eGK zunächst einmal ein. Überhaupt nicht thematisiert wird, daß geplant ist, die ganze Bevölkerung zu erfassen. Dabei geht man sukzessive vor, weil man weiß, daß die Widerstände zu groß sind. Funktionieren wird das System erst, wenn es in der Tat alle umfaßt. Man wendet eigentlich den Trick an, als ob man nur einige Schritte ginge, wobei die einen mitmachen und die anderen nicht, so daß jeder seine Freiheit hat. Die Totalität des Zwanges stellt sich schrittweise ein.

Zudem werden die Informationen nicht beim Patienten und beim Arzt bleiben. Der Datenmißbrauch ist sozusagen vorprogrammiert, er ist nicht aufzuhalten. Und das ist auch der Sinn der Sache. Erst dann wird es ein großes ökonomisches Projekt. Die Bundesrepublik ist daran interessiert, es mit an erster Stelle einzuführen, um es dann weltweit verkaufen zu können. Es wird dann auch vom Gesundheitssystem selber im Sinne dieser Datenbasis benutzt, um entsprechend sowohl auf die Individuen bezogen Vorschriften machen, also Risikofaktoren ausschalten wie auch allgemein die Gesundheitspolitik steuern zu können.

Die größte Gefahr besteht für mich darin, daß die eGK wiederum ein Element ist, das eingesetzt werden soll, um das bestehende Gesundheitssystem im Prinzip nicht zu verändern. Das betrifft innermedizinische Hierarchien, die ganz enorm sind, bis hin zu den einzelnen Kompetenzen. Ich habe mit vielen Schwestern gesprochen, die darunter leiden, daß sie nicht akzeptiert werden und ihrer Kompetenz gemäß handeln können. Auch unter den Medizinern sind aufgrund dieser Hierarchien viele nicht in der Lage, ihrem Gesundheitsberuf gemäß zu handeln. Die eGK wird eigentlich benutzt, um mit dem Mittel der Information einen Medical Industrial Bureaucratic Complex, um den Eisenhower einmal anders zu zitieren, herauszubilden. Also daß mit dem Mittel der informationell leichten Hand nicht nur massive ökonomische Interessen verbunden sind, sondern eben ein Gesundheitssystem auf Dauer gesetzt wird, das die einzelnen Patienten wiederum nur als Atome benutzt, die man aber steuern und kontrollieren kann und ansonsten die Grundlage der Medizin als soziale Organisation nicht verändert. Das ist mein Haupteinwand.

SB: Wie beurteilen Sie die Entwicklung der deutschen Linken in Hinsicht auf einen kritischen Umgang mit der Biomedizin, der einmal sehr ausgeprägt war, wovon heute allerdings nicht mehr viel zu spüren ist?

WDN: Grade vor zwei Tagen hat mich Frigga Haug angeschrieben. Sie wird demnächst 75, ich bin im März 75 geworden. Sie regte an, daß wir, ohne uns aufs Plateau zu setzen, auf einer Tagung einmal im Doppelpaß aus unseren Erfahrungen berichten müßten. Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, daß das richtig ist, weil das ganz schwierig ist. Dazu gehört aber eines. Meine Generation war nicht nur dadurch privilegiert, daß sie die Gnade der späten Geburt hatte, aber wußte, wie sie aufwuchs. Ich weiß, daß ich als Achtjähriger Nazi war. Ich habe auch gerade darüber in den Menschenrechtsbüchern geschrieben "Ich Nazijunge". Ich wußte um die Gefahr, die mich umgarnt hat, habe dann schon 1945 sofort mit den Amis kollaboriert und denen die Fische aus der Jagst herausgeholt. Das war für Kinder überhaupt kein Problem, ich habe nie ein Trauma deswegen gehabt. Daß wir von diesem unsäglich schlimmen und auch nie bewältigbaren Nationalsozialismus gewußt haben, war für mich jedenfalls ein enormes Dauermotiv meines Lebens.

