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FORSCHUNG/596: Paläontologie - Unseren Ursprüngen auf der Spur (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Unseren Ursprüngen auf der Spur

Von Yves Sciama


Seit dem Jahr 2000 und nach mehreren Jahrzehnten der Stille ist die menschliche Paläontologie wieder in aller Munde. Im Jahr 2002 wird das bis dahin dominierende Paradigma zur Erklärung der Verzweigung zwischen Menschen und Menschenaffen durch die Entdeckung des Schädels eines 7 Millionen Jahre alten Hominiden widerlegt.


Dieses dominierende Paradigma, East Side Story genannt, wurde durch seine sinnbildliche Heldin, die fossile, junge Australopithecina Lucy, die vor 3,2 Millionen Jahren lebte, in die Öffentlichkeit gebracht. Lucy war bei ihrer Entdeckung im Jahr 1974 in der Region von Afar (Äthiopien) durch Yves Coppens, Maurice Taïeb und Donald Johannson die älteste bekannte hominine Fossile. Der von Coppens verbreiteten East Side Story zufolge bestätigte sie, dass die Entwicklungslinie des Menschen in Ostafrika östlich des Großen Afrikanischen Grabenbruchs begonnen hatte. Dort wurde das Klima immer trockener, sodass die Gegend immer stärker versteppte und der Wald verdrängt wurde. Ohne Bäume, so die Hypothese, sollen unsere Vorfahren im Osten gezwungen gewesen sein, sich aufzurichten und auf zwei Beinen zu laufen, und dies bildete den Ausgangpunkt für die Entwicklung der Menschen.


Toumaï schlägt Lucy

Nun wurde aber der vom Präsidenten der Republik Tschad auf den Namen Toumaï getaufte Schädel von der Mission paléoanthropologique franco-tchadienne (MPFT) unter der Leitung von Michel Brunet (1) etwa 2 500 Kilometer westlich der angeblichen orientalischen Wiege der Menschheit entdeckt. Trotz seines respektablen Alters von 7 Millionen Jahren, das erst kürzlich durch radioaktive Altersbestimmung bestätigt wurde, weist er vormenschliche Merkmale auf (Bezahnung, Position des Hinterhauptlochs, in dem die Wirbelsäule verankert ist, die Neigung des Planum nuchale), die vom größten Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannt wurden. "Stellen Sie sich nur einmal vor, Lucy, die auch Mutter der Menschheit genannt wurde, war uns zeitlich näher als Toumaï!", ruft Michel Brunet. Und so lebte die Frage nach den Mechanismen und dem Zeitpunkt der Trennung von Mensch und Affe wieder auf. Die verstreuten Puzzleteile passten nicht mehr zusammen. Darüber hinaus gibt es von diesen Teilen trotz einiger Entdeckungen in jüngerer Zeit nicht sehr viele: Abgesehen von Toumaï sind nur zwei vormenschliche Fossilien älter als 5 Millionen Jahre. Da ist zuerst einmal Orrorin tugenensis mit einem Alter von etwa 6 Millionen Jahren, der im Jahr 2000 in Kenia gefunden wurde (daher sein Spitzname Millennium-Mensch) und dessen Oberschenkelknochen seine Bipedie und seine Zugehörigkeit zum menschlichen Zweig zweifellos belegen. Dann wurde Ardipithecus kadabba, der mehr als 5 Millionen Jahre alt ist, 2005 in Äthiopien gefunden.


Inwieweit sind sie miteinander verwandt?

Erschwert wird die Aufgabe der Paläontologen dadurch, dass die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Hominiden äußerst rätselhaft hen Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Hominiden äußerst rätselhaft sind. Die gefundenen Fossilien sind besonders unvollständig und teilweise sogar stark verformt. Beispielsweise war es nur mittels sehr komplexer virtueller Bildgebung möglich, die ursprüngliche Form des Schädels von Toumaï zu rekonstruieren - obwohl er zu den besser erhaltenen zählt -, denn dieser war durch den Druck und die Bewegungen der ihn umgebenden Sedimente verformt und zerbrochen worden. Da von den einzelnen Fossilien im Allgemeinen nicht die gleichen Knochen erhalten blieben, sind direkte Vergleiche unmöglich. Die Vorfahren der Gattung Homo geben also ihren Teil des Geheimnisses - zu dem hoffentlich die bisher kaum erkundeten fossilführenden Weiten Afrikas Antworten zu Tage bringen werden - nicht preis.


Auswanderung aus Afrika

Sicher ist, dass der menschliche Zweig mit diesen Entdeckungen schlagartig und drastisch gealtert ist. "Dadurch muss die Trennung unserer Art auf 8, vielleicht sogar 10 Millionen Jahre zurückdatiert werden", schätzt Michel Brunet, der bereits wieder mit der Suche nach den Vorfahren von Toumaï irgendwo zwischen Libyen und dem Tschad beschäftigt ist. "Die afrikanische Etappe der Menschheitsgeschichte war folglich besonders lang", bemerkt er, "denn unsere Vorfahren, die bereits der Gattung Homo angehörten, haben den Schwarzen Kontinent zweifellos vor weniger als 2,5 Millionen Jahren verlassen.

