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INTERVIEW/027: Der Entnahmediskurs - Lebenswert und Lebensnutzen, Gespräch mit Dr. Jürgen in der Schmitten (SB)


Interview am 13. September 2013 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld



Dr. med. Jürgen in der Schmitten, MPH, praktiziert als Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und Palliativmedizin. Neben der Praxis ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeinmedizin der Universität Düsseldorf in Lehre und Forschung tätig. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören Risikokommunikation, Ethik und Advance Care Planning.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Jürgen in der Schmitten
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Auf der Tagung "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" in Bielefeld hielt Dr. Jürgen in der Schmitten einen Vortrag zum Thema "Why Organ Transplantation is Well Advised to Abandon the Concept of Brain Death". Wie er ausführte, sei das Verhältnis von Leben und Tod in der Hirntod-Debatte nach neuerer Auffassung kein wissenschaftliches Faktum, sondern ein soziales Phänomen. Das sollte ausreichen, Leben von Tod zu unterscheiden, wobei es nicht notwendig sei, den genauen Zeitpunkt des Todes zu bestimmen. Die aktuelle Ratio des Hirntods sei falsch, weil der Gesamthirntod zum einen kein Kriterium für den Verfall des gesamten Organismus ist. Zum anderen gelte es ein zentrales Argument der Hirntodverteidiger zu klären, nämlich die parallele Verwendung des biologischen und des kognitiven Konzepts. Menschliche Wesen dürften weder auf ihre biologischen noch ihre kognitiven Funktionen reduziert werden. Deshalb sei ein Todeskriterium erforderlich, das einen irreversiblen Verlust beider Funktionen einschließt. Es sei sehr schwer, eine Linie zu ziehen und zu definieren, wann alle kognitiven Funktionen erloschen sein sollen. Gehe man diesen Weg nicht, müsse man auf demselben begrifflichen Level die Entscheidung treffen, daß das biologische Leben maßgeblich sei. Dann laute die Todesdefinition, daß das Individuum nie mehr als ein vollständiger Organismus betrachtet werden kann. Das sei keineswegs vage, sondern liefere ein präzises Kriterium für die Desintegration des Organismus als Gesamtheit, die per Definition mehr als die Summe der Teile ist. Hingegen erfülle Hirnversagen diese Definition nicht, so der Referent.

Bei seinem Vorschlag handle es sich keineswegs um eine Kombination des kognitiven und des biologischen Ansatzes. Vielmehr sei die Auffassung, daß die kognitiven Fähigkeiten entscheidend seien, eine Teilmenge der Auffassung, daß das biologische Leben entscheidend ist. Daher genüge letztere, um auch erstere zu erfüllen. Diese wäre für sich allein nur dann hinreichend, wenn sie ohne das biologische Leben auskommt.

Der einzige Grund, auf einer Kombination zu bestehen, sei die Absicht, diesen Sachverhalt zu vernebeln. Auf dem biologischen Leben als Kriterium zu bestehen, sei hingegen keine willkürliche Entscheidung, sondern wohlbegründet. Lege man als Todesbegriff zugrunde, daß ein menschliches Wesen nie wieder als Gesamtheit existieren wird, heiße das, daß keinerlei physische Zeichen der Interaktion von Teilen zu erkennen sind und das maßgebliche Kriterium ein irreversibler Herz-Kreislauf-Stillstand ist.

Daraus folge, daß Organe nur lebenden Spendern entnommen werden können und offensichtlich eine Alternative zur Totespenderregel erforderlich sei. Er schlage als Lösung vor, daß die Organentnahme als Ausnahme vom Tötungsverbot gesetzlich verankert wird. Es gelte nachzuweisen, warum diese Ausnahme gerechtfertigt und zugleich zu einzigartig ist, um als Argument für weitere Ausnahmen mißbraucht werden zu können. Wie Jürgen in der Schmitten unterstrich, sei er ein entschiedener Gegner aktiver Euthanasie, die sich grundlegend von der Organentnahme unterscheide. Zum einen erfolge die Zustimmung zur Organspende nie in der Absicht, das eigene Leben zu verkürzen. Sie trage de facto im Gegenteil dazu bei, das Leben zu verlängern, da man solange künstlich am Leben erhalten wird, bis es zur Entnahme kommt. Und nicht zuletzt diene der chirurgische Eingriff nicht dem Zweck, das Leben zu beenden, sondern die Organe zu entnehmen.

