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STUDIE/248: Gesundheit beginnt in der Familie - Einüben statt eintrichtern (DJI)


DJI Bulletin 3/2009, Heft 87
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Einüben statt eintrichtern

Von Claudia Liberona und Sibylle Friedrich


Sozial benachteiligte Familien wissen überraschend viel über die Folgen von Bewegungsmangel und falscher Ernährung - doch das Wissen alleine reicht nicht. Wenn Eltern ein gesundheitsförderndes Verhalten mit ihren Kindern nicht täglich üben, müssen unter anderem soziale Einrichtungen Gelegenheiten dafür schaffen.


Der Lebensalltag in einer Familie beeinflusst wesentlich die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, denn dort werden viele Gewohnheiten und Vorlieben entwickelt. Gerade aus diesem Grunde dürfen belastete Familien nicht allein gelassen werden. Insbesondere Heranwachsende in den sozial benachteiligten Familien sind vielfältigen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt (Pott/Lehmann 2003). Die Studie »Gesundheit beginnt in der Familie« der Universität Hamburg und des Deutschen Jugendinstituts (DJI) ging deshalb der Frage nach, inwieweit unterschiedliche psychosoziale beziehungsweise stadtteilorientierte Angebote zu einem verbesserten Gesundheitsbewusstsein, Gesundheitsverhalten und Gesundheitszustand von Kindern und ihren Familien beitragen können.

Die Interviews mit den Familien führten zunächst ein überraschendes Ergebnis zutage: Auch viele sozial benachteiligte Eltern und Kinder verfügen offensichtlich über ein solides Gesundheitswissen. So sind bei den befragten Müttern Kenntnisse über gesunde Ernährung und die Notwendigkeit von geregeltem Alltag als Basis für eine optimale Entwicklung von Kindern durchaus vorhanden. Sie berichteten unter anderem, dass Zucker die Zähne schädigt, dass ausreichendes Trinken für die Verdauung wichtig ist und dass Nahrungsmittel auch versteckte ungesunde Bestandteile enthalten können. Das zunehmende Interesse der Kindertagesstätten, Schulen und Medien, über die Wichtigkeit von Bewegung und gesundem Essen zu informieren, zeigt hier offenbar positive Wirkung.


Die tiefe Kluft zwischen Wissen und Verhalten

Dennoch sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien nach wie vor stärker von Gesundheitsproblemen betroffen als andere Bevölkerungsgruppen (KiGGS 2007). Offensichtlich besteht eine Diskrepanz zwischen dem Wissen und seiner Umsetzung in adäquates Verhalten. Darauf weisen zumindest die qualitativen Ergebnisse der Studie »Gesundheit beginnt in der Familie« hin. Dieses Phänomen bezieht sich allerdings keineswegs nur auf Gesundheit, sondern beschreibt ein allgemeines Problem: Wir wissen sehr oft, was wir eigentlich tun müssten, um Schwierigkeiten zu meistern und unsere Ziele zu erreichen, aber wir tun es nicht. Was in anderen Lebensfeldern als ärgerlich, weil entwicklungshemmend abgetan werden kann, entscheidet im Falle der mangelnden Gesundheitsfürsorge allerdings existenziell über die Lebensqualität und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen.

Wie aber wird Wissen in Handeln umgesetzt? Wie können die Familien eine Praxis entwickeln, die kontinuierlich und nachhaltig zu einem besseren Gesundheitszustand ihrer Kinder beiträgt? Die körperliche und psychische Gesundheit jedes Einzelnen ist stark mit dem individuellen und kollektiven Lebensstil verbunden. Das wird zum Beispiel deutlich an den in Industrieländern weit verbreiteten gesundheitlichen Problemen wie etwa Übergewicht. Durch eine Änderung der Lebensführung ließe sich diesem Problem entgegenwirken. Das erfordert jedoch die Setzung anderer Prioritäten sowie das Erarbeiten neuer Gewohnheiten, also eine Umstellung des Alltagslebens - eine Leistung, die eine finanzielle, soziale und emotionale Stabilität voraussetzt, die für in Armut lebende Familien keine Selbstverständlichkeit darstellt. Dabei geht es nicht nur um die Tatsache, dass Fast Food günstiger ist als frisches Gemüse. Gemeinsames Kochen erfordert eine Vielzahl an familialen Traditionen und Kompetenzen, die im Selbstverständnis der Familien oft nicht vorhanden sind.


