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HINTERGRUND/154: Von Göttinnen und Gesängen - historische Retrospektive zu Indien (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 110, 4/09

Von Göttinnen und Gesängen
Eine historische Retrospektive zu Indien

Von Sarita Jenamani


Die musikalische Bandbreite in Indien und dem restlichen Südasien reicht von einfachen Melodien, wie sie bei den Bergvölkern zu finden sind, bis zu einem der bestentwickeltsten Systeme klassischer Musik weltweit. Im Folgenden ein Überblick über die Rolle der Frauen in verschiedenen Bereichen der Musik Indiens.


Die ältesten erhaltenen Beispiele indischer Musik sind die Melodien aus dem Samaveda(1), die noch immer in bestimmten vedischen Opferritualen gesungen werden. Die Tradition klassischer Musik in Indien ist stark von hinduistischen Schriften beeinflusst. Ihre Geschichte erstreckt sich über Jahrtausende und wurde während verschiedener Epochen entwickelt.


Eine Göttin für die Liebe zur Musik

Das Verhältnis von Frauen und Musik in Indien kann bis 2000 vor Christus zurückverfolgt werden. Im Rig-Veda(1) ist Saraswati die Göttin des Wissens, der Musik und all der schöpferischen Künste. Saraswati repräsentiert für Hindus Wissen, Kreativität, Bildung, Musik, Kunst und Macht. Sie wird üblicherweise mit vier Armen dargestellt, die die vier Veden, die heiligen Schriften der InderInnen, symbolisieren. Sie hält auch die Vina, ein Musikinstrument, das die Perfektion aller Künste darstellt. Sie steht zudem für die Liebe zur Musik und zum Rhythmus, der alle Emotionen repräsentiert, die in Musik oder Sprache ausgedrückt werden.

Im alten Indien waren oft die Ehefrauen der Gelehrten dafür verantwortlich, den SchülerInnen Musik und Tänze zu lehren. Der Rig-Veda erwähnt die Autorität der Frauen in religiösen Unterweisungen über Göttinnen und Hymnen. Das wahrscheinlich mächtigste Mantra, das Gayatri-Mantra, ist ein weibliches Mantra, genauso wie der Gesang, der eine von Glück erfüllte Beziehung zwischen Mann und Frau während der hinduistischen Hochzeitszeremonie beschwören soll.

Mit dem Aufkommen des Brahmanismus(2) verschlechterte sich die Situation der Frauen in der indischen Gesellschaft und im Laufe der Zeit erwähnten die religiösen hinduistischen Texte nur noch die Apsaras (himmlische Hoftänzerinnen) als Darbieterinnen von Musik und Tanz. Während der Maurya-Dynastie wurde Musik nur von Nagarbadhus, von Kurtisanen, öffentlich vorgetragen. Die soziale Verbindung von indischen Frauen und Musik konzentrierte sich auf Riten und Rituale wie Geburt, weibliche Initiation, Heirat und Kindererziehung sowie Klage beim Tod eines Familienmitglieds. Während die Vokal-Musik als Teil des häuslichen Rituals bestehen blieb, wurde die Darbietung von Gesang oder instrumenteller Musik von den Devadasis, den Tempel- und Hoftänzerinnen, dominiert. Devadasis waren als Ehefrauen des Gottes dem Tempel geweihte Frauen, deren Aufgabe es war, während der täglichen Rituale und Tempelfeste vor den Götterbildern zu singen und tanzen, aber oft dienten sie dem Vergnügen des lokalen Herrschers. Generell singen sie Liebeslieder oder sinnliche Gesänge zu Ehren der Tempelgottheiten oder ihres Patrons.


Historische Umbrüche

Die Rolle der indischen Frauen in der Musik ist aufgrund der komplexen und heterogenen Beschaffenheit der indischen Gesellschaft und Kultur etwas schwierig zu bestimmen. Hunderte Jahre lang war Musik im Subkontinent männlich dominiert. Im 16. Jahrhundert beschlossen einige der großen Dichter-Heiligen, in den Volkssprachen zu kommunizieren, was in Indien zu einem großen Umbruch und zur Bhakti-Bewegung führte, die für eine emotionale Beziehung zwischen Mensch und Gott und gegen die Macht der Tempel und Priester eintrat. Hier müssen Meerabai aus Rajasthan, Akka Mahadevi aus Karnataka und Lal Ded aus Kashmir erwähnt werden. Diese Dichterinnen waren berühmt dafür, ihre eigenen Verse in der Öffentlichkeit zu singen. Meerabai, die einer der königlichen Familien im indischen Staat Rajasthan angehörte, musste wegen ihrer öffentlichen Auftritte das Haus ihrer Schwiegereltern verlassen.

Die Frauen, die an der Darbietung von Vokal- oder Instrumental-Musik beteiligt waren, erfuhren nur selten dieselbe individuelle Anerkennung wie ihre männlichen Kollegen. In Nordindien erlaubten die Regeln der Ausbildungsstätten, der Gharanas, und die Familientraditionen der Musiker den Frauen niemals, die Position von Unterrichtenden einzunehmen, ihre Rolle war auf die der Tänzerinnen beschränkt. Diese Frauen haben jedoch innerhalb eines strengen Sozialgefüges über mehr Freiheiten verfügt als andere, trotzdem waren sie wegen der sozialen Normen und Gegebenheiten Ausgestoßene. In der indischen Literatur wurden sie oft als kalavant, ganika, tawaif und Nutch-Mädchen bezeichnet. Diese Musikerinnen wurden meist in eine der Musik und dem Tanz verschriebene Familie hineingeboren, sie zeigten bereits früh außergewöhnliches Talent für Musik und Tanz, sie hatten für gewöhnlich einen Mäzen und sie heirateten nicht. Ihre Musik wird oft mit Sexualität in Verbindung gebracht.