Erst wenn die Totespenderregel außer Kraft gesetzt sei, könne ein würdiger Umgang mit dem Sterbenden Raum greifen. Anästhesiere man unter Aufrechterhaltung der Totespenderregel, zögen Außenstehende daraus den Schluß, daß die Protagonisten des Hirntods ihren eigenen Argumenten nicht glauben. Als das Transplantationsgesetz 1997 verabschiedet wurde, habe ein Drittel der Bundestagsabgeordneten, darunter drei Justizminister, für einen Gesetzentwurf votiert, wie er hier vorgeschlagen wird. Die Aussichten, eine solche Änderung herbeizuführen, sollten daher nicht unterschätzt werden.

Die Transplantation benötige zum gegenwärtigen Zeitpunkt vor allem Vertrauen, das nur auf Grundlage voller Transparenz einschließlich der Konflikte und Probleme geschaffen werden könne. Sie müsse von einem Todesbegriff ausgehen, der mit dem in der Gesellschaft üblichen Verständnis übereinstimmt. Sie brauche eine Gesetzgebung, die es Menschen ermöglicht, sich für den Fall eines irreversiblen Hirnversagens als Spender zur Verfügung zu stellen. Sie brauche Werbung für die Organspende unter diesen neuen Voraussetzungen. Sie brauche eine Politik, Spender und deren Angehörige angemessen zu informieren. Sie brauche eine offene Diskussion über den Umgang mit Spendern. Und sie brauche die Akzeptanz der Gesellschaft und des Einzelnen, daß Transplantation in den Sterbeprozeß eingreift, und das Vertrauen, daß die Chirurgen den Sterbenden mit Würde behandeln und nicht als Leiche betrachten.

Am Rande der Tagung führte der Schattenblick ein Gespräch mit Jürgen in der Schmitten.

Am Rednerpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Jürgen in der Schmitten beim Vortrag
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Schattenblick: Am heutigen Konferenztag war sehr viel von Vertrauen die Rede, so daß man leicht den Eindruck gewinnen könnte, daß die Akzeptanz gegenüber der Transplantationsmedizin gesunken ist. Läuft man nicht Gefahr, wenn man explizit über Vertrauen diskutiert, daß sich der Verdacht verstärkt, es gebe etwas zu verbergen?

Jürgen in der Schmitten: Ja, das ist ein berechtigter Einwand. Gestern abend haben die amerikanischen Dozenten sehr sorgfältig und mit Bedacht abgewogen, was man öffentlich diskutieren kann, ohne mehr Porzellan zu zerschlagen als nötig. Auf der anderen Seite begleitet die Hirntod-Debatte die Transplantationsmedizin von Anfang an. Für mich ist die Hirntod-Kontroverse, auf den Punkt gebracht von Hans Jonas mit seinem Artikel "Gegen den Strom" ein Jahr nach der Deklaration des Hirntodes als Todeskriterium durch das Harvard Ad Hoc Committee 1968, wie ein Tumorgewächs in der Transplantationsmedizin, das einfach nicht totzukriegen ist. Es herrscht die ganze Zeit über ein latentes Mißtrauen, weil das Unbehagen dauernd neue Nahrung erhält. Dazu trägt bei, daß immer wieder Angehörige angesprochen werden und man ihnen erklärt, daß ein Toter im Bett liegt. Das ist völlig kontra-intuitiv und gegen jedes Verständnis.

Daß die Spendezahlen zur Zeit heruntergehen, steht unterdessen im Zusammenhang mit der Manipulation der Zulassungs- bzw. Zuweisungskriterien. Natürlich ist das schlimm, aber ich finde nicht, daß man der Transplantationsmedizin daraus einen Strick drehen sollte. Es gibt überall solche und solche. Dagegen muß es Kontrollen geben, und sie werden jetzt auch verstärkt eingesetzt. Im Grunde bin ich der Meinung, daß man den Transplantationsbetrieb durchaus kontrollieren kann, auch wenn sehr viele Leute daran beteiligt sind. So lassen sich Verfahren einführen, die den Ablauf der Entnahme und Weitergabe der Organe regulieren. Man kann die Vorfälle auch zum Anlaß für eine Veränderung der Gesetzeskontrolle nehmen, und damit ist das Thema für mich erledigt. Das eigentliche Mißtrauen kommt meines Erachtens durch die Umbenennung des Hirntoten zum Toten, was immer wieder von Leuten als unpassend und unzutreffend erlebt wird.

