Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → SOZIALES

SUCHT/584: Suchtverhalten - Alles unter Kontrolle? (welt der frau)


welt der frau 1/2011 - Die österreichische Frauenzeitschrift

SUCHTVERHALTEN
Alles unter Kontrolle?

Von Katrin Rupp


In geselliger Runde gemütlich ein paar Gläschen zu trinken, als Belohnung für berufliche Erfolge shoppen zu gehen oder sich stundenlang in der virtuellen Welt des Internets zu verfangen - Dinge, die man sich gerne gönnt. Doch wann wird aus dem Genuss ein unstillbares Verlangen? Und welche Leere soll es dann füllen? Ein Blick hinter das Phänomen Sucht.


Ähnlich wie "Stress" wird auch das Wort "Sucht" heute nahezu inflationär verwendet. Und beschreibt dabei auch positive Gefühle - etwa wenn wir davon reden, nach jemandem süchtig zu sein. Damit meinen wir, diesen Jemand zu brauchen. Und wenn die Rede davon ist, süchtig nach Schokolade zu sein, meinen wir eigentlich, dass wir dieses süße, kakaohaltige Genussmittel besonders gerne mögen. Was es wirklich heißt - nach medizinischem Verständnis -, süchtig zu sein, können sich die wenigsten vorstellen. Und dennoch finden sich zunehmend mehr Menschen am Eingang zu diesem psychologischen Labyrinth. Die essenzielle Frage, die sich dabei stellt: Wo beginnt unser Verhalten in eine Abhängigkeit zu kippen? Ab wann wird Genuss zur Sucht?

Laut ExpertInnen handelt es sich stets um eine Gratwanderung, für die es keine klare Grenze gibt. "Der Übergang ist fließend", sagt Dr. Wolfgang Gombas, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. "Natürlich gibt es Richtwerte, die messbar sind und Aufschluss darüber geben, wie stark ein Verlangen ausgeprägt ist. Um zu wissen, ob eine Abhängigkeit vorliegt, bedarf es jedoch einer genauen Analyse."


Verlangen nach mehr

Ein Indiz ist die Häufigkeit, mit der etwas konsumiert oder getan wird. Bei Verdacht auf Alkoholismus liefert etwa die Anzahl der Alkoholeinheiten pro Woche einen Hinweis; bei Spielsucht die dafür verwendete Stundenanzahl. Das sei jedoch nur ein Versuch, objektivierbare Kriterien zu finden, so der Experte, in dessen Praxis viele PatientInnen mit Suchtproblemen kommen.

Die Alarmglocken sollten läuten, wenn das tägliche Leben beeinträchtigt wird. Das heißt, wenn Beruf, Gesundheit oder Beziehungen anfangen, darunter zu leiden. Oder wenn finanzielle Einbußen damit verbunden sind, wie es zum Beispiel bei Spielsucht der Fall ist, bzw. sogar eine illegale Beschaffung der Mittel in Erwägung gezogen wird. Dr. Gombas: "Die meisten Betroffenen gestehen sich nicht ein, dass sie süchtig sind. 'Ich habe eh alles im Griff', ist eine normale Reaktion." Das Problem ist jedoch, dass das Verlangen immer größer wird und ein Ausstieg aus eigener Kraft selten gelingt.


Unterschiede

Es gibt zwei Arten von Süchten: Erstens die Sucht nach einer greifbaren Substanz, wie Alkohol, Nikotin, Medikamenten oder Drogen, und zweitens jene, die auf ein Verhalten begründet ist. Das ist etwa bei Spiel-, Kauf-, Sex- oder Magersucht der Fall. Aus diesem Grund spricht man auch von einer stofflich gebundenen und einer verhaltensbezogenen Sucht. Bei beiden geht es um die Befriedigung eines Verlangens, was gleichzeitig aber auch den Verlust von Kontrolle bedeutet.

"Von einer Abhängigkeit spricht man dann, wenn Entzugsbeschwerden auftreten, weil eine Substanz nicht vorhanden ist oder ein Verhalten nicht ausgelebt werden kann. Das lässt sich persönlich überprüfen", beschreibt der Psychotherapeut. Drei Ausprägungsformen sind dafür ausschlaggebend: Abhängigkeit kann psychisch oder physisch sein und ist mit einer Toleranzbildung verbunden. Psychische Abhängigkeit macht sich durch ein Verlangen nach einer Substanz oder einem Verhalten bemerkbar. Beispiel: Es werden die Minuten gezählt, bis dem Verlangen nachgegeben werden kann. Physisch abhängig zu sein zeigt sich in Entzugserscheinungen, die sich in Form von Schwitzen, Unruhe, Kopfschmerzen oder Andauernd-daran-denken-müssen äußern. Bei der Toleranzbildung geht es um eine Schwelle, die erreicht wird und sich weiter verschiebt. Mit anderen Worten: Der Körper braucht immer mehr, um den gewünschten Zustand herzustellen.