In der Bundesrepublik, wo ich großgeworden bin, war es ungeheuer kleinbürgerlich, miefig, CDU-staatlich, man kann sich heute fast nicht mehr vorstellen. Aber in den 60er Jahren ging es erstens ökonomisch aufwärts. Wir wußten natürlich nicht warum, aber es war klar, daß die Berufschancen zunahmen. Ich habe keinen Tag meines Lebens über die Frage nachgedacht, ob ich den richtigen Beruf kriegen könnte, das war immer klar. Ich wollte nicht an die Uni, das wäre mir arrogant vorgekommen, es ist einfach so passiert. Ich glaube, der große Unterschied zu den 60er und zum großen Teil auch den 70er Jahren, obwohl da schon die Berufsverbote kamen, ist derjenige, daß einem gewissermaßen die Welt offen stand. Es gab zwar immer Arme und Schwächere, und wir hatten nie einen guten Sozialstaat, aber diejenigen, die wie wir die Chance hatten, zur Oberschule zu gehen und zu studieren, hatten diese Möglichkeit. Das hat sich erst im Laufe der 70er Jahre verändert.

Man kann die Studentenbewegung nicht vom Arbeitsmarkt ableiten, aber ohne die Sicherheit des Arbeitsmarktes ist sie so nicht erklärbar. Auch in der Berufsverbotskampagne, bei der ich heftig mitgemacht habe, war es nicht so, daß man existentiell schon bedroht wäre. Doch seit den 80er, 90er Jahren und auch jetzt sind meine Doktoranden ungeheuer unsicher. Sie haben sich natürlich darauf eingestellt, daß sie keine Lebensberufe mehr erhalten, daß hier und dort die nötige Verbeugung machen müssen. Gerade dieser Tage habe ich einen Brief von einem meiner Doktoranden aus Heidelberg bekommen, der sich in der Hochschulpolitik sehr engagiert hat. Jetzt wird er Junior-Professor und fragt mich, ob ihm das schadet, wenn er den Verfassungsschutz kritisiert. Eine Frage, die ich mir mein ganzes Leben lang nicht gestellt habe.

Das macht, glaube ich, den großen Unterschied im gesamtgesellschaftlichen Kontext aus. Dabei geht es den heutigen Studenten physisch besser als uns damals. Wir haben sozusagen noch in Armut studiert. Ich mußte mir das Studium selber verdienen. Weil man sparsam war, war man hoch motiviert. Das ist ganz anders heute. Die heutigen Studenten sind ja nicht blöder als wir, sie sind auch nicht "unmoralisch" oder was immer, aber sie haben weder individuell noch allgemein eine größere Perspektive. Wenn man es genau auf den Begriff bringt, spielen natürlich viele Faktoren eine Rolle. So ist das Leben vergleichsweise viel abstrakter geworden. Das macht die Informationstechnologie dem Anschein nach so nett, weil sie ganz nahe ist, das Handy ist sozusagen immer direkt am Ohr, aber sonst üben die abstrakten Faktoren des Weltmarkts eine enorme Definionsmacht auf unser Dasein aus. Auch früher waren einzelne Menschen sehr abhängig von allgemeinen Gesellschaftsfaktoren. Deshalb kann sich keiner von der Gefahr ausnehmen, vom NS-Staat vereinnahmt worden zu sein. Es hatte allenfalls familiäre Gründe oder es waren andere Glücksfälle, wenn das nicht passiert ist. Ansonsten konnte man sich nur hinterher darüber klar werden und dagegen angehen. Man wurde dann politisch aktiv, um die nachwachsende Generation davor zu schützen, zu so einem inhumanen Unsinn verführt zu werden.

SB: Herr Narr, vielen Dank für das lange Gespräch.


Fußnote:

[1]‍ ‍http://www.grundrechtekomitee.de/node/388

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Der menschliche Körper als New Frontier kapitalistischer Expansion Foto: © 2012 by Schattenblick