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BERICHT/057: Die Sternwarte Pulkowo - Der Stolz der russischen Astronomie (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 11/10 - November 2010
Zeitschrift für Astronomie

Die Sternwarte Pulkowo
Der Stolz der russischen Astronomie

Von Volker Witt


Die im Jahr 1839 in Pulkowo bei Sankt Petersburg gegründete Nikolai-Hauptsternwarte gelangte im 19. Jahrhundert zu hohem Ansehen. Zu diesem Erfolg trugen die beiden deutsch-russischen Astronomen Wilhelm und Otto Struve mit ihren legendären Messungen von Sternpositionen wesentlich bei. Im 20. Jahrhundert durchlebte das Observatorium, bedingt durch Revolution, Krieg, Zerstörung und politische Wirren, ein äußerst wechselvolles Schicksal.


Wenn wir etwas mehr als 180 Jahre zurück in das zaristische Russland blicken, ist die Akademie der Wissenschaften in der damaligen russischen Hauptstadt Sankt Petersburg um das Jahr 1827 gerade dabei, Pläne für die Neuerrichtung eines astronomischen Observatoriums auszuarbeiten. Es sollte die nicht mehr zeitgemäße Sternwarte ersetzen, die bisher in der Petersburger Innenstadt, in der so genannten Kunstkammer, untergebracht war.

Der in Altona geborene Friedrich Georg Wilhelm Struve (1793-1864) hatte schon im Alter von 15 Jahren seine Heimatstadt verlassen und sich in das damals zum russischen Reich gehörende Estland begeben, um an der Universität von Dorpat (heute Tartu) zunächst Philologie und Mathematik zu studieren. Anschließend widmete er sich dem Studium der Astronomie, das er bereits nach zwei Jahren mit der Promotion abschloss. Im Jahr 1813 erhielt Struve die Observatorenstelle an der erst seit 1804 bestehenden Dorpater Sternwarte und übernahm im Jahr 1820 auch deren Leitung. Vor allem seine dort mit dem legendären Fraunhofer-Refraktor durchgeführten präzisen Positionsbestimmungen von Doppelsternen trugen ihm bald ein hohes internationales Ansehen ein.

Nach der Rückkehr von einer Reise zu den damals führenden Observatorien Europas berichtete Struve dem Zaren Nikolaus I. in Sankt Petersburg über seine neu gewonnenen Eindrücke und Erfahrungen. Der Zar übertrug dem erfolgreichen Astronomen nicht nur die Planung der neu zu bauenden Sternwarte, sondern auch deren zukünftige Leitung. Wilhelm Struve - inzwischen auch ordentliches Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften - lenkte nun von Dorpat aus die Vorbereitungen zum Bau des neuen Observatoriums. Am 21. Juni 1835 wird in Pulkowo, 19 Kilometer südlich von Sankt Petersburg, auf einem 75 Meter hohen Hügel der Grundstein für die Sternwarte gelegt. Bereits im August 1839 ist der von dem Architekten Alexander Brüllow (1798-1877) entworfene Bau der Nikolai-Hauptsternwarte fertiggestellt, die nach ihrem Initiator Zar Nikolaus I. (1796-1855) benannt ist (siehe Bild links oben).

Die wissenschaftlichen Instrumente bezog Struve zu einem großen Teil von renommierten Herstellern - den »Künstlern«, wie man sie damals nannte - in München und Hamburg. In München hielt sich Struve während des Jahres 1838 mehrere Wochen auf, um den Fortgang des Instrumentenbaus bei den Firmen Merz und Ertel zu begutachten. Die Werkstatt Ertel & Söhne fertigte für den westlichen Meridiansaal der Sternwarte ein Durchgangsinstrument und einen Vertikalkreis, die beide erhalten sind und nach einer kürzlich erfolgten Restaurierung wieder an ihrem ursprünglichen Aufstellungsort bewundert werden können. Die Geräte dienten hochgenauen Absolutmessungen von Sternpositionen. Die Messung der Rektaszension erfolgte am Durchgangsinstrument, während davon unabhängig die Deklination am großen Vertikalkreis bestimmt wurde (siehe Bilder oben).

