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HINTERGRUND/194: Rap in Tunesien: Revolution oder Evolution? (inamo)


inamo Heft 74 - Berichte & Analysen - Sommer 2013
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Rap in Tunesien: Revolution oder Evolution?

von Eva Kimminich



Rap ist eine prototypische Ausdrucksform für Unzufriedenheit, Kritik und Forderung. Er entwickelte sich Anfang der 1970er Jahre gemeinsam mit der Kunst des DJing, B-Boying, Beatboxing und Graffiti als die verbale Komponente der Hip-Hop-Kultur. Entstanden sind Hip Hop und Rap in den schwarzen Ghettos der South Bronx New Yorks aus dem Erbe subkultureller musikalischer Ausdrucks - und Protestformen afroamerikanischer Bevölkerungsgruppen und Latino-Minderheiten. Im selben Jahrzehnt entstand in den Ghettos von Los Angeles und San Francisco der Sogenannte Gangsta-Rap. Er griff die Ängste und Projektionen der Weißen auf und verkörperte sie mit seinen Ghettoheroen und Pimps. Die Gewalt inszenierenden und sexistisch frauenfeindlichen Subgenres ließen sich auf dem sich globalisierenden Musikmarkt gut verkaufen und prägten das Bild dieses Musikgenres. Jenseits der medialen Inszenierung wurde Rap mit Rassenkampf und spezifischen Lebensphilosophien und Ideologien verbunden. Louis Farrakhan vereinnahmte ihn in seiner Nation of Islam, Afrika Bambaataa nutze ihn zur Gründung seiner durch den Rastafarianismus geprägten Universal Zulu Nation und KRS-One (Knowledge Rules Supreme over Everyone) setzte ihn für seine Stop-the-Violence-Bewegung ein, mit der das Rapping zum Edutainement erhoben wurde. Die 1974 von Bambaata gegründete Zulu Nation sollte mit seiner 21 ethische Verhaltensregeln umfassenden Charta den damals den Höhepunkt der Selbstzerstörung erreichenden Bandenkriegen in den Metropolen der Ostküste entgegenwirken. Bambaataa hatte eine ethnische wie nationale Barrieren überschreitende Bewegung ins Leben gerufen, die sich seit Mitte der 1980er Jahre weltweit als Message oder Conscious Rap weiterzuentwickeln begann. Mit der kreativen Wortarbeit des Conscious Rap lassen sich das Selbst- und das gesellschaftspolitische Bewusstsein ethnischer Minderheiten oder benachteiligter Bevölkerungsgruppen stärken und Kritik an gesellschaftspolitischen Lebensbedingungen formulieren. Es bilde(te)n sich landes- und kulturspezifische Szenen heraus, die im Rahmen der jeweiligen soziopolitischen und sozioökonomischen Lage agier(t)en.

Während in den USA und den europäischen Ländern mit hoher Immigration, Rap überwiegend Von Jugendlichen mit Migrationshintergrund praktiziert wird, um ihre Situation zu thematisieren, aber auch um Spaß zu haben oder Geld zu Verdienen, wurden im Maghreb und in Westafrika Ende der 1980er vor allem der Conscious Rap aufgegriffen, um die jeweiligen gesellschaftspolitischen Zustände zu kritisieren und entsprechende Forderungen zu stellen. In Algerien beispielsweise wurden Gruppen wie Intik und MBS (Le micro brise le silence) aktiv. Im Senegal und Mali war und ist Rap in bedeutender Weise am Demokratisierungsprozess beteiligt. Die Rapper setzen ihre Songs gezielt zu einer conscientisation der Bevölkerung und im Senegal zu einer Mobilisierung ein (siehe dazu Kimminich 2013).