SB: In der deutschen Transplantationsmedizin gilt das Hirntod-Konzept nach wie vor als Standard, obgleich sich aus wissenschaftlicher Sicht die Einwände dagegen mehren. Wie wir auf dieser Konferenz hören, scheint dieses Konzept unter Experten inzwischen nur noch eine Minderheitenposition zu sein.

JS: Ja, ich höre auf dem Kongreß von den amerikanischen Referenten einhellig, daß die Hirntod-Definition im Grunde Geschichte ist, und es jetzt nur noch darum ginge, Schadensbegrenzung zu üben. Ich habe hier kein stichhaltiges Argument dazu gehört, warum der sogenannte Ganzhirntod das Ende des Organismus darstellen soll, wie das hierzulande immer noch behauptet wird. Ich denke, daß die hochrangigen Veröffentlichungen von Neurologen und Neurobiologen gezeigt haben, daß ein hirntoter Organismus weiterhin die Leistung vollbringt, die wir einem lebendigen Organismus zuschreiben. Diese Aussage ist von Biologen hinlänglich bestätigt worden. Die Mediziner haben zu diesem Komplex nicht viel beizusteuern. Daher ist das Thema für mich aus wissenschaftlicher Sicht völlig durch. Die Frage ist nur noch, ob man sich weiter durchwurstelt und etwas behauptet, von dem man eigentlich weiß oder wissen könnte, daß es obsolet ist, oder ob man die Zeichen der Zeit erkennt und versucht, ein neues Konzept zu finden, das die Organtransplantation weiter stützen könnte, und vielleicht sogar besser als je zuvor.

SB: Einer der auf der Konferenz vortragenden Transplantationschirurgen hat hervorgehoben, daß die Würde der Spender und auch der Angehörigen in hohem Maße gewahrt werde, besser sogar, als dies üblicherweise im Umgang mit Patienten der Fall sei. Demgegenüber berichten Angehörige, vor allem Eltern, die ihre Kinder zur Spende freigegeben haben, genau das Gegenteil. Steht nicht zu befürchten, daß die Glaubwürdigkeit der Transplantationsmediziner in diesem Spannungsfeld entgegengesetzter Meinungen immer mehr abbröckelt?

JS: Ich habe ein Problem damit, wenn aus Einzelfällen grundsätzliche Vorwürfe konstruiert werden. Natürlich gibt es und hat es einzelne Chirurgen gegeben, die sich unmöglich verhalten. Das muß dann sanktioniert und abgeändert werden. Aber mir geht es hier wirklich um etwas Grundsätzlicheres. Ich persönlich gehe davon aus, daß Chirurgen das integre Ziel verfolgen, Patienten zu helfen. Allerdings sind sie dazu trainiert und ausgebildet, den hirntoten Menschen als Kadaver zu sehen und zu bezeichnen. In dem Augenblick, wo ich das tue, nehme ich automatisch eine Haltung ein. Selbst wenn ich mir nur einzureden versuche, daß es ein Kadaver ist, verhalte ich mich auf eine bestimmte Weise. Es hat seinen Grund, warum in Deutschland bei der Organentnahme üblicherweise keine Narkose gegeben wird, weil man dadurch der eigenen Rede des Kadavers Unglaubwürdigkeit bescheinigen würde.

Allerdings würde sich die Einstellung grundlegend ändern, wenn man hirntote Menschen künftig als noch Lebende bzw. Sterbende ansehen würde. Damit stünde die Gabe einer Narkose außer Frage, ohne daß wir genau zu wissen brauchen, ob der Hirntote nun noch ein basales Restempfinden hat oder nicht. So wäre man auf jeden Fall immer auf der sicheren Seite. Schließlich bekommen auch andere Patienten, die schwerst bewußtlos operiert werden, zuvor eine Narkose. Und natürlich würde sich auch das Verhalten des gesamten Personals eines Operationssaales ändern, wenn man wüßte, daß es sich um einen sterbenden Patienten handelt. Diese grundsätzliche Ebene hatte ich im Sinn bei meinem Einwand gegen die Überbewertung der Einzelfälle. Es mag zutreffen, daß einzelne Chirurgen sich im Rahmen von Organentnahmen besonders unangemessen verhalten. Das Problem ist aber nicht das pietätlose Verhalten einzelner, sondern die Tatsache, daß wir von Pietät (einer Leiche gegenüber) sprechen und nicht von der Würde eines Sterbenden.