Über den Transport der empfindlichen Geräte nach Russland schreibt Struve in den Astronomischen Nachrichten: »Alle in München für Pulkowa gefertigten Instrumente werden im Frühjahr 1839 fertig sein, und dann ­... ihre Reise antreten. Es wird in München für diejenigen Gegenstände, deren Transport besondere Sorgfalt heischt, ein eigner in Federn hängender Wagen gebaut. Zeitig im Sommer werden hoffentlich alle diese kostbaren Apparate den Ort ihrer Bestimmung erreichen, an welchem alle Anstalten zu ihrer baldigsten Aufstellung vorbereitet werden.«

Aus München kamen aber noch weitere Instrumente: Die Firma Merz & Mahler lieferte ein Heliometer mit einem Objektivdurchmesser von 7,4 Zoll (rund 19 Zentimeter) und vor allem den berühmten Refraktor, der mit seiner Objektivöffnung von 15 Zoll (38 Zentimeter) und einer Brennweite von 6,9 Metern das damals weltweit größte Linsenteleskop war und in der Mittelkuppel des Gebäudes seinen Platz fand.

Vom Hamburger Instrumentenbauer Repsold bezog Struve den Meridiankreis für den östlichen Meridiansaal sowie ein Durchgangsinstrument für den ersten Vertikal, das im Südflügel der Sternwarte aufgestellt wurde. Damit erfüllte die Pulkowoer Sternwarte alle instrumentellen Voraussetzungen, um astrometrische Präzisionsbeobachtungen auf höchstem Niveau durchzuführen, die in der Fachwelt schon bald hohe Anerkennung fanden.


Positionsastronomie auf höchstem Niveau

Während die Vermessung der so genannten Fundamentalsterne an den Meridianinstrumenten von Ertel erfolgte, ließ Struve relative Sternpositionen an Repsolds Meridiankreis bestimmen. Das Ergebnis waren hochgenaue Sternkataloge, die für die Epochen 1845.0, 1865.0 und 1885.0 erschienen. Die Reihe wurde später bis zur Epoche 1955.0 erweitert. Dabei wuchs die Anzahl der erfassten Fundamentalsterne von anfangs 374 bis auf 1046 im Katalog von 1955.

Zur Bestimmung der Aberrations- und Nutationskonstante verwendete man das Repsold'sche Durchgangsinstrument im ersten Vertikal, das eine Öffnung von 6,25 Zoll und eine Brennweite von 2,35 Metern besaß. Der gemittelte Wert der Aberrationskonstante, der aus den zwischen 1841 und 1883 in Pulkowo durchgeführten Messungen resultierte, war mit 20,493 Bogensekunden wesentlich genauer als der Wert konkurrierender Sternwarten. Die jährliche Aberration ist eine durch die endliche Lichtgeschwindigkeit und die Bahnbewegung der Erde entstehende scheinbare Verschiebung eines Gestirns an der Himmelssphäre. Für Sterne im Pol der Ekliptik ist der Aberrationswinkel konstant und heißt Aberrationskonstante. Der in Pulkowo gemessene Wert weicht nur geringfügig von den heute gültigen 20,496 Bogensekunden ab. Auch die Bestimmung von Sternparallaxen durch den bei Bessel in Königsberg ausgebildeten Astronomen Christian A.F. Peters (1806-1880) erfuhr allgemeine Wertschätzung.

