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ARTIKEL/495: Kinderhospiz - Wenn Kinder am Lebensende stehen (welt der frau)


welt der frau 5/2011 - Die österreichische Frauenzeitschrift

KINDERHOSPIZ
Wenn Kinder am Lebensende stehen

Von Julia Langeneder


Ein sterbenskrankes Kind zu haben ist für Eltern ein physischer und psychischer Grenzgang. Das Kinderhospiz Netz begleitet todkranke Kinder sowie deren Familien auf ihrem Weg.


Leben und Tod liegen manchmal so nahe beisammen. Sabine Reisingers Tochter Lisa starb nur 66 Tage nach der Geburt. Ein traumatisches Erlebnis, aber auch ein Schlüsselerlebnis. Denn bald war der damaligen US-Botschafts-Angestellten klar, dass eine Veränderung in ihrem Leben bevorstand: dass sie mit Eltern arbeiten möchte, deren Kinder gestorben sind. Sabine Reisinger ließ sich zur Lebensberaterin ausbilden und gründete gemeinsam mit der Ärztin Brigitte Humer-Tischler im Jahr 2005 den Verein Netz, Träger des mobilen Kinderhospizes Netz.

"Die Idee habe ich lange mit mir herumgetragen", erzählt die Medizinerin. Durch die Gründung von Hospizen, Palliativstationen und ambulanten Hospizdiensten habe sich in den vergangenen Jahren zwar die Lebensqualität für sterbende Erwachsene erheblich verbessert, für unheilbar kranke Kinder und Jugendliche gäbe es jedoch kaum ein Angebot, kritisiert die Ärztin. Diese Lücke soll das mobile Kinderhospiz schließen oder zumindest schmälern.


Betreuung zu Hause statt im Spital

"Es ist uns wichtig, dass Kinder, die am Lebensende stehen oder chronisch krank sind, möglichst viel Zeit zu Hause verbringen können", beschreibt Sabine Reisinger die Grundintention des Vereins. Denn gerade für junge Menschen sei die Isolation durch lange Spitalaufenthalte schwer zu ertragen. "Wenn Heilung nicht mehr möglich ist, geht es um Schmerzfreiheit und Lebensqualität." Deshalb bietet das mobile Kinderhospiz den Eltern todkranker Kinder ein Netzwerk an Personen - Fachleute wie ÄrztInnen, JuristInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen sowie ehrenamtliche HelferInnen, die sich um eine professionelle Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu Hause kümmern - kostenfrei für die Familie und oft über mehrere Jahre hinweg.

"Die Eltern haben meist einen langen Leidensweg hinter sich", weiß Brigitte Humer-Tischler. "Viele Familien sind durch die Betreuung und den ständigen Schlafentzug am Ende ihrer Kräfte." Laut einer Studie trennen sich 95 Prozent der Partner innerhalb von fünf Jahren. Neben der enormen psychischen Belastung ist auch die Armutsgefährdung durch die aufwendige Pflege, die es den Eltern oft nicht ermöglicht, einem Beruf nachzugehen, hoch - nicht nur bei sozial schwachen Familien.


Insel der Normalität

"Wir versuchen, für die Familien eine Insel der Normalität zu schaffen", fasst Sabine Reisinger zusammen. Die Art der Unterstützung hänge ganz von den jeweiligen Bedürfnissen ab. Neben der palliativmedizinischen Betreuung helfen geschulte Ehrenamtliche, den Alltag zu bewältigen. Bei der sechsköpfigen Familie Mayr (Name von der Redaktion geändert), deren älteste Tochter (16) an einer genetisch bedingten Speicherkrankheit leidet und sich in einem wachkomaähnlichen Zustand befindet, hilft das Team des Kinderhospizes nicht nur bei der 24-Stunden-Pflege der 16-Jährigen. Zwei Ehrenamtliche kümmern sich auch um die drei Geschwister, helfen bei der Hausübung und lernen mit ihnen. Die schulischen Leistungen konnten dadurch erheblich verbessert und die Mutter entlastet werden.

"Die Geschwisterkinder sind uns ein großes Anliegen", bekräftigt Sabine Reisinger. Denn durch die intensive Pflege des kranken Kindes kämen die Geschwister oft zu kurz. Weil den Eltern einfach die Zeit fehlt oder auch die Energie.


Über den Tod hinaus

Die Betreuung der Familien durch das Kinderhospiz Netz beginnt mit der Diagnose und geht über den Tod des Kindes hinaus. Die Familien werden so lange wie nötig begleitet. Manchmal brauchen sie einfach nur jemanden zum Reden. Die ehrenamtliche Helferin Doris Schoch-Reitzner betreut seit zwei Jahren eine Mutter, deren neunjährige Tochter vor einem Jahr gestorben ist. "Sie hat sich jemanden gewünscht, mit dem sie reden kann."