Diese Auswanderung aus Afrika und die sich daran anschließende Eroberung der Welt sind Etappen unserer Entwicklungsgeschichte, die durch neue Erkenntnisse bereichert werden. Bis etwa vor 10 Jahren glaubten die Experten, dass diese Episode vor etwa einer Million Jahren stattfand und dass es sich hierbei um die "intelligenteste" Art der Gattung Homo, den Homo erectus, handelte. Jedoch wurden in einer außergewöhnlichen Fossillagerstätte nahe der georgischen Stadt Dmanissi zahlreiche Fossilien von Vertretern der Gattung Homo gefunden, die auf 1,8 Millionen Jahre datiert wurden - was eine viel frühere Auswanderung aus Afrika belegt. Überraschend ist außerdem die Anatomie dieser Eroberer. "Sie unterscheiden sich in mehreren Punkten von der klassischen Morphologie [des Homo erectus]", schrieb kürzlich David Lordkipanidze, Direktor des georgischen Nationalmuseums. "Insbesondere haben diese Exemplare ein sehr geringes Hirnvolumen. Es beträgt etwa 750 cm³ bei dem größten und nur 600 cm³ bei dem kleinsten, was in etwa dem Mittelwert von Homo habilis, einer der primitivsten Arten, entspricht." Diese Europäer weisen außerdem mehr primitive Merkmale auf als der Turkana-Boy, ein 1,6 Millionen Jahre alter Homo erectus, der in einem sehr guten Erhaltungszustand in Kenia gefunden wurde. Selbst auf technologischem Gebiet haben diese "Georgier" die Wissenschaftler mit ihren primitiven Werkzeugen überrascht: So war ihnen der Faustkeil (ein Werkzeug, das auf beiden Seiten bearbeitet ist) offensichtlich unbekannt und sie gaben sich mit viel einfacheren Steinsplittern und Kieselsteinen zufrieden.


Warum er?

Derart viele Überraschungen veranlassten einige Wissenschaftler dazu, die gängige Lehrmeinung in Frage zustellen, der zufolge die Auswanderung aus Afrika auf den Homo erectus zurückzuführen war. Man schlug sogar vor, diesen Vorfahren von Dmanissi Homo georgicus zu nennen, um seine Eigenart deutlich zu machen. Die meisten Paläontologen gehen jedoch nicht so weit und unterstreichen lediglich die große Variabilität dieser primitiven Menschen und reden lieber vom Homo erectus, largo sensu.

Bleibt zu klären, warum von diesen zahlreichen bekannten Australopithecus und Homo-Arten (H. habilis, H rudolfensis, H erectus), die vor 2 Millionen Jahren Afrika bevölkerten, nur eine den Kontinent verlassen konnte und sich auf der Welt ausgebreitet hat. Ein Teil der Antwort liegt wahrscheinlich in der Besonderheit seines Skeletts: Die Bipedie des Australopithecus und auch die anderer Arten, wie die des Homo habilis, war zweifellos zu primitiv, um große Strecken ohne Bäume zu überwinden, während der Homo erectus offensichtlich in der Lage war, weite Entfernungen laufend zurückzulegen. Außerdem könnte es sein, dass die Komplexität der Werkzeuge eine Rolle gespielt hat. David Lordkipanidze weist auf einen anderen Faktor hin: In der Lagerstätte von Dmanissi haben die Forscher den Schädel eines Individuums mit resorbierten Alveolarfortsätzen gefunden, was darauf schließen lässt, dass es mehrere Jahre zahnlos gelebt hat. Und sie kommen zu besonders interessanten Schlussfolgerungen: "Es ist klar, dass dieses Individuum nicht ohne die Hilfe seiner Artgenossen überleben konnte. Diese haben ihm zweifellos die weichsten Teile der Tiere zum Essen überlassen. Sie haben ihm vielleicht auch geholfen, indem sie ihm bereits vorgekaute Nahrung gegeben haben." Mit dieser "einfühlsamen Einstellung" und diesem "wirklich humanen Verhalten", die einen starken Gruppenzusammenhalt verliehen, könnten sich die Leistungen dieser allerersten Menschen erklären lassen.

Yves Sciama


Anmerkung

(1) Michel Brunet von der Universität Poitiers (FR) unterrichtet auch am Collège de France, wo er für den Fachbereich der menschlichen Paläontologie verantwortlich ist.


Terminologie

Hominidae
Diese afrikanische Gruppe, die sich vor etwa 12 Millionen Jahren herausgebildet hat, umfasst die Angehörigen der menschlichen Linie (Homininae) und die Menschenaffen, zu denen Gorilla, Schimpanse und Bonobo gehören.

Homininae
Hierbei handelt es sich um die Angehörigen der menschlichen Linie vor der Trennung von den Schimpansen. Außer Orrorin, Toumaï und den beiden Ardipithecus (A. ramidus und A. kabbada) gehören auch der Australopithecus und die Angehörigen der Gattung Homo dazu. Die Bipedie ist zweifellos ein auf die gesamte Gruppe zutreffendes Merkmal, obgleich sie offensichtlich in den verschiedensten Formen anzutreffen war.

Homo
Die verschiedenen Spezies der Gattung Homo weisen große morphologische Unterschiede zwischen den primitivsten unter ihnen (H. habilis) und den jüngeren, d. h. dem Neandertaler und dem modernen Menschen (H. sapiens) auf. Letzterer, also unsere Art, ist vor etwa 200 000 Jahren entstanden und heute der einzige lebende Vertreter der Gattung Homo.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Mission paléoanthropologique franco-tchadienne (MPFT) unter der Leitung von Michel Brunet in der Djurab-Wüste (Tschad).

Der 7 Millionen Jahre alte Toumaï weist vormenschliche Merkmale auf. Der Schädel wurde 25 000 km westlich der Gegend gefunden, die bis vor kurzem noch als die Wiege der Menschheit galt. Er löst Lucy (3,2 Millionen Jahre, Äthiopien) als ältester bekannter Urahne des Menschen ab.


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Quelle:
research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008, Seite 12 - 13
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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Chefredakteur: Michel Claessens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2009