Wilhelm Struve setzte durch Beobachtungen am 15-Zoll-Refraktor zusammen mit seinem Sohn Otto die schon in Dorpat begonnenen Untersuchungen an Doppelund Mehrfachsternsystemen fort, deren Ergebnisse er in einem 1852 erschienenen Katalog publizierte. Nicht zuletzt sei an Struves geodätische Arbeiten erinnert: In der Zeit von 1816 bis 1852 wurde unter seiner Leitung ein mehr als 2800 Kilometer langes Netz geodätischer Vermessungspunkte eingerichtet. Diese als »Struve-Meridianbogen« bezeichnete Anordnung von insgesamt 265 Triangulationspunkten reichte von Hammerfest am Nordkap bis nach Ismail am Schwarzen Meer. Die damit erhaltenen Beobachtungsdaten lieferten Informationen über die Größe, Form und Abplattung des Erdkörpers. Im Jahr 2005 ernannte die UNESCO den Struve-Meridianbogen sogar zum Weltkulturerbe.

Von Pulkowo ging auch die Vermessung des gesamten russischen Reichs bis in den fernen Osten aus. Der Nullmeridian dieser Gradmessung verläuft genau durch den Hauptturm der Sternwarte und wird durch eine in den Marmorboden der zentralen Rotunde eingelassene Marke gekennzeichnet (siehe Bild oben).

Der gute Ruf der Sternwarte war nun auch international so weit verbreitet, dass der US-amerikanische Astronom Benjamin Gould (1824-1896), der Begründer des Astronomical Journal, Pulkowo die »astronomische Hauptstadt der Welt« nannte. Im Jahre 1862, als sich Wilhelm Struves Gesundheit zusehends verschlechterte, übernahm sein ältester Sohn Otto Struve (1819-1905) die Leitung der Sternwarte (siehe Bild rechts). Am 23. November 1864 verstarb Wilhelm Struve, der Ahnherr von vier Generationen bedeutender Astronomen. Er fand seine letzte Ruhe auf dem zur Sternwarte gehörenden Astronomenfriedhof.


Otto Struve und die Anfänge der Astrophysik

Otto Struve führte die Arbeiten in Pulkowo zunächst in der Tradition seines Vaters fort. Dazu gehörten weitere Vermessungen von Doppelsternen, Kometenbeobachtungen am 15-Zoll-Refraktor, Messungen von Fixsternparallaxen und die Erstellung des Fundamentalkatalogs für die Epoche 1865.0.

Neben Beobachtungen des Siriusbegleiters, Sirius B, Untersuchungen am Ringsystem von Saturn und der Bestimmung der Masse des Planeten Neptun gewann in Pulkowo nun auch zunehmend die Beschäftigung mit der Astrophysik an Bedeutung. Erste Ansätze dazu lieferten spektroskopische Arbeiten, die unter anderem Beobachtungen des Polarlichts mit einbezogen, sowie die Anwendung der damals noch jungen Fotografie auf astronomische Fragestellungen.

Als einer der Ersten widmete sich der aus Schweden stammende Bernhard Hasselberg (1848-1922) astrophysikalischen Fragestellungen, darunter vor allem der Spektralanalyse. Hierfür stand dem Forscher ab dem Jahr 1886 ein astrophysikalisches Laboratorium zur Verfügung. Später waren es die russischen Astronomen Aristarch A. Belopolsky (1854-1934) und Sergej K. Kostinsky (1867-1936), die in Pulkowo das Gebiet der Astrophysik entscheidend prägten.

Im Jahr 1885 ging der von den Firmen Clark und Repsold gefertigte große Refraktor in Betrieb, der mit einer Öffnung von 30 Zoll (76 Zentimeter) und einer Brennweite von 14 Metern nun das weltweit größte Linsenteleskop war - bis an den Observatorien Lick und Yerkes in den USA noch größere Instrumente installiert wurden. Hermann Struve (1854-1920), der zweitälteste Sohn von Otto Struve, befasste sich in den ersten Jahren am großen Refraktor mit der Beobachtung der Saturnmonde und stellte auch eine neue Theorie für die Bewegung der Planetentrabanten auf. Nach einer Zwischenstation als Direktor der Königsberger Sternwarte wurde er im Jahr 1904 zum Leiter der Berliner Sternwarte berufen und organisierte in den Jahren 1911 bis 1913 die Errichtung des neuen Observatoriums in Babelsberg bei Berlin.

