Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → BIOLOGIE

FORSCHUNG/655: Paläontologie - Friedhof der Fischsaurier (DFG)


forschung 3/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Friedhof der Fischsaurier

Von Wolfgang Stinnesbeck, Eberhard Frey und Marcelo Leppe Cartes


Vor 120 Millionen Jahren gingen am Rande des Tyndall-Gletschers die Ichthyosaurier zugrunde. Nun ergründen Paläontologen, wie es zu dem Massensterben auf engstem Raum kam - eine Spurensuche im chilenischen Nationalpark Torres del Paine

Lärmend ist der Helikopter in der Luft, eine alte Bell der chilenischen Luftwaffe. Er fliegt über verzweigte Flussläufe, die sich durch die gelbgrünen Südbuchenwälder schlängeln. Das Ziel: unser Camp am Tyndall-Gletscher. Langsam nähern wir uns dem Nationalpark Torres del Paine mit seinen markanten Felstürmen. Rasch werden die Wälder lichter, dann folgt blanker, schwarzer Fels, ein See mit kleinen Eisbergen. Schließlich breitet sich ein Gletscher aus; das ist der Tyndall am Südende des Patagonischen Eisfeldes. Blau schimmert das Eis in der hereinbrechenden Dämmerung. Das Forschungscamp ist in der Ferne zu sehen: zunächst winzige bunte Punkte am Rand eines schwarzen Kliffs. Wir landen dort und fliegen weiter zum höher gelegenen Fundplatz. Hier hat der