Abhängigkeit und Zwangsstörung

Der Begriff Sucht wird oft umgangssprachlich verwendet, gemeint sind damit verschiedene medizinisch-psychologische Krankheitsbilder. Vom Ursprung her stammt das Wort von "siechen", was das Leiden an einer Krankheit ausdrückt. Die Fachwelt spricht eher von einem Abhängigkeitssyndrom (bei einer substanzgebundenen Abhängigkeit) und einer Zwangsstörung oder Verhaltenssucht (bei einer nicht substanzgebundenen Abhängigkeit).

Erst im 20. Jahrhundert entstand der moderne Suchtbegriff, der sich zunächst nur auf die Trunksucht bezog - auch als Alkoholkrankheit bezeichnet. Vor rund 50 Jahren ersetzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diesen Begriff durch Missbrauch und Abhängigkeit. Die verschiedenen Abstufungen und eine Klassifizierung sämtlicher Krankheiten finden sich in der ICD-10. Die Abkürzung steht für die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (engl.: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems).


Gesellschaftliches Phänomen

Als gesellschaftliches Phänomen befindet sich das Thema Sucht in einem steten Wandel. Davon ist Christoph Lagemann, Leiter des Instituts Suchtprävention in Linz, überzeugt. "Wir kämpfen heute mit anderen Problemen als noch vor zehn Jahren. Damals war die Internet-Spielsucht kein Thema. Und auch die Drogen haben eine eigene Entwicklung hinter sich. Waren für die 1970er-Jahre eher sanfte Rauschmittel wie Opiate typisch, sind heute vor allem schnelle Drogen wie Amphetamine und Kokain gefragt."

Seiner Ansicht nach definiert jede Epoche, was das aktuelle Problem ist. Auch was bequem ist und was nicht. "Es findet dabei eine gesellschaftliche Bewertung statt, die sich stetig wandelt." So habe früher beispielsweise Rauchen geradezu als schick gegolten. Ob auf Fotos oder in Hollywood-Filmen - Frauen wie Männer hielten regelmäßig demonstrativ eine qualmende Zigarette in der Hand.

Der Alkoholkonsum dagegen sei seit den 1970er-Jahren im Abnehmen begriffen - außer bei Jugendlichen. Die exzessiven Auswüchse rund um das Koma-Saufen sorgten zuletzt immer wieder für Schlagzeilen.


Schnelle emotionale Befriedigung

"Die Sucht ist die Abkürzung zu einem erwünschten Zustand, den man sonst nur langwierig herstellen kann. Es ist eine emotionale Befriedigung, die Beruhigung oder Glücksgefühle auslöst, allerdings nicht lange anhält. Dann ist ein Nachschub notwendig", erklärt Dr. Wolfgang Gombas. Damit soll nicht zuletzt ein Zustand der Leere überwunden werden.

Der Experte bemerkt bei süchtigen Menschen oft die Unfähigkeit, negative Gefühle anders zu bekämpfen. Als Ursache nennt er ein emotionales Manko, das in den meisten Fällen seine Wurzeln in der Familie hat. Wenn man etwa im Elternhaus nicht gelernt hat, mit Problemen zurechtzukommen oder Strategien zu deren Bewältigung zu entwickeln.


Geringer Selbstwert

Für Lagemann steckt hinter Sucht nicht zuletzt ein zu geringes Selbstwertgefühl. "Das ist eines der Schlüsselelemente wie auch die Entwicklung von Lebenskompetenzen, zu denen die Bereitschaft zählt, Konflikte zu lösen." So sei auch das Umfeld, in dem man lebt, wichtig - Familie, Beruf und die Gesellschaft. Sucht spielt sich demnach in einem Dreieck aus Persönlichkeit, Suchtmittel bzw. Verhalten und Umfeld ab.


Verbogene Wahrheit

Dabei versucht der Süchtige, Normalität vorzutäuschen. Er beginnt zu lügen und die Wahrheit zu "verbiegen", er baut ein regelrechtes Lügenkonstrukt auf. Dr. Gombas: "Der Betroffene schlüpft - unabhängig, wie alt er ist - wieder in die Rolle des Kindes, das der elterlichen Kontrolle zu entkommen versucht." Wird er ertappt, reagiert er mit Schuldbewusstsein und Scham. Wird die Sucht einmal offensichtlich, reagieren Angehörige meist mit Hilflosigkeit. Sie wollen helfen, sind aber oft ohnmächtig, weil sie nicht wissen, wie. "Professionelle Hilfe zu holen, ist ganz wichtig, statt selbst herumzudoktern", empfiehlt der Präventions-Experte Lagemann. Österreichweit gibt es ein dichtes Beratungsnetz mit Anlaufstellen in den einzelnen Bundesländern, die viel Erfahrung im Umgang mit Sucht haben. Auch die Psychotherapie kann helfen, wobei die Familie einen wichtigen Part hat. "Verwandte können ein Bewusstsein für die Sucht schaffen, müssen jedoch dranbleiben, weil einerseits Kontinuität gefragt und andererseits eine isolierte Betrachtungsweise nicht möglich ist. Gemeinsam werden Strategien erarbeitet, etwa klare Grenzen zu ziehen. Kontrolle ist dabei für den Erfolg ganz wichtig", so Dr. Gombas.