Nach Hermann Struves Weggang aus Pulkowo im Jahr 1895 nutzte Belopolsky den großen Refraktor vorwiegend für spektrografische Arbeiten. Dabei entdeckte er die Veränderlichkeit der Radialgeschwindigkeit von Delta Cephei und gab damit den ersten Hinweis auf die Pulsation dieses Sterns. Der Refraktor wurde im Zweiten Weltkrieg leider vollständig zerstört, lediglich sein 30-Zoll-Objektiv ließ sich durch rechtzeitige Auslagerung vor der Vernichtung bewahren.

Den nicht mehr benötigten 15-Zoll-Refraktor erwarb übrigens Oskar von Miller um das Jahr 1914 über Umwege für die neu zu errichtende Astronomieabteilung des Deutschen Museums in München. Dort fiel dieses Instrument - mit Ausnahme des in Russland verbliebenen originalen Objektivs - dem Krieg zum Opfer (siehe SuW 7-8/1987, S. 397).

Im Jahr 1890 wird der als Kometenforscher bekannte Fedor A. Bredichin (1831-1904) neuer Direktor der Sternwarte, was gleichzeitig auch das Ende ihrer nach Westeuropa ausgerichteten Orientierung bedeutete. Diese bestand unter anderem darin, dass bisher auf der Sternwarte fast ausschließlich Deutsch gesprochen wurde, und dass die wissenschaftlichen Publikationen entweder in deutscher oder französischer Sprache abgefasst waren.

In die Amtszeit von Oskar Backlund (1846-1916) als Direktor in Pulkowo fällt die Erweiterung des Beobachtungsbetriebs in südliche Gefilde, zur Sternwarte Simeis auf der Krim und zum ebenfalls am Schwarzen Meer gelegenen Marineobservatorium Nikolajew. Beide Einrichtungen erhob Zar Nikolaus II. per Dekret im Jahr 1912 zu astronomischen Abteilungen der Hauptsternwarte Pulkowo.

Der Erste Weltkrieg überzog das Land, und in seiner Folge kam es 1917 in Russland zur verhängnisvollen Oktoberrevolution, die ihren Ausgang in Petrograd nahm. So nannte man jetzt Sankt Petersburg, um den deutschen Namen auszumerzen. In der Umgebung der Sternwarte kämpften regierungstreue Truppen gegen die Bolschewiken, und die Gebäude und Kuppeln der Sternwarte gerieten unter Beschuss. Materielle Not, Hunger und winterliche Kälte begleiteten nun die Arbeit der Astronomen. Ähnliches wiederholte sich im Oktober 1919, als antikommunistische Kräfte gegen die Rote Armee kämpften. Von nun an regierte die kommunistische Ideologie über die Arbeit der Wissenschaftler, die einem Fünf-Jahres-Plan zu folgen hatte, und Kontakte ins westliche Ausland waren fast gänzlich unterbunden. Trotz allem fanden einige Forscher wie beispielsweise Viktor A. Ambarzumjan (1908-1996) oder Nikolai A. Kosyrew (1908-1983) mit ihren theoretischen Arbeiten zur Sternentwicklung internationale Anerkennung.

Einen weiteren Tiefpunkt erlebte die Sternwarte mit dem ab 1936 einsetzenden stalinistischen Terror, in dessen Verlauf nichtgenehme Intellektuelle planmäßig verhaftet und in die berüchtigten Gulag-Konzentrationslager verschleppt wurden. Diese euphemistisch als »Säuberung« bezeichneten Aktionen betrafen auch zahlreiche Astronomen in Pulkowo. So wurde Boris P. Gerasimowitsch (1889-1937), der durch seine Forschungen über zirkumstellare Hüllen bei Be-Sternen bekannt wurde und Direktor der Sternwarte war, am 30. November 1937 aus nichtigem Anlass abgeurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. Er hatte sich angeblich »eine schädliche Tätigkeit beim Studium der Sonnenfinsternisse« zu Schulden kommen lassen.


