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INTERVIEW/024: Der Entnahmediskurs - Eine Frage der Norm? Gespräch mit Prof. Don Marquis, Ph.D. (SB)


Interview am 9. Oktober 2013



Der Moralphilosoph Professor Don Marquis, Ph.D. von der University of Kansas, war als Referent zu der Tagung "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" geladen, die vom 12. bis 14. September 2013 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld stattfand. 1989 veröffentlichte er den in Fachkreisen vielbeachteten Aufsatz "Why Abortion is Immoral", in dem er die Praxis der Abtreibung aus säkularer Sicht für ethisch nicht legitimierbar erklärt. Einem Menschen die Zukunft zu nehmen, sei auch im Falle eines Embryos nicht zu rechtfertigen. Auch wenn es noch kein Mensch im entwickelten Sinne sei, so werde ihm doch die Zukunft genommen, daher sei Abtreibung außer in extremen Notlagen moralisch falsch.

In seinem Vortrag am 13. September 2013 am ZiF in Bielefeld sprach sich Marquis für die Aufhebung der Tote-Spender-Regel aus. Zwar verstoße eine Organentnahme, die zum Tode des Spenders führt, gegen grundlegendes Menschenrecht. Am Beginn des Lebens werde das Recht auf Leben jedoch oftmals vernachlässigt, daher stelle sich die Frage, warum die moralischen Wertungen am Ende des Lebens andere sein sollten als zu seinem Beginn. Allgemein habe man sich auf mehrere Grundsätze geeinigt, warum es falsch sei, Menschen zu töten. Sie seien Personen, die sich in mehrfacher Hinsicht von Tieren unterscheiden, sie hätten ein starkes Bedürfnis zu leben und sie verfügten über grundlegende Funktionen, die typisch für menschliche Wesen sind. Nicht zuletzt sei es falsch, Menschen zu töten, weil ihnen dadurch künftige Erfahrungen vorenthalten würden, die sie andernfalls wertgeschätzt hätten, so Marquis zu seinem eigenen Theorieansatz in der ethischen Debatte.

Vor die Wahl gestellt, entweder das etablierte Verfahren der Organspende fortzusetzen und die Angehörigen zu belügen, wenn die Erlaubnis zur Entnahme der Organe eingeholt wird, was sich von selbst verbiete, oder generell keine Transplantationen mehr vorzunehmen, die diese Form von Organentnahme voraussetzen, was angesichts des Bedarfs an Spenderorganen nicht hinzunehmen wäre, sprach sich Marquis dafür aus, die Dead Donor Rule aufzugeben und sich dafür zu entscheiden, daß es moralisch gestattet ist, Menschen unter bestimmten Umständen zu töten, um ihnen Organe entnehmen zu können.

Der Schattenblick hatte Gelegenheit, Don Marquis telefonisch einige Fragen zu den Implikationen seiner Sichtweise zur Organspende zu stellen.

Auf dem Podium - Foto: © 2013 by Schattenblick

Don Marquis im Vortrag
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Marquis, Sie gelangten in Ihrem Vortrag auf der Konferenz in Bielefeld zu der Schlußfolgerung, daß die Tote-Spender-Regel aufgegeben werden sollte und es unter bestimmten Umständen moralisch zulässig sei, Menschen wegen ihrer Organe zu töten. Das führt uns zu der Frage der Zustimmung eines Organspenders. Wie können wir angesichts der außerordentlich kontroversen Debatte selbst in der wissenschaftlichen Gemeinde je sicherstellen, daß ein Spender umfassend informiert ist?

Don Marquis: In aller Regel gibt die Familie des Patienten die Zustimmung. Und das würde sie gleichermaßen auch ohne die Tote-Spender-Regel tun.

SB: Sind Sie der Ansicht, daß die Familie umfassend informiert wird oder informiert werden kann?

