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FRAGEN/003: Celeste Coltellini - "Mozart stand nicht im Zentrum" (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 60 - Ausgabe 2015
Das Forschungsmagazin - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

"Mozart stand nicht im Zentrum"

Interview mit Melanie Unseld von Matthias Echterhagen


Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld über den Nachlass der Sängerin und Zeichnerin Celeste Coltellini - und was er über die Musikkultur um 1800 aussagt


Celeste Coltellini war zu ihrer Zeit eine berühmte Sängerin, sie lebte von 1760 bis 1828 - und sie war Teil der Musikkultur Wiens um 1800, mit der wir heute überlebensgroß den Namen Mozart verbinden. Doch sie war nicht nur Sängerin, sondern auch Zeichnerin. Nun ist ihr Nachlass erstmals der Forschung zugänglich gemacht worden. Worin besteht der Nachlass genau?

Der besonders interessante Kern des Nachlasses von Celeste Coltellini besteht aus einem Konvolut von sechs Skizzenbüchern. Die Familie, die mir diese Skizzenbücher dankenswerterweise zugänglich gemacht hat, hat schon immer großen Wert darauf gelegt, zu dokumentieren, dass die weiblichen Familienmitglieder über mehrere Generationen hinweg künstlerisch tätig waren. Celeste Coltellini war eine von ihnen. Ihre Skizzenbücher konnten wir nun auswerten - Carola Bebermeier, Doktorandin an meinem Lehrstuhl, hat darüber ihre Dissertation verfasst.

Können denn auch Bilder Quellen für die Musikwissenschaft sein?

Ja, unbedingt. Dabei brauchen wir aber den Austausch zwischen den Disziplinen: Wir haben hier im Haus eine sehr avancierte Kunstwissenschaft, die an den Umgang mit visueller Kultur neue Fragen stellt. Sie geht davon aus: Visuelles ist nicht sofort evident, sondern Bilder "geben" etwas "zu sehen". Aber sie können auch etwas verbergen. Es ist ein Ansatz, der die Bilder nicht auslesen will, sondern als Teil eines Verstehensprozesses begreift. Dies ist produktiv auch für die historische Musikwissenschaft. Denn auch für sie ist es wichtig, Bilder nicht illustrativ zu verwenden. Sondern sie als Teil des Verstehensprozesses zu begreifen und sie in ihrer Eigengesetzlichkeit fruchtbar zu machen.

Und mit diesem Ansatz gehen Sie auch an die Skizzenbücher heran - welche Bedeutung hat der Fund denn für Ihre musikhistorischen Forschungen?

Die Skizzenbücher geben Aufschluss über die ganz spezifische Musikkultur der Zeit um 1800. Coltellini war mit vielen Menschen verbunden - wir erhalten Einblicke in ihren Alltag als Sängerin und als Kulturvermittlerin, denn sie war ja lange in Neapel Prima donna, ging aber zeitweise auch nach Wien. Und inspiriert von der musikwissenschaftlichen Genderforschung fragen wir: Was macht musikkulturelles Handeln wirklich aus? Denn in den Skizzenbüchern ist eine andere Wertigkeit der handelnden Personen erkennbar: Nicht der Komponist steht im Zentrum, sondern das Ereignis Oper, an dem sehr viele unterschiedliche Personen beteiligt sind. Damit sehen wir: Das Phänomen Oper erschöpft sich nicht in dem Handeln berühmter Komponisten, sondern diese sind Akteure innerhalb einer ganzen Gruppe. Musik geht also nicht allein in dem auf, was der Komponist zu Papier bringt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Es gibt eine Zeichnung Coltellinis, die den Komponisten Giovanni Paisiello zeigt, wie er der Sängerin Coltellini, die am Cembalo sitzt, zuhört. Eine weitere Person, von der wir nicht wissen, wer es ist, hört ebenfalls zu. Der Komponist ist hier Teil eines Handlungsfelds, in dem die Sängerin einen mindestens ebenso aktiven Part hat. Und genau darum geht es: Nicht das Werk ins Zentrum zu stellen, sondern das Ereignis. Ob bei der Probe oder auf der Bühne, wo jeder seinen Teil beisteuert - die Sänger und Sängerinnen, der Kapellmeister, der Komponist, der Librettist, der Impresario, der dafür sorgt, dass alle zu tun haben, der Bühnenarbeiter und so weiter.