Vernichtung im Zweiten Weltkrieg

Im September 1941 fiel die Sternwarte Pulkowo in Schutt und Asche. Das Observatorium, das in den ersten hundert Jahren seines Bestehens der Stolz der russischen Astronomie war, wurde praktisch über Nacht durch den Beschuss der deutschen Belagerungstruppen bis auf die Grundmauern zerstört. Es war Hitlers verbrecherischer Plan, die als uneinnehmbar geltende Stadt Leningrad durch eine vollständige Blockade gleichsam »auszuhungern«. Erst im Januar 1944 beendeten Einheiten der Roten Armee die fast 900 Tage währende Belagerung der Millionenstadt durch Nazitruppen.

Die Bombardierung Pulkowos durch deutsche Sturzkampfflugzeuge (»Stukas«) und der Beschuss durch schwere Artillerie wurden wohl auch dadurch provoziert, dass der russische Oberbefehlshaber seinen Gefechtsstand ausgerechnet im Uhrenkeller der Sternwarte eingerichtet hatte. Glücklicherweise konnte man vorher noch einen Teil ihrer berühmten Bibliothek, die auch viele historisch bedeutende Werke enthielt, nach Leningrad auslagern.

Dass noch vor Kriegsende beschlossen wurde, die Sternwarte nach den alten Plänen wiederaufzubauen, zeugt von der großen Bedeutung, die Pulkowo für die ganze russische Nation hatte. Schon im Mai 1954 erstrahlte die Sternwarte wieder im alten Glanz und wurde im Beisein zahlreicher Wissenschaftler aus dem In- und Ausland feierlich ihrer Bestimmung übergeben. Welch immense Herausforderung der Wiederaufbau des Observatoriums in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit darstellte, wird beim Betrachten der Bilder deutlich, die das unfassbare Ausmaß der Zerstörung zeigen (siehe Bild oben).


Das neue Pulkowo

Nach dem im Jahr 1954 abgeschlossenen Wiederaufbau der Sternwarte lag es im Interesse des amtierenden Direktors Alexander A. Michailow (1888-1983), nicht nur an die traditionsreiche Vergangenheit anzuknüpfen, sondern vor allem die Voraussetzungen zu schaffen, um wieder zur Weltspitze der astronomischen Forschung zu gehören. Das bedeutete auch, dass von Pulkowo aus alle astronomischen Aktivitäten in der damaligen Sowjetunion koordiniert wurden.

Die neue Abteilung für den astronomischen Gerätebau leitete der renommierte Optikexperte Dimitri D. Maksutow (1896-1964), der schon um das Jahr 1940 zusammen mit Nikolaj G. Ponomarjow (1900-1942) ein Horizontalsonnenteleskop für Pulkowo gebaut hatte, hauptsächlich aber durch die nach ihm benannten Meniskusteleskope bekannt wurde. Auf Vorarbeiten von Maksutow geht die Entwicklung des russischen Sechs-Meter-Spiegelteleskops zurück, das 1976 im Kaukasus beim Kosakendorf Selentschukskaja in Betrieb ging und bis zum Jahr 1992 der größte Reflektor der Welt war. In seiner Nähe befindet sich seit dem Jahr 1974 auch das zum »Special Astrophysical Observatory« (SAO) gehörende Radioteleskop RATAN-600. Rund 900 im Kreis angeordnete, schwenkbare Reflektorplatten von jeweils zwei Metern Breite und 7,4 Metern Höhe bilden eine Ringantenne von annähernd 600 Metern Durchmesser.

Schon in den 1950er Jahren gründete und leitete Semjon E. Chajkin (1901-1968) in Pulkowo eine eigene Abteilung für Radioastronomie, wo man als Prototyp zunächst eine Ringantenne kleineren Durchmessers entwickelte und erprobte. Diese als »Großes Pulkowoer Radioteleskop« (Large Pulkovo Radio Telescope, LPR) bezeichnete Anlage wird hauptsächlich für Beobachtungen der Sonne eingesetzt. Aus ihr ging dann später das Instrument RATAN-600 hervor.