Prävention

In der Fachwelt wird nach primärer und sekundärer Sucht differenziert. Im ersten Fall sind die beschriebenen Ausprägungsformen (psychische, physische Abhängigkeit und Gewöhnung daran - Toleranzbildung) die Kennzeichen dafür. Bei der sekundären Sucht liegt dagegen nicht selten eine Störung vor, die sich in Depression oder Ängsten äußert. Lagemann: "Mithilfe des Suchtmittels oder des Suchtverhaltens wird versucht, die Störung in den Griff zu bekommen. Sucht wird also als eine Art Medikament verwendet."

Mit Prävention, so sein Anliegen, kann einer Sucht vorgebeugt werden. "Wichtig ist es, Kinder schon von klein auf stark zu machen. Wenn ihr Selbstwert entsprechend groß ist und sie Lebenskompetenzen aufbauen konnten, sind sie gegen eine Suchtsituation quasi immun." Seiner Meinung nach ist man nicht zufällig abhängig. Die gesamte Persönlichkeit sei defizitär. Und aus dem Mangel heraus entsteht der Wunsch, aus dem Dilemma zu entfliehen - mithilfe der Sucht.


Gesundheitspolitik

Mit seinem Institut Suchtprävention (www.praevention.at) arbeitet Lagemann auf breiter Ebene mit Institutionen beziehungsweise Personen zusammen, die Erziehungsarbeit leisten, wie KindergartenpädagogInnen, LehrerInnen, Jugend- oder LehrlingsbetreuerInnen. In einem regelmäßigen Erfahrungsaustausch soll seriöse Aufklärung betrieben werden, etwa durch Informationen über die verschiedenen Substanzen, die im Umlauf sind, oder typische Verhaltensmechanismen.

Christoph Lagemann ist dabei unzufrieden, wie mit Gesundheit umgegangen wird. Eine konsequente Gesundheitspolitik fehle. "Es wird im Gesundheitsbereich zu wenig Geld für Prävention zur Verfügung gestellt. Die Ausgaben dafür liegen laut letzter OECD-Studie bei 1,9 Prozent. In Europa werden dafür durchschnittlich drei Prozent ausgegeben."


SÜCHTE AUF BASIS VON SUBSTANZEN
(stofflich gebundene Süchte)

Alkohol: Wirkt in kleinen Mengen enthemmend und auflockernd, in größeren Mengen schlafanregend und schmerzlindernd, fördert Risikobereitschaft und Aggressivität.
Nikotin: Hauptwirkstoff von Tabak; ist ein starkes Gift und macht psychisch abhängig. Nikotin erhöht die Wachheit, hebt leicht die Stimmung.
Medikamente: Bei Missbrauch als Droge ist das Abhängigkeitspotenzial meist sehr hoch. Dazu zählen Barbiturate, Ketamin, Nasenspray, Benzodiazepine, Antidepressiva.
Legale Drogen: Die Liste der legal erwerbbaren Drogen, wie Energy Drinks, Koffein oder Lachgas, ist lang. Im Mittelpunkt steht der Rauschzustand.
Illegale Drogen: Substanzen wie Ecstasy, Amphetamine, Crack, Kokain, Heroin.

DIE HÄUFIGSTEN VERHALTENSSÜCHTE
(stofflich nicht gebundene Süchte)

Internetsucht: In Amerika erstmals 1995 als Internet Addiction Disorder (IAD) beschrieben. Es kann sich eine süchtige Verhaltensstörung entwickeln.
Spielsucht: 1991 nahm die WHO das pathologische Spielen in die ICD-1O auf. Die Störung führt zu sozialem Verfall und finanziellem Ruin.
Essstörungen: Psychosomatische Erkrankungen mit Suchtcharakter. Es geht um zwanghaftes Essen oder Nicht-Essen (Mager-, Ess-Brech-, Esssucht ohne Erbrechen).
Kaufsucht: Im Kaufen wird Anerkennung und Bestätigung gesucht, als Ausgleich zu innerer Leere. Eher unauffällige Sucht, bleibt oft lange unerkannt.
Sexsucht: Risiko: Familie ohne Vertrauen, Wärme, Ermutigung - dafür Kritik, strenge Regeln, harte Strafen, Verbot von Sexualität. Oft auch Missbrauchsopfer, emotional, sexuell oder körperlich.
Arbeitssucht: Kein offizieller psychiatrischer und psychologischer Begriff, dennoch weit verbreitet. Andere Lebensbereiche werden vernachlässigt.


*


Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Januar 2011, Seite 50-53
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung ÖsterreichsRedaktion: Welt
der Frau Verlags GmbH
4020 Linz, Lustenauerstraße 21, Österreich
Telefon: 0043-(0)732/77 00 01-0
Telefax: 0043-(0)732/77 00 01-24
info@welt-der-frau.at
www.welt-der-frau.at

Die "welt der frau" erscheint monatlich.
Jahresabonnement: 33,- Euro (inkl. Mwst.)
Auslandsabonnement: 41,- Euro
Kurzabo für NeueinsteigerInnen: 6 Ausgaben 10,00 Euro
Einzelpreis: 2,75 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2011