Sind sich Mozart und Coltellini denn auch begegnet?

Ja, nachweislich. Celeste Coltellini war eine Opera buffa-Sängerin. In Neapel war sie zehn Jahre lang unangefochtene Prima donna. Joseph II. war aber für seine Wiener Bühnen immer auf der Suche nach besonders guten Gesangskräften und holte sie direkt von den besten italienischen Bühnen. So kam Coltellini nach Wien und hatte zunächst eine sehr erfolgreiche Saison. Auch für eine zweite Saison war sie in Wien, allerdings war diese weniger erfolgreich. Die Umstände sind etwas unklar. Sie kam zu spät in der Stadt an und konnte an manchen Proben nicht teilnehmen. Die Quellen geben uns nicht genug Auskunft über die näheren Umstände. Aber wir wissen: In dieser Saison standen die beiden miteinander in Kontakt, denn Mozart hat für Coltellini komponiert.


Wie muss man das verstehen?

Die Aufführung einer Oper im 18. Jahrhundert folgte nie ausschließlich der Partitur. Vielmehr waren es die Sänger und Sängerinnen, allen voran der Primo uomo und die Prima donna, die bestimmten, was gesungen wurde. Denn einerseits wurden die Partien von den Komponisten den Sängerinnen und Sängern genau "auf den Leib geschrieben", andererseits konnten die Sängerinnen und Sänger sogenannte Einlage-Arien in die Oper einfügen. Daher bekamen Komponisten immer wieder den Auftrag, Einlage-Arien zu komponieren. Auch Coltellini kam mit einem solchen Auftrag zu Mozart, er schrieb für sie mehrere Ensembles für Opern, in denen sie in Wien aufgetreten ist. Voraussetzung dafür, dass er ihr diese Partien "auf den Leib" schreiben konnte, war, dass er ihre Stimme gut kannte. Sie sind sich also begegnet. Möglicherweise saß auch Mozart - ähnlich wie Paisiello - neben ihr am Cembalo.


Weisen auch die Skizzenbücher auf diese Begegnung hin?

Eines der Skizzenbücher hat Coltellini geführt, als sie zum zweiten Mal in Wien engagiert war. Und in diesem Buch ist die Adresse jenes Hauses vermerkt, in dem Mozart in der Zeit gewohnt hat. Mozart hatte für wenige Monate eine Wohnung gemietet, die damals auf dem Land lag. Heute ist das natürlich Stadtgebiet. Aber für damalige Verhältnisse war es etwas außerhalb. Der Wohnraum war deshalb größer und bezahlbarer.


Stellt Coltellini ihre Begegnung mit Mozart auch zeichnerisch dar?

In ihrem Wiener Skizzenbuch gibt es sehr viele Seiten, die mehrere Profilköpfe zusammenstellen. Es sind skizzierte Begegnungen. Auf einem dieser Blätter findet sich ein Profilbild, das in der Familienüberlieferung als Mozartportrait gewertet wird. Wir sind dieser Frage genauer nachgegangen und können Indizien nennen, die diese Annahme bekräftigen: Leonhard Posch war damals ein berühmter Medailleur, er hat das sogenannte Gürtelschnallen-Relief von Mozart erstellt. Die Ähnlichkeit von Coltellinis Zeichnung mit diesem Relief ist verblüffend. Dies und weitere Indizien sprechen dafür, dass es sich bei der Zeichnung um Mozart handelt. Letztendlich belegen können wir es aber nicht.


Was für Ihre musikhistorischen Forschung auch eher ein nebensächlicher Aspekt ist.

Genau, es handelt sich um ein kleines Bild in einem ganz großen Konvolut. Wenn wir alles auf die Frage reduzieren, ob es wirklich Mozart ist, schrumpft Coltellini als Bedeutungsträgerin wieder zusammen. Möglicherweise ist es ein Portrait von Mozart. Wir haben guten Grund, das anzunehmen. Doch selbst wenn wir die Sicherheit hätten, ist es natürlich nicht Mozart, sondern ein Bild, das Coltellini sich von einem Musiker machte, dem sie in Wien begegnet ist. Deswegen ist die Frage, ob es ein Mozartbild ist, die falsche Frage, die wir an diese Quelle richten können.

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Quelle:
Einblicke Nr. 60, 30. Jahrgang, Seite 8 - 9
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2016

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