Zwischen 1962 und 1972 vermaßen Astronomen aus Pulkowo Sterne des südlichen Himmels am Observatorium Cerro el Roble in Chile. Die daraus hervorgehenden fünf Sternkataloge fanden auch ihren Niederschlag im Fundamentalkatalog FK5. Von 1983 bis 1990 arbeitete ein Pulkowoer Astronomenteam im Süden Boliviens, unweit der Stadt Tarija, auf einer 2000 Meter hoch gelegenen Beobachtungsstation, dem heutigen Nationalobservatorium Boliviens. Die durch fotografische Astrometrie gewonnenen Positionsdaten von Sternen des Südhimmels bilden den FOCAT-S (Photographic Catalogue - South) genannten Sternkatalog, dessen Daten auch in den vom Astronomischen Recheninstitut in Heidelberg herausgegebenen Katalog »Positions and Proper Motions« (PPM) einbezogen wurden.

Eine Abteilung des Observatoriums Pulkowo widmet sich seit dem Jahr 1948 der Sonnenforschung auf der von Mstislaw N. Gnewyschew (1914-1992) gegründeten Hochgebirgsstation bei Kislowodsk im Nordkaukasus. Dort untersucht man beispielsweise, wie die Dauer eines Sonnenfleckenzyklus mit der Amplitude der Fleckenaktivität, also mit der Wolf'schen Fleckenrelativzahl, zusammenhängt. Eine in Pulkowo entwickelte Methode ermöglicht es, aus optischen Spektrogrammen von Fleckengebieten neben der Zeeman-Aufspaltung auch die Dopplerverschiebung von Spektrallinien zu messen. Damit lassen sich Fluktuationen der Radialgeschwindigkeit mit einer typischen Periode von etwa 80 Minuten nachweisen, die als vertikale Oszillation des ganzen Sonnenflecks in Richtung der Sichtlinie gedeutet wird. Weitere Arbeiten befassen sich mit dem zeitlichen Zusammenhang zwischen solarem Aktivitätszyklus und der differenziellen Rotation der Sonnenkorona.

Auf dem weitläufigen Sternwartengelände in Pulkowo entstanden im Laufe der Jahre insgesamt 16 Teleskope mit den dazugehörigen Schutzbauten. Das größte Instrument ist heute ein Zeiss-Refraktor mit einem Objektivdurchmesser von 26-Zoll, den Hitler ursprünglich seinem Freund Mussolini für die Sternwarte in Rom schenken wollte. Dazu kam es aber nie, und so gelangte das Instrument im Jahr 1947 als Reparationsleistung von Jena nach Pulkowo (siehe Bild oben).

Der schon etwas betagte Zeiss-Refraktor wurde auch noch in den letzten Jahren dazu verwendet, um astrometrische Beobachtungen an Doppelsternsystemen oder an den Monden von Jupiter und Saturn mit hoher Präzision durchzuführen. Durch den Einsatz einer besonderen Rechenmethode - genannt Apparent Motion Parameters (AMP) - konnten die Astronomen den Bahnverlauf von mehr als 400 Doppelsternen und das Massenverhältnis ihrer Komponenten bestimmen, auch wenn sie nur einen sehr kurzen Bogen ihrer Bahn von höchstens fünf bis zehn Grad tatsächlich beobachteten.

Heute bearbeitet Pulkowo ein breites Themenspektrum - von der Geodynamik bis zur Kosmologie.

In den Jahren von 1983 bis 2000 lenkte Viktor K. Abalakin, dem ich für die Einladung zu diesem Besuch sehr dankbar bin, als amtierender Direktor die Geschicke der Sternwarte erfolgreich durch eine oft schwere Zeit. Während unter der sowjetischen Führung häufig die mafiösen Parteistrukturen eine sinnvolle Forschungsarbeit erschwerten oder gar verhinderten, lähmte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion pure Geldnot die Arbeit der Wissenschaftler.