Sprachlosigkeit - ein Phänomen, das Sabine Reisinger oft erlebt, wenn es um den Tod eines Kindes geht. "Die Sprachlosigkeit der Außenwelt ist für viele schwer zu ertragen. Auch ich habe das damals so erlebt. Die Außenwelt glaubt, dass die Trauer nach einem halben Jahr vorbei ist. Aber manchmal fängt sie da erst so richtig an." Außenstehende wissen oft nicht, wie sie mit Trauernden umgehen sollen, ob sie sie auf den Verlust ihres Kindes ansprechen sollen oder nicht. "In den meisten Fällen wollen trauernde Eltern angesprochen werden", weiß die Lebensberaterin aus ihrer Erfahrung. "Man kann dabei nicht viel falsch machen, wenn man sich den Trauernden öffnet und zuhört."


Auch Kinder brauchen Sterbebegleitung

Neben der Betreuung der Familien will der Verein, der sich zu einem Großteil aus Spenden finanziert, das Tabu aufbrechen, dass auch Kinder sterbenskrank sein können und Sterbebegleitung brauchen.

"In Österreich gibt es noch kein einziges Kinderpalliativbett für unter 18-Jährige", sagt die Ärztin, die Mitglied in zahlreichen Palliativgremien ist und sich für eine Verbesserung der palliativmedizinischen Betreuung von Kindern einsetzt. Deutschland oder auch viele osteuropäische Länder seien diesbezüglich schon viel fortschrittlicher. Ein großes Anliegen ist ihr ein stationäres Kinderhospiz. "Ein erster Schritt wäre ein Tageshospiz zur Entlastung untertags und als Ort der Begegnung für Eltern und Kinder - auch mit pädagogischen und therapeutischen Möglichkeiten. "


Kraftquelle Garten

Wenn das Sterben zum Alltag gehört - wie schaffen es Sabine Reisinger und Brigitte Humer-Tischler, mit den schweren Schicksalen umzugehen, mit denen sie täglich konfrontiert sind? "Wenn ich in einer Familie bin und merke, dass das Sinn macht, dann bekomm ich die Kraft", sagt die Ärztin. "Eine Belastung ist es jedoch, ständig erreichbar zu sein. Als Ausgleich gehe ich gerne spazieren und ich genieße gutes Essen." Sabine Reisinger tankt in der Natur auf: "Ich gehe gerne laufen und ich habe einen großen Garten. Ich genieße es, wenn die Sonne aufgeht. Für mich ist das ein Neubeginn."

Info und Kontakt: www.kinderhospiz.at


"ENTWEDER ES BRINGT EINEN AUSEINANDER ODER MAN WÄCHST ZUSAMMEN"

Die Warum-Fragen stellen sich Christine und Martin heute kaum mehr. "Mittlerweile hab ich es als Schicksal akzeptiert", sagt Martin. Warum es passiert ist, weiß das Paar bis heute nicht. Eine unproblematische Schwangerschaft, auch die Entbindung war anfangs ganz normal, bis es zu Komplikationen kam. Insgesamt drei Mal wurde Simon reanimiert - ein Wettlauf zwischen Leben und Tod und von einem Spital zum nächsten.

"Zuerst haben wir gedacht, es wird alles wieder", erinnert sich Christine an den Zustand zwischen Bangen und Hoffen. "Es hat eine Woche gedauert, bis wir es verstanden haben und uns die Ärzte gesagt haben, was Sache ist". "Es war absehbar, dass Simon nie sprechen wird können, nie sitzen oder gehen und auch nicht selbstständig essen", setzt Martin hinzu. "Dennoch war es für uns immer klar, dass wir diesen Weg gehen möchten", wirft Christine ein.

Vier Monate lang hat Simon gelebt. Die meiste Zeit davon in verschiedenen Spitälern, die letzten Wochen war er zu Hause und wurde dort von seinen Eltern und dem Team des mobilen Kinderhospizes betreut - samt Monitor für die Sauerstoffsättigung, Schleim-Absauggerät und Ernährungspumpe.

Eine Woche vor Simons Tod war klar, dass sein Leben zu Ende gehen würde. "Wir hatten Zeit zum Verabschieden. Dafür sind wir dankbar", sagt Christine. Simons Tod - er starb an einer bakteriellen Infektion - ließ die Eltern die ganze Gefühlsskala durchleben: von Wut, Verzweiflung und Nicht-wahrhaben-Wollen bis zu Akzeptanz und Annahme dessen, was nicht zu ändern war. Christine: "Wir haben uns natürlich gefragt, was das für ein Leben wäre, ein Leben voller Einschränkungen für Simon - aber auch für uns."

Für die Beziehung war diese Zeit eine große Belastungsprobe. "Entweder es bringt einen auseinander oder man wächst zusammen", sagt Martin. Simons Eltern haben die schweren Erlebnisse noch mehr zusammengeschweißt.

Die Einstellung zum Leben hat sich für die beiden verändert. Martin: "Früher hatte ich das Gefühl, alles beeinflussen zu können, und dann sieht man, wie hilflos man ist." Auch die Werte haben sich gewandelt. "Welches Auto ich habe, ist mir heute völlig egal."

Trotz dieser sehr schweren Zeit gab es auch schöne Momente, sind sich die beiden einig. "Mit Simon im Garten des Preyer'schen Kinderspitals, das war schön", meint Christine rückblickend. "Wir sind auch sehr dankbar für die Zeit daheim mit Simon - das war ein Stück normales Leben. Ohne Unterstützung hätten wir das aber nie geschafft!"

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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Mai 2011, Seite 42-45
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2011

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