SB: Wenn am hirntoten Patienten bei der Entnahme von Organen Schmerzreaktionen beobachtet werden, spricht man schnell von Ausnahmefällen, die sich zudem durch die gezielte Verabreichung von Schmerzmitteln vermeiden ließen. Aber begeht man damit nicht einen systematischen Fehler, durch die Hemmung der Schmerzempfindlichkeit möglicherweise das tatsächliche Geschehen zu überdecken?

JS: Richtig ist, daß bei Hirntoten rückenmarksgesteuerte Reflexe auftreten können. Ich habe damals mit meinem Coautor Johannes Hoff, der Theologe und Philosoph ist, lange über diesen Punkt diskutiert. Von ihm stammt das Bild, daß der Versuch herauszufinden, ob der Hirntote noch etwas erlebt oder nicht, ähnlich erfolgversprechend ist wie der Versuch herauszufinden, ob das Licht im Kühlschrank aus ist, wenn man die Tür zumacht. Das entzieht sich einfach unserer Beobachtungsmöglichkeit. In dem Augenblick, wo ich die Tür aufmache, ist das Licht an, und wenn ich sie zumache, kann ich nicht hineinschauen. Daher glaube ich, daß wir uns hier mit dem Schleier der Unwissenheit begnügen müssen. Wir können Hirntote nicht wieder zum Leben erwecken und sie danach befragen. Selbst wenn wir sie befragen könnten, würden sie sich nicht mehr daran erinnern. Daher genügt es meines Erachtens zu wissen, daß Hirntote Sterbende sind, um ihnen adäquate Schmerzmedikation und Narkose zukommen zu lassen. Natürlich werden die Reflexe dann ausbleiben. Ob diese jetzt für innere Erlebenszustände stehen oder nicht, tritt für mich in seiner Bedeutung jedoch zurück. Mit einer ordentlichen Narkose kann man Organe entnehmen, ohne befürchten zu müssen, etwas übersehen zu haben.

SB: Sie hatten in Ihrem Vortrag angeführt, daß das Leben hirntoter Patienten durch ihre Zustimmung zur Organentnahme de facto verlängert wird. Nun hegen viele Menschen die Furcht, daß ihr Leben mutwillig verkürzt werden könnte, wenn sie sich als Spender bereiterklären.

JS: Es stimmt schon, daß die Angst vor Mißbrauch in der Öffentlichkeit eine viel größere Rolle spielt, als sie es für mich in meinen grundsätzlichen Überlegungen tut. Natürlich ist es vorstellbar, daß ein Transplantationsteam auf der Intensivstation solchen Einfluß gewinnt, daß jemand nicht optimal behandelt oder daß der Hirntod früher als berechtigt attestiert wird. Das wäre kriminell und strafbar. Ich persönlich habe jedoch aufgrund meiner Erfahrungen in Krankenhäusern nicht die Sorge, daß das jemals ein größeres Problem sein könnte. Zum einen glaube ich nicht, daß Transplantationsmediziner in einer nennenswerten Häufigkeit kriminell wären, und zum anderen sind am Transplantationsprozeß so viele andere Ärzte und Pflegende mitbeteiligt, daß ein organisierter Mißbrauch für mich völlig ausgeschlossen ist und in ihrer Art zweifelsohne entsetzliche Einzelfälle nie ein systematisches Problem sein werden.

Tatsächlich ist es aber so, daß bei einem Patienten, der sich für eine Transplantation entschieden hat, die Behandlungen, die sonst (mit der Folge des unmittelbaren Todeseintritts) abgebrochen würden, nach der Feststellung des Hirntodes weitergeführt werden, bis die Vorbereitungen für eine Organentnahme getroffen werden konnten. Die Bereitschaft zur Organspende bewirkt, daß man länger am Leben erhalten wird, als dies der Fall wäre, wenn man sich gegen die Spende entschieden hätte. Ich denke, daß es noch Dinge gibt, die wir besser verstehen sollten mit Blick auf die Vorbereitung zur Explantation. In diesem Feld gibt es sicher viele Ängste, zum Beispiel, ob bestimmte Maßnahmen eingeleitet werden, bevor der Hirntod festgestellt ist, um auf diese Weise den mutmaßlichen Spender für eine spätere Explantation in optimaler Verfassung zu halten. Diese Fragen hat Frau Schöne-Seifert in einem Artikel für das Deutsche Ärzteblatt kritisch durchleuchtet, was ich sehr verdienstvoll finde. All das gehört in den Bereich der Aufklärung über die Problemfelder und Sachstände, damit die Menschen wissen, auf was sie sich mit dem Angebot der Organspende einlassen.