Heute bearbeitet Pulkowo ein breites Spektrum von Forschungsgebieten, wozu bei spielsweise Fragestellungen in der Astrophysik und Kosmologie, Sonnenforschung, Radioastronomie, Sternentwicklung, Himmelsmechanik, Geodynamik und Weltraumwissenschaft zählen. Ein Zentrum für die Auswertung von Daten der weltumspannenden Radiointerferometrie mit großen Basislängen (englisch: Very Long Baseline Interferometry) hat seinen Sitz am Observatorium Pulkowo.

Zusammen mit den italienischen Observatorien in Teramo und Rom betreibt Pulkowo auf dem in den Abruzzen gelegenen Berg Campo Imperatore das in Russland gefertigte Teleskop AZT-24 mit einem Spiegeldurchmesser von 1,1 Metern. Damit suchen die Astronomen im Rahmen des Projekts SWIRT (»Supernova Watchdogging Infra Red Telescope«) im infaroten Wellenlängenbereich nach Supernovae in Galaxien.

Die in Pulkowo bei der Beobachtung erdnaher Objekte (so genannter NEOs, nach englisch: Near Earth Objects) gewonnenen Erfahrungen führten zu einer besonderen Webpräsenz, der »Pulkovo NEO Page«. Dort lassen sich die Daten dieser speziellen Himmelsobjekte abrufen, die uns als Kometen oder Asteroiden gefährlich nahe kommen können und damit eine potenzielle Bedrohung für unsere Zivilisation darstellen.

Was astrophysikalische Fragestellungen angeht, so befassen sich die Wissenschaftler in Pulkowo mit allen erdenklichen Objektklassen. Dazu zählen beispielsweise Weiße Zwerge, Neutronensterne und Röntgenpulsare genauso wie die exotischen Blazare. Weitere Aktivitäten betreffen die Suche nach Sternen in der nahen Sonnenumgebung und nach extrasolaren Planeten oder das optische Identifizieren der Bahnen von potenziell gefährlichem Weltraumschrott.

Neben der Beobachtungstätigkeit an russischen Teleskopen stehen den Pulkowoer Astronomen auch die Einrichtungen zahlreicher Partnerinstitute in der ganzen Welt zur Verfügung. So bestehen Kontakte zu Instituten in Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Italien, Japan, Spanien, USA und weiteren Ländern.

Vermehrt finden in Pulkowo wieder internationale Tagungen und Symposien statt. Wie sehr man dort das Erbe der Vergangenheit pflegt, zeigte die AstrometrieKonferenz »Pulkovo 2009«, mit der man das Internationale Jahr der Astronomie und gleichzeitig das 170-jährige Bestehen der Sternwarte beging. Die Konferenzthemen befassten sich dabei aber nicht nur mit der Eigenbewegung von Sternen, sondern auch mit der Astrometrie von Pulsaren, Quasaren oder galaktischen Radioquellen. Raumfahrtprojekte mit astrometrischer Zielsetzung wurden dabei ebenso thematisiert wie Arbeiten zu Schwankungen der Erdrotation oder zu anderen geodynamischen Problemen.

Und Alexander V. Stepanov, der inzwischen seit zehn Jahren das Zentralobservatorium der Russischen Akademie der Wissenschaften in Pulkowo leitet, freut sich schon auf eine große internationale Beteiligung an dem Astronomentreffen JENAM - dem »Joint European and National Astronomy Meeting«, das im Jahr 2011 hier zu Gast sein wird.


Volker Witt promovierte nach dem Studium der Physik auf dem Gebiet der Elektronenmikroskopie. Beruflich widmete er sich der Ausbildung angehender Augenoptiker. Seit etwa 25 Jahren ist er in der Amateurastronomie aktiv.


Literaturhinweise

Batten, A. H.: Resolute and Undertaking Characters. The Lives of Wilhelm and Otto Struve, D. Reidel Publishing Group, Dordrecht 1988.

Hartl, G.: Der Refraktor der Sternwarte Pulkowa. In: Sterne und Weltraum 7-8/1987, S. 397-404.