In Tunesien hat sich Rap seit Ende der 1990er Jahre bereits unter dem autokratischen Regime Zine El Abidine Ben Alis etabliert. Aufgrund von Zensur und Versammlungsverbot blieb er im Verborgenen und konnte sich als Musikszene nicht entfalten. Dennoch traten Rapper in der Öffentlichkeit auf, wie der in der Vorstadt von Tunis, Sidi Hsine, aufgewachsene Mohamed Salah, alias Balti. Er sprach in seinem Song "Rayah Wayne" aus, was viele junge Tunesier fühlten: "Wo soll ich denn hin, wo soll ich hin mit meiner Wut. / Ich will meine Würde und ich werde meinen Kaffee in Europa trinken. / Ich gehe, um mein Glück zu machen, das ich hier nicht finden kann. / Ich hole mir, was mir zusteht, und all das, was man mir hier gestohlen hat." Von den Zensurbehörden bedroht, wich Balti wie andere Rapper auf die neuen Technologien aus und stellte seine Songs als Youtube-Videos ins Netz. Auch der in Sfax Studierende Samir Abdmouleh, genannt L'Imbattable, wagte es bereits 2007 ein Konzert in einem Hotel in Tunis (Mechtel) zu geben, was wie üblich, nur in Anwesenheit von Polizisten möglich War. Er schilderte uns, was geschah, als er einen politischen "Song anstimmte: "Ich rappte einen politischen Song, der den Titel 'Contre le Système' trägt. Ich sah zwei Polizisten auf die Bühne kommen. Sie zwangen mich die Bühne zu verlassen und sagten das Konzert bereits nach 10 oder 15 Minuten ab; nur wegen eines Songs oder Ideen, die den Polizisten nicht gefielen." Er erklärte auch, wie Rap in Umlauf gebracht wurde, bevor es Facebook und Twitter gab bzw. welche Kommunikationsmöglichkeiten ihnen diese Netzwerke eröffneten: "Die Songs wurden über Handys verbreitet und in CD-Läden angeboten. Unsere Alben wurden nicht offiziell angeboten, sondern nur als Raubkopien. Ab 2007, 2008 hat uns Facebook enorm geholfen unsere Songs zu verbreiten. Sobald ich einen Song einstelle, bekomme ich hunderte von Kommentaren, alle Leute teilen sich mit. Wir haben die Wahrheit ausgesprochen, eine Wahrheit, die das gesamte System verschwieg." (Interview vom 25. Februar 2013)

Auch andere Rapper wie Psyco-M oder Lak3y, die sich ebenfalls selbst dem Conscious Rap zuordnen, schilderten im Vorfeld des Volksaufstandes im Dezember 2010 in ihren Songs die Lage der jungen Generation: Arbeits- und Perspektivlosigkeit, aber auch Repression und polizeiliche Willkür. So auch der ebenfalls in Sfax lebende Rapper Hamada Ben-Amor, alias El General, dessen Song Raïs Lebled quasi über Nacht zur Revolutionshymne wurde und ihn zum Star machte. Am 7. November, dem Jahrestag der Machtübernahme Ben Alis, stellte El General den Song in Facebook ein. Darin fordert er den Präsidenten auf, sich in seinem Land umzusehen: "Geh auf die Straßen und schau Dich um, dort, wo die Menschen wie Vieh behandelt werden, dort, wo die Polizisten verschleierte Frauen schlagen." Und er benennt die Missstände des Landes: "Die Menschen essen aus Mülltonnen, / viele haben kein Dach über dem Kopf / werden vom Unrecht erdrückt,/ während sich diese Hundesöhne - Sie kennen sie, Herr Präsident - die Taschen vollstopfen. Herr Präsident, dein Volk stirbt. / Das Volk isst Dreck. / Schau, was passiert, / das Elend ist überall." Nach dem Tod Mohamed Bouazizis am 17. Dezember veröffentlichte El General am 22. Dezember einen weiteren Song, Tounes Bladna (Tunesien, unser Land). Am 6 Januar 2011 wurde er wie andere Rapper verhaftet und verbrachte einige Tage im Gefängnis. Nach Ben Alis Sturz wurde Raïs Lebled im lokalen Sender Tunivision und Al-Jazeera übertragen. Jeder kennt den Song, er wurde im In- und Ausland zum Symbol des Volksaufstandes.

Rap hat sich also auch in Tunesien, hier zunächst vor allem vermittels Facebook und Twitter, als wichtiges Medium des Selbstausdrucks, der Kritik, der Information sowie der Solidarisierung bewiesen. Erst während der Revolution wurden die Rapsongs großflächig hörbar und zum Symbol des gesamten Volksaufstandes, obwohl die Rapper selbst nur am Rande beteiligt waren. Als Medium der Bewusstseinsstiftung und Solidarisierung wirkte Rap jedoch bereits im Vorfeld im Verborgenen. Er bot insbesondere der männlichen Jugend Möglichkeiten, sich selbst zu entfalten, ihre Kreativität zu entdecken und ihr Selbstbewusstsein zu stärken, um auszusprechen, was viele sich unter Ben Alis Regime nicht trauten laut zu sagen. Das ist langfristig betrachtet eine bedeutende Evolution gesellschaftlichen Lebens.