DM: Dieser Ansicht bin ich in der Tat. In meinem Vortrag legte ich nahe, daß es unter verschiedenen Gesichtspunkten statthaft ist, Menschen wegen ihrer Organe zu töten. Doch lassen Sie mich für den Augenblick über meine eigene Sichtweise sprechen. Im angesprochenen Zusammenhang müßte der Organspender folgende Bedingung erfüllen: Wir müßten uns absolut sicher sein, daß er nie wieder in der Lage ist, etwas zu erleben, das er wertschätzt. Wenn das der Fall wäre, würden seine Angehörigen meines Erachtens sagen, ja, warum sollte man seine Organe nicht spenden? Nehmen wir den Fall eines hirntoten Organspenders. Er unterscheidet sich in keiner Weise von dem Spender, wie wir ihn ansonsten haben. Es verhält sich nur so, daß wir ihn nicht als tot bezeichnen würden. Seine Familie würde demzufolge wohl auf derselben Grundlage ihre Entscheidung treffen. Ich kann offen gesagt nicht erkennen, warum es ein Problem damit geben sollte, die Angehörigen zu informieren.

SB: Aber weiß denn die Familie wirklich genau, was dem Patienten geschieht?

DM: Natürlich müßte der zuständige Arzt der Familie erklären, in welcher Verfassung sich der Patient befindet und wie seine Prognose aussieht.

SB: Was die Situation hier in Deutschland betrifft, haben wir den Eindruck, daß die Transplantationsmedizin eine öffentliche Diskussion über das Hirntodkonzept vermieden hat, da sie andernfalls offenbar einen weiteren Rückgang der Spendebereitschaft befürchtet. Würden Sie das von Sabine Müller auf der Konferenz vorgetragene Argument teilen, daß eine besser informierte Öffentlichkeit zu einer geringeren Zahl an Spenderorganen führte?

DM: Ich weiß nicht, das ist schwer einzuschätzen. Ich vermute jedoch, daß eine gut informierte Öffentlichkeit durchaus keine Einwände hätte. Offensichtlich kommt es darauf an, was man unter Schaden zufügen versteht, doch schadet man dem Spender mit Sicherheit auf keine moralisch signifikante Weise. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Angenommen, Sie wären der Spender. Hätten Sie unter den genannten Umständen Einwände gegen eine Organspende?

SB: Ich persönlich hätte Einwände, da sich die Situation als solche für mich keineswegs als geklärt darstellt und man sich meines Erachtens durchaus nicht sicher sein kann, was einem dabei widerfährt.

DM: Aber Ihr Einwand läuft doch auf folgendes hinaus: Wir können uns über die Zukunft selbst dann nicht sicher sein, wenn ein anerkannter ärztlicher Experte den Patienten für hirntot erklärt. Also sprechen Sie sich im Grunde gegen alle Transplantationen aus, bei denen die Organe von sogenannten toten Spendern stammen. Es ist also kein Einwand gegen mein Argument im besonderen, sondern gegen die Organspende von Kadavern im allgemeinen.

SB: Ich bezog mich sowohl auf die Ungewißheiten beim sogenannten Hirntod als auch jene beim Herzstillstand, da die Patienten, wie Sie darlegten, unter diesen Umständen nicht tot sind.

DM: Der Unterschied zwischen meiner Sichtweise und der üblichen Auffassung besteht darin, wie man die Patienten klassifiziert. Ihr physiologischer Zustand ist jedoch in beiden Fällen derselbe. Ich bin lediglich der Ansicht, daß Patienten, die aufgrund des diagnostizierten Hirntods als Leichen eingestuft werden, keineswegs solche sind. Ich gehe indessen davon aus, daß die ärztliche Diagnose des Hirntods zutreffend ist. Wir haben es also mit einem Problem der Klassifizierung sowie der Information der Angehörigen zu tun, die erfahren müssen, wie die Verfassung des potentiellen Organspenders ist. Legte man meine Ansicht zugrunde, hätte man dieselben Spender wie unter den bislang üblichen Kriterien - daran würde sich also nichts ändern. Ändern würde sich jedoch, was man der Familie erzählt. Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir nicht ehrlich zu den Angehörigen waren, wenn wir sie um ihre Zustimmung zu einer Organspende baten. Wir haben der Familie erklärt, daß der Spender tot sei, was jedoch nicht zutrifft. Er hat lediglich zahlreiche Funktionen eingebüßt, die einen Menschen normalerweise auszeichnen.

SB: Angenommen, es wäre ethisch und rechtlich zulässig, einen Organspender zu töten. Wie könnte man dann Ihres Erachtens verhindern, daß die Tür zur Tötung anderer Patienten aufgestoßen wird, denen man eine Zukunft in unserem Sinn abspricht?