Ich kenne viele Menschen, die sagen, wenn ich hirntot bin, dann bin ich froh, wenn ich heute schon weiß, daß ich dann noch etwas für andere Menschen tun kann. Wenn man ordentlich mit mir umgeht und wenn ich nicht dadurch sterbe, daß man das Beatmungsgerät abstellt, sondern dadurch, daß das Beatmungsgerät gleichzeitig mit der Herzentnahme abgestellt wird, so spielt das für mich überhaupt keine Rolle. Das ist für mich eine akzeptable Position, und ich kann mir vorstellen, daß sich die Spenderzahlen dadurch nicht wesentlich verändern würden. Vielleicht nähme die Spendebereitschaft sogar zu, weil die Leute endlich spüren, daß das, worüber sie aufgeklärt werden, dem entspricht, was sie wahrnehmen.

SB: Ist eine Zustimmung in einem frühen Lebensalter wirklich relevant für eine Situation, die später eintreten wird? Denn wenn man junge Menschen fragt, unterschreiben sie nur allzu bereitwillig, weil sie sich gar nicht vorstellen können, was später sein wird. In welchem Maße läßt sich durch Aufklärung vorwegnehmen, was in einem späteren Lebensabschnitt akut wird, oder wie sich ein Mensch dann entscheiden würde, sofern er sich noch artikulieren könnte?

JS: Das berührt die Frage, wie man aufklären müßte. Ich gebe jedoch zu bedenken, daß wir es hier mit einem völlig unbeackerten Feld zu tun haben. So findet sich auf amerikanischen Spenderausweisen - wie übrigens auch bei uns - die Formulierung: Ich bin mit einer Kadaverspende oder mit einer Entnahme nach meinem Tod einverstanden. Das finde ich völlig unverantwortlich. Wir müßten Menschen durch geeignete Text- und Bildmaterialien darüber aufklären, um was es hierbei geht. Ich denke, daß die Menschen sich dadurch ernstgenommen fühlen würden und keine Angst mehr zu haben bräuchten. Auch das wirkt sich auf eine Gesellschaft aus. In Ihrer Frage sprechen Sie die Zeitaktualität der Verfügung an. Dieses Problem kennen wir aus der Patientenverfügungsdiskussion. Ich denke, daß es darauf Antworten gibt. Allein die Tatsache, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie das ist, hirntot zu sein und explantiert zu werden, bedeutet nicht zwangsläufig, daß wir deswegen eine autonome Entscheidung nicht zulassen oder akzeptieren sollten. Denn ich kann mir auch nicht vorstellen, wie es ist, mit einer Frau verheiratet zu sein, mit der ich vor den Altar trete, und ich kann mir auch nicht vorstellen, wie es ist, Schulden abbezahlen zu müssen, wenn ich mir gerade ein Haus kaufe. Das sind Dinge, die sich erst erschließen, wenn ich den Folgen meines Handelns Jahre und Jahrzehnte später unterworfen bin. Sich etwas nicht wirklich vorstellen zu können, hindert uns auch sonst nicht daran, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen und bei anderen zu respektieren.

SB: Dennoch bleibt es ein besonders prekärer Bereich, weil es auch das Tötungsverbot mit einschließt. Wenn eine derart grundlegende Entscheidung getroffen wird, sollte die Frage legitim sein, ob dieser Mensch tatsächlich die volle Tragweite seiner Entscheidung beurteilen kann.

JS: Wenn er es nicht beurteilen kann, wer sonst? Nun könnte man einwenden, daß es besser wäre, wenn wir als Experten uns hinsetzen und es für alle anderen entscheiden sollten. Aber wir haben ja auch keine bessere Einsicht in das, was da passiert. In dem Augenblick, wo ich einen Menschen darüber aufkläre und ihm vielleicht einen Film zeige, traue ich ihm durchaus zu, eine bestmögliche Entscheidung für sich zu treffen. Wenn die Gesellschaft will, daß wir Organe transplantieren, und der Sog dahin ist sehr stark, denn wir möchten leben und überleben - und diese Option dazu ist unglaublich verlockend -, dann glaube ich, daß sich ein solches Opfer rechtfertigen läßt. Ich wüßte nicht, welche Instanz über diesem Menschen, der sich für eine Organspende entscheidet, stünde, um zu sagen, du weißt nicht, was du tust. Denn letztlich sind die Experten auch nur Menschen, die das Für und Wider abwägen und sich dann ihren Teil denken. Aber das gilt für alle Menschen. Ich kenne sehr ernstzunehmende Persönlichkeiten, Mediziner, die sehr genau wissen, was eine solche Entscheidung im einzelnen mit sich bringt, und die sich für eine Organspende im Fall des Hirntodes entschieden haben. Ich sehe mich nicht in der Position, ihnen abzusprechen, was sie wissen. Natürlich leben wir in einer pluralistischen Gesellschaft, wo das früher vertraute Schema von Gut und Schlecht nicht mehr so klar verteilt ist. Das macht sich auch im Bereich der Transplantationsmedizin bemerkbar. Man kann das beklagen. Es wäre einfacher, wenn es feste Regeln gäbe, an die wir uns alle halten können. Aber das ist für mich ein Fall unter vielen, den ich jetzt nicht so grundlegend anders sehe.