Prof. Eva Kimminich, Institut für Romanistik, Universität Potsdam.



Literaturangaben:

Interviews mit Imbattable und El General im Februar 2013, auf: Kulturen im Fokus, Portal für analytische Dokumentationen kultureller Phänomene (www.kulturenfokus.de).

Kimminich, Eva, "Rap und Revolution im Senegal - Vorbild einer sich demokratisierenden Demokratie?" (2013) Auf: Kulturen im Fokus, Portal für analytische Dokumentationen kultureller Phänomene (www.kulturenfokus.de).

Kimminich, Eva, "'Lost Elements' im 'MikroKosmos'. Identitätsbildungsstrategien in der Vorstadt- und Hip-Hop-Kultur." In: Kulturelle Identität: Konstruktionen und Krisen. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003, S. 45-88.

Kimminich, Eva "(Hi)story, Rapstory und 'possible worlds' Erzählstrategien und Körperkommunikation im französischen und senegalesischen Rap." In: Rap More Than Words. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 233-467.

Meddeb, Abdelwahab: Printemps de Tunis. La métamorphose de l'Histoire. Paris: Albin Michel 2011.

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 74, Sommer 2013

Gastkommentar:
- Iran's überraschende Präsidentenwahl. Von Asghar Schirazi

Kunst & Revolution
- Kultur und Revolution in Ägypten. Von Viola Shafik
- Revolution schreiben: Mona Prince und der Tahrir. Von Samia Mehrez
- Mein Name ist Revolution. Von Mona Prince
- Gegen alle Widerstände: Das El Hamra-Theater in Tunis. Von Katharina Pfannkuch
- Politisches Theater in Syrien: Das Zimmertheater. Von Abdellatif Aghsain
- Zeichnerinnen aus Algerien: Rym Mokhtari, Nawel Louerrad. Von Anna Gabai
- Das Kollektiv Zan Studio, Sharek Youth Forum und Nidal el-Khiary. Von Anna Gabai
- Graffiti in Ägypten und Syrien: Wenn Wände schreien. Von Mona Sarkis
- Der politische Kampf mit visuellen Mitteln im Jemen. Von Marie-Christine Heinze
- Widerstandsformen in Marokko: Rap und Straßentheater. Von Hafid Zghouli
- Rap in Tunesien: Revolution oder Evolution? Von Eva Kimminich
- Die Stimme der Frauen - Sawt Nissa. Von Soultana
- Tanzender Widerstand in Tunesien. Von Katharina Pfannkuch
- Syrische Künstler im Widerstand - Gefälschte Realität. Von Inana Othman
- Syrien: Widerstand mit Puppentheater und Plakaten. Von Christin Lüttich
- Kunst als Waffe - Fremd- und Selbstbestimmung. Von Irit Neidhardt

Nachruf
- Erinnerung an «Le Journal». Von Jörg Tiedjen

Syrien
- The Syrian Heartbreak. Von Peter Harling, Sarah Birke
- Die syrische Katastrophe. Von Omar S. Dahi
- Die Koalition - ein «verächtliches Schauspiel». Interview

Tunesien
- Lagerware Mensch - UNHCR und EU-Migrationsregime. Von Marvin Luedemann

Türkei
- Der Gezi-Aufstand «Verflucht seien ... manche Dinge!» Von Corinna Eleonore Trogisch

Mali
- Friedenspreis für Krieg in Mali. Von Jörg Tiedjen

Sudan
- Der Einbruch nach dem Durchbruch. Von Roman Deckert, Tobias Simon

Wirtschaftskommentar
- Die versteckte Krise der Golf-Staaten

Zeitensprung
- Der Unbeugsame: George Ibrahim Abdallah. Von Jörg Tiedjen

ex mediis
- W. Blum: Bewaffnete Interventionen | J. Graf, Weibliche Genitalverstümmelung und Medizinethik. Von Matin Baraki, Nils Fischer

Nachrichtenticker

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Quelle:
INAMO Nr. 73, Jahrgang 19, Frühjahr 2013, Seite 38 - 40
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
Herausgeber: Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2013