Ichsanova, V.: Pulkovo/St. Petersburg. Spuren der Sterne und der Zeiten. Geschichte der russischen Hauptsternwarte, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1995.

Krisciunas, K.: A short history of Pulkovo Observatory. In: Vistas in Astronomy Vol. 22, S. 27-37 1978.

Struve, F.G.W.: Description de l'Observatoire astronomique central de Poulkova, St. Petersburg 1845.


Weblinks zum Thema unter: www.astronomie-heute.de/artikel/1047412


Weitere Informationen

Anschrift des Observatoriums: Central Astronomical Observatory at Pulkovo, Russian Academy of Sciences, Pulkovskoye Shossee 65/1, 196140 St. Petersburg, Russische Föderation, webmaster@gao.spb.ru, www.gao.spb.ru

Besuchsmöglichkeiten: Das astronomische Museum der Sternwarte beherbergt seltene historische Instrumente sowie umfassende Dokumente zur Geschichte des Observatoriums. Interessierte wenden sich zur Vereinbarung eines Besuchstermins an Dr. Sergej W. Tolbin, Tel.: +7 812 3637015, museum@gao.spb.ru.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 92 oben:
Die links dargestellte Zeichnung schmückt die von Struve im Jahr 1845 veröffentlichte »Description de l'Observatoire astronomique central de Poulkova«. Sie zeigt die historische Ansicht der Sternwarte.

Abb. S. 92 unten:
Wilhelm Struve (1793-1864) war der Gründer und erste Direktor der Nikolai-Hauptsternwarte zu Pulkowo. Er gilt als Ahnherr einer Dynastie bedeutender Astronomen.

Abb. S. 93:
Das Astronomische Zentralobservatorium Pulkowo der Russischen Akademie der Wissenschaften bei Sankt Petersburg wurde in den Jahren 1945 bis 1954 nach dem historischen Vorbild wieder aufgebaut. Lediglich die Kuppeln erhielten eine Halbkugelform.

Abb. S. 94 oben:
Das von der Münchner Werkstatt Ertel & Söhne gefertigte Durchgangsinstrument mit einer Objektivöffnung von 15 Zentimetern und einer Brennweite von 2,6 Metern diente zur Absolutbestimmung der Rektaszension von Sternen.

Abb. S. 94 unten:
Mit dem Ertel'schen Vertikalkreis ließ sich die Deklination eines Sterns sehr genau bestimmen. Der im Abstand von zwei Bogenminuten unterteilte Kreis hat einen Durchmesser von einem Meter, das Ablesen erfolgte an vier Mikroskopen. Die Optik besitzt eine Öffnung von 15 Zentimetern und eine Brennweite von 1,95 Metern.

Abb. S. 96 oben:
Der Mittelpunkt der Rosette auf dem Boden der zentralen Rotunde markiert den Nullmeridian der russischen Längenmessung.

Abb. S. 96 unten:
Otto Struve (1819-1905) leitete die Sternwarte Pulkowo von 1862 bis 1889. Das Bild ist ein Ausschnitt aus einem Gemälde, das sich in der Bildergalerie des Runden Saals der Sternwarte befindet.

Abb. S. 97:
Die Bilder im Museum der wiederaufgebauten Sternwarte zeigen das unglaubliche Ausmaß der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg.

Abb. S. 98:
Der Zeiss-Refraktor ist mit einer Objektivöffnung von 65 Zentimetern und einer Brennweite von 10,4 Metern das größte Instrument der Sternwarte. Er ersetzte ab 1947 den im Krieg zerstörten Clark-Repsold-Refraktor und war eine Reparationsleistung aus der damaligen Sowjetischen Besatzungszone.


© 2010 Volker Witt, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Sterne und Weltraum 11/10 - November 2010, Seite 92-99
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/52 80, Fax: 06221/52 82 46
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69117 Heidelberg
Tel.: 06221/9126 600, Fax: 06221/9126 751
Internet: www.astronomie-heute.de

Sterne und Weltraum erscheint monatlich (12 Hefte pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 85,20 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2010