Beim Tötungsverbot ist für mich wichtig zu wissen, daß man mich ohne meinen Spenderausweis durch das Abstellen der Maschinen sofort sterben lassen würde. Ich finde, daß eine Organentnahme im Zustand des Hirntodes bei genauer Betrachtung nur schwerlich als "Tötung" bezeichnet werden kann. Letztlich wird dieser Patient ein paar Tage länger am Leben erhalten, ehe er in den Operationssaal gebracht wird. Und dann macht man das, was man sonst schon - allseits unbestritten - vor drei Tagen gemacht hätte, nämlich die Apparate abstellen. Zeitgleich werden lebenswichtige Organe entnommen. Das als Tötung zu bezeichnen, strapaziert für mich den Begriff der Tötung schon sehr weit. Dieser gesamte Prozeß führt zwar dazu, daß der Mensch nicht mehr lebt. Aber das Abstellen der Maschine wird ja nach allgemein akzeptierter Auffassung nicht als Tötung bezeichnet. Die zeitgleich erfolgende Organentnahme ist sicherlich nicht ganz dasselbe, weil es in einem Bereich eingreift, der mit unseren bisherigen Begriffen schwer abzudecken ist, aber es ist nach meiner Überzeugung ein Sonderfall, der sich ethisch und rechtlich nicht ohne weiteres mit einer "Tötung" im herkömmlichen Sinne gleichsetzen läßt.

SB: Der kostenintensiven Hochtechnologie der Transplantationsmedizin steht eine immer schlechter werdende medizinische Grundversorgung der Bevölkerung gegenüber. So steigt die Zahl der Menschen, die kaum noch die Möglichkeit haben, sich angemessen versorgen zu lassen. Wie läßt sich das rechtfertigen, daß ein Teil des medizinischen Betriebs immense Kosten und die Konzentration von Kapazitäten in Anspruch nimmt, während andere Teile vernachlässigt werden?

JS: Das ist ein Thema, bei dem ich zum einen nicht kompetent bin, aber zum anderen ist das auch nicht entscheidend für diese Frage. Schließlich würde das für alle anderen hochtechnisierten Medizinsparten auch gelten, so daß ich es unfair finde, hier ausgerechnet die Transplantationsmedizin heranzuziehen. Die grundsätzliche Ablehnung der Transplantationsmedizin steht meiner Meinung nach auf ziemlich schwachen Füßen. Hinzu kommt, daß die Argumente dagegen oft sehr undifferenziert sind. Nierentransplantationen sind nach meiner Kenntnis gesundheitsökonomisch effektiv, man spart mehr ein, als man ausgibt. Inwieweit das für andere Transplantationen gilt, weiß ich nicht. In Einzelfällen sind damit jedoch durchaus lange Überlebenszeiten verbunden. Wir reden von Kindern, die erfolgreich transplantiert werden können. Ich würde mich hüten, hier den Stab über diesen Versorgungsbereich zu brechen, auch wenn er sehr viel Geld verschlingt. Abgesehen davon kann ich als Hausarzt sagen, daß Deutschland noch ein ganz passables Gesundheitssystem, auch im Bereich der Grundversorgung, hat. Natürlich kann man darüber sprechen, daß wir zu viel Geld in die hochtechnologisierte Medizin stecken. Da bin ich mit an Bord, vor allem bei der Überdiagnostik und Übertherapie, aber deswegen jetzt die Transplantationsmedizin aufs Korn nehmen zu wollen, finde ich problematisch. Ich glaube, da vermischen sich die Motivationen, und davon rate ich eher ab.

SB: Herr In der Schmitten, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

Bisherige Beiträge zum Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN→ REPORT:

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2. Januar 2014