Wie ein sanfter Start in ein gesundes Leben gelingt

Daher ist die Chance gering, dass Eltern, denen diesbezüglich selbst Erfahrung und Übung fehlen, Verhaltensweisen mit ihren Kindern kontinuierlich einüben und den gesunden Gewohnheiten einen festen Platz in ihrem Familienalltag einräumen. Das bedeutet, dass Akteure wie Stadtteilzentren, Kindergärten und Schulen, die am Familienalltag beteiligt sind, mit einer neuen Herausforderung konfrontiert sind: Um den in Studien immer wieder festgestellten Problemen wie etwa Bewegungsmangel oder falsche Ernährung (KiGGS 2007) entgegenzusteuern, gilt es, die Kinder nicht nur durch eine reine Wissensvermittlung bei der Erhaltung und Verbesserung ihrer Gesundheit zu unterstützen. Wenn Gewohnheiten wie regelmäßiges Zähneputzen im Familienalltag nicht eingeübt werden, müssen Kindergarten und Schule entsprechende Gelegenheiten schaffen und damit die fehlende Kontinuität in der Familie ersetzen. Nur so besteht die Aussicht, dass die Kinder selbst die Freude am Sport entdecken, das Zähneputzen irgendwann als angenehm empfinden oder Geschmack an Obst und Gemüse finden. Wichtig dabei ist das fortwährende Ausprobieren und Üben. Wissensvermittlung allein - und sei sie noch so spielerisch - genügt nicht, wenn es darum geht, neue Gewohnheiten zu entwickeln.

Diese Anforderung richtet sich jedoch nicht nur an Institutionen wie Kindertagesstätten und Schulen, sondern insbesondere auch an soziale Einrichtungen, die mehrfach belastete Familien und ihre Kinder beraten und begleiten. Die drei Einrichtungen, die im Rahmen des Projektes »Gesundheit beginnt in der Familie« evaluiert wurden, begegnen dieser Anforderung durch ein breites Portfolio von Angeboten (sogenannte offene Cafés, internationales Kochen, Kochen mit Kindern, Bauchtanz für Mütter etc.) bis hin zur psychologischen Beratung und Erziehungsberatung. Sie arbeiten ressourcenorientiert und stärken die (in)formellen Netzwerke der Nutzer und Nutzerinnen. Durch den Aufbau einer vertrauensvollen und wertschätzenden Beziehung bieten sie den Familien die Möglichkeit, sich auszutauschen und zu öffnen; dies erlaubt ihnen, auf scheinbar beiläufige Art über Sorgen oder private Lebensbereiche zu sprechen. Dabei finden auch gesundheitsfördernde Themen ihren Platz.

Die Fachkräfte nutzen die Möglichkeit, über die Angebote ihrer Einrichtungen an die Lebenswelt der Familien anzuknüpfen und fördernd darauf einzuwirken, ohne dass sich die Betroffenen für ihre Lebensführung rechtfertigen müssten. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Umgang mit unterschiedlichen Essgewohnheiten: »Und dann ist sie mit ihr da regelmäßig einkaufen gegangen und dann auch in der Obst- und Gemüseabteilung - ja, willst du nicht mal eine Gurke mitnehmen? Und mittlerweile schält die Mutter da irgendwie Kohlrabi« (eine Fachkraft). Um solche positiven Erfahrungen für die Praxis nutzbar zu machen, werden das DJI und die Universität Hamburg durch eine Analyse der Interventionsstrategien in den untersuchten Einrichtungen bis Ende des Jahres 2009 Handlungsempfehlungen entwickeln.


Literatur:

Kurth, Bärbel-Maria / Schaffrath Rosario, Angelika (2007): Die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS). In: Bundesgesundheitsblatt, Heft 5/6, S. 736-743

Lampert, Thomas / Mensink, Gert / Romahn, Natalie / Woll, Alexander (2007): Körperlich-sportliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS). In: Bundesgesundheitsblatt, 50, S. 634-64

Pott, Elisabeth / Lehmann, Frank (2003). Interventionen zur Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Gruppen. In: Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 22. Gesundheitsförderung für sozial Benachteiligte. BZgA. Köln, S. 50ff.


Die Studie »Gesundheit beginnt in der Familie« startete im Oktober 2006 als Kooperationsprojekt zwischen der Universität Hamburg und dem Deutschen Jugendinstitut. Sie hat eine Laufzeit von drei Jahren und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Die Untersuchung wurde in drei sozialen Einrichtungen in Hamburg, Berlin und München durchgeführt. Neben der Selbst- und Fremdeinschätzung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, des kindlichen Gesundheitsverhaltens und der elterlichen Gesundheits-Kontrollüberzeugung wurden auch die familialen Belastungen und Ressourcen erfragt sowie der Blick der Familien auf die Ausgestaltung der Angebote.

Kontakt:
liberona@dji.de
sibylle.friedrich@uni-hamburg.de


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2009, Heft 87, S. 10-11
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2009