Künstlerinnen erobern männlich dominierte Genres

Die britische Besatzungsmacht schärfte der indischen Gesellschaft ein, dass von professionellen Künstlerinnen ausgeübte Tänze und Musik unmoralisch seien und verboten werden sollten. Gesetze und Reformen wurden im ganzen Subkontinent eingeführt, um professionelle Darstellerinnen "respektabel" zu machen, aber einige Frauen argumentierten, dass erzwungene Gesetze wie der Nauch Act (ca. 1920) diskriminierend wären und ihren Ruf als Künstlerinnen sowie den ihrer Mäzene ruinierten.

Ende der 1920er Jahre begann man in den Ghanaras, den Ausbildungsstätten des nordindischen Musikstils, auch Schülerinnen zu akzeptieren. Die dortigen Schülerinnen waren oft durch Verwandtschaft verbunden. Dies war ein Schritt hin zur Wertschätzung von Frauen bei der Darbietung klassischer Musik auf der Konzertbühne, was bis dahin eine männliche Domäne war. Musikerinnen begannen nun, "höhere" klassische Formen der Musik in ihr Repertoire einzubeziehen. Zu Beginn der späten 1930er Jahre wurden Musikausbildungsprogramme, teilweise aufgrund der Frauen- und nationalistischen Bewegung, für Amateurinnen aus der Oberschicht zugänglich. Zur selben Zeit mussten professionelle Künstlerinnen, die durch den Niedergang der feudalen Mäzenenschaft und durch die zunehmende Konkurrenz bedrängt wurden, oft Kompromisse auf künstlerischer (und persönlicher) Ebene eingehen, um ihr Publikum zu behalten - oder sie mussten den Beruf aufgeben.

In den späten 1950er Jahren marginalisierten Polizeirazzien bei musikalischen Darbietungen in Rotlichtvierteln - wie dem von Lucknow - die Frauen dieser Communities noch zusätzlich. Nichtsdestotrotz überwanden einige außergewöhnliche Künstlerinnen wie Begum Akhtar, Siddheshwari Devi und Gangubai Hangal das Stigma ihrer Herkunft und standen in ihrer Akzeptanz als Künstlerinnen ihren männlichen Kollegen in nichts nach.

In den späten 1960er Jahren erlebten einige Instrumentalistinnen wie Sharan Rani (Sarod), Jaya Biswas (Sitar), Kalyani Roy (Sitar) und N. Rajan (Geige) einen Aufstieg. Frauen wie diese kämpften dafür, dass ihre Stimmen in einer musikalischen Landschaft Gehör fanden, in der die Verschiedenheit der Nuancen noch viel subtiler ist als in der Vokalmusik: In der so bewunderten Film- und Unterhaltungsmusik haben die Mangeskar-Schwestern in Indien einen Meilenstein gesetzt. Zu guter Letzt war der Aufstieg der aus Pakistan stammenden Abida Parween in der männlich dominierten Sufi-Musik ein weiterer Einschnitt in der Tradition des indischen Subkontinents.

Heute ist es in Südasien nicht ungewöhnlich für einen Mann, unter einer Meisterin zu lernen, egal ob Gesang oder ein Instrument. Zu Beginn des neuen Jahrtausends brechen junge Frauen mit Konventionen, indem sie mit Instrumenten, die vormals ausschließlich von Männern gespielt wurden, große Erfolge erzielen. Zu ihnen zählen Aruna Narayan-KaIle (Sarangi), Anuradha Pal (Tabla), Sukanya Ramgopal (Ghatam) und viele andere Frauen, die zu diesen feineren Ausdrucksweisen beitrugen.


Anmerkungen:

(1) Der Samaveda ist einer der vier heiligen Texte des Hinduismus und heißt übersetzt wörtlich "Wissen von den Gesängen". Die ältesten Teile werden auf ca. 1000 v. Chr. datiert. Der Rigveda ist der älteste Teil der vier Veden und heißt wörtlich "Wissen".

(2) Als Brahmanismus wird der Vorläufer des Hinduismus bezeichnet, die Religion, die in Indien ca. 800 bis 500 v. Chr. dominierend war.


Lesetipps:

Tracy Pintchman (ed): Performing art & reforming rituals: women and social change in South India, women's lives, women's rituals in the Hindu tradition (New York 2007).

Jennifer Post: Professional women in Indian music: the death of the courtesan tradition. in: Ellen Koskoff )ed.): Women and music in cross-cultural perspective (New York 1989). http://www.religionhindu.co.cc/Hindu-Goddesses/Goddess-Sarasvati/


Zur Autorin:

Sarita Jenamani studierte Wirtschaft in Indien und Österreich. Sie publizierte einige mehrfach ausgezeichnete Gedichtbände in Deutsch, Hindi und ihrer Muttersprache Oriya, in die sie zudem zahlreiche Bücher übersetzte. Seit 2005 ist sie auch Radioredakteurin bei Women on Air. Sie lebt und arbeitet in Wien.


Übersetzung aus dem Englischen: Bettina Moser


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 110, 4/2009, S. 10-11
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Senseng 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2010