DM: Das ist eine gute Frage. Wir müssen das diskutieren. Es erweist sich als eine sehr schwierige Frage. Wir müssen eine offene Debatte darüber führen, warum wir das Töten menschlicher Wesen für falsch halten. Im Zusammenhang der Abtreibungsdebatte herrscht die Auffassung vor, daß es nicht falsch sei, ein menschliches Wesen zu töten, nur weil es ein solches ist. Andernfalls wäre eine politische Praxis undenkbar, die Abtreibungen nicht unter Strafe stellt. Schließlich handelt es sich bei Föten zweifelsfrei um menschliche Wesen.

SB: Der Unterschied besteht aber doch darin, daß es sich bei der Transplantation nur um einen einzelnen Spender, hinsichtlich der Abtreibung jedoch um die Mutter und den Fötus zusammen handelt.

DM: Wenn der Fötus ein menschliches Wesen ist und seine Mutter ihn töten will, können wir das doch nicht gutheißen.

SB: Wenn aber die Frau argumentiert, es handle sich um ihren Körper, und der Fötus sei kein menschliches Wesen getrennt von ihr - machte das nicht einen Unterschied?

DM: Das Argument mag fallen, doch warum sollte dieser Unterschied von Bedeutung sein? Das Standardargument der Befürworter einer Wahlfreiheit der werdenden Mutter lautet doch, daß das Leben bei diesem Fötus noch nicht begonnen habe oder wir nicht genau wissen, wann es beginnt. Beides entspricht jedoch nicht der Wahrheit. Ein Fötus ist eindeutig ein menschliches Wesen. In den Publikationen der akademischen Welt herrscht die Auffassung vor, daß der Fötus ein menschliches Wesen, aber noch keine Person sei und keinen Wunsch zu leben verspüre. Dies wird als Grund angeführt, warum es statthaft sei, das Leben des Fötus zu beenden. Wir sollten mit Blick auf die Transplantation ähnliche Unterscheidungen beim Ende des Lebens machen. Der große Bogen meines Vortrags war die Empfehlung, daß wir uns die Fragen im Kontext der Abtreibung genauer ansehen müssen, um größere Klarheit am anderen Ende des Lebens zu schaffen.

SB: Eines Ihrer Argumente, warum man die Tote-Spender-Regel aufgeben sollte, bestand darin, daß die betreffenden Patienten das Potential eingebüßt haben, künftige Erfahrungen zu machen, die sie wertschätzen würden. Liefe man dieser Argumentation folgend nicht Gefahr, einen zu lebenslanger Haft ohne Aussicht auf Bewährung verurteilten Strafgefangenen, der in Einzelhaft sitzt, angesichts seiner hoffnungslosen Existenz zu einem Kandidaten praktizierter Sterbehilfe zu erklären, sofern er seine Organe spendet?

DM: Solche Straftäter haben durchaus eine Zukunft, die ihnen etwas bedeutet. Sie erleben Dinge, die sie wertschätzen oder zumindest wertschätzen könnten.

SB: Wenn diese Gefangenen jedoch isoliert in ihrer Zelle sitzen und wissen, daß sie nie wieder freikommen werden - was haben sie dann Besseres vom Leben zu erwarten als ein todkranker Patient?

DM: Der Wert eines Lebens im Gefängnis ist zweifellos in hohem Maße eingeschränkt. Gerade darum geht es ja in gewisser Weise bei dieser Form der Strafe. Das bedeutet aber nicht, daß dieses Leben überhaupt keinen Wert für den Häftling mehr hat. Ich gehe vielmehr davon aus, das selbst dieses Leben für den betreffenden Menschen einen Wert besitzt. Ein verminderter Wert ist also nicht mit Wertlosigkeit gleichzusetzen. Im Zustand des Hirntods hat das künftige Leben hingegen keinen Wert mehr für den Patienten, weil er in der Zukunft nichts mehr erleben kann.

SB: Was aber Organspender nach Herzstillstand betrifft, so ist doch nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen, daß sie nicht wiederbelebt werden könnten.

DM: Das ist richtig. Aber ich gehe davon aus, daß der Arzt in derartigen Fällen der Familie erklärt, daß der potentielle Organspender einen derart schweren Gehirnschaden davongetragen hat, daß er nicht mehr zu Erlebnissen imstande ist, die von Wert für ihn sind. Er bliebe fortan im Zustand eines Gemüses.

SB: In einigen Bundesstaaten können Ärzte den Wunsch eines Patienten nach lebenserhaltenden Maßnahmen übergehen, wenn sie eine weitere Behandlung für nutzlos erachten. Könnte dies Auswirkungen auf die Gültigkeit informierter Zustimmung von Organspendern haben?

DM: Wir benötigen eine Analyse dessen, was nutzlos in diesem Zusammenhang bedeutet. Unglücklicherweise ist das ein Begriff, der leichtfertig in die Debatte geworfen wird. Nutzlos hat etwas damit zu tun, daß eine Behandlung nicht zu einem bestimmten Ergebnis führt. Wir sind gehalten, bedachtsam über dieses Ergebnis zu sprechen, da der Terminus nutzlos andernfalls fern jeden Zusammenhangs verwendet würde. Was nutzlos bedeutet, sollte vielmehr im Kontext dessen erörtert werden, was man erreichen möchte, weshalb wir uns die Frage nach dem Ziel stellen müssen.

SB: Angesichts eines marktorientierten Gesundheitssystems wie jenem der USA oder Deutschlands wird Nutzlosigkeit auch unter ökonomischen Gesichtspunkten auf Menschen angewendet, in deren Fall man lebenserhaltende Maßnahmen über Wochen, Monate oder gar Jahre für zu kostspielig erachtet. Es könnte jedoch dem subjektiven Interesse des Patienten entsprechen, daß für ihn lebenserhaltende Maßnahmen angewendet werden. Gäbe man die Tote-Spender-Regel auf, öffnete man ökonomischen Erwägungen Tür und Tor, Druck auf den Patienten auszuüben, er verursache zu hohe Kosten und solle besser in die Organspende einwilligen.

DM: An diesem Problem ändert sich nichts, was immer man in Hinblick auf die Tote-Spender-Regel unternimmt. Es gibt natürlich einen Unterschied zwischen einer nutzlosen und einer zu teuren Behandlung.

SB: Könnten nicht manche Mediziner dort von nutzlos sprechen, wo sie eine Maßnahme für zu kostspielig halten?

DM: Das würde überhaupt keinen Sinn machen. Offensichtlich kann eine Behandlung sehr, sehr teuer und dennoch nützlich sein.

SB: Unter dem Affordable Care Act haben arme Menschen in den USA künftig größere Aussichten auf eine angemessene Gesundheitsversorgung. Angesichts der hohen Kosten wird dennoch nicht jeder versichert sein. Das hat unter anderem zur Folge, daß nicht jeder Patient bei Bedarf eine Organtransplantation bekommt, weil die Versicherung die Behandlung und deren Folgekosten nicht bezahlt. Wie verträgt sich das mit dem ethischen Wert, ein Organ aus altruistischen Gründen zu spenden?

DM: Das sehe ich nicht als Problem, weil es gemessen am Bedarf einfach nicht genügend Spender gibt. Es existiert ein regelrechter Mangel an Spendern. Ich kann auch keine spezifischen Probleme im Zusammenhang mit Obamacare erkennen. Vielmehr gehe ich davon aus, daß unter Obamacare jeder ein Organ bekommt, der es benötigt, sofern Spenderorgane verfügbar sind. Viele Menschen werden dennoch vergeblich auf ein Organ warten, weil wir eben nicht genug Spender haben.

SB: Wie steht es mit Menschen, die nicht versichert sind und deshalb auch unter Obamacare keine Organe bekommen werden? Wie kann man das System der Organspende ethisch korrekt handhaben, wenn nicht zuvor die ökonomische Situation in Ordnung gebracht worden ist?

DM: Spezielle Probleme, die mit Obamacare zu tun hätten, sehe ich nicht. Das United Network for Organ Sharing, das die Organspende in den USA organisiert, geht bei der Bereitstellung von Spenderorganen nach bestimmten Verfahrensweisen vor. Ich bin kein Experte, was deren Maßgaben betrifft, doch alles, was ich darüber weiß, legt den Schluß nahe, daß man sich dabei große Mühe gibt, ein faires Verfahren zu gewährleisten. Einige Menschen werden sterben, während sie auf Organe warten, doch ob sie Obamacare haben oder nicht, macht für sie meines Erachtens nicht den geringsten Unterschied.

SB: Herr Marquis, vielen Dank für dieses Interview.

Hinweisschild ZiF - Foto: © 2013 by Schattenblick

An der Auffahrt zum ZiF
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

Bisherige Beiträge zum Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN→ REPORT:

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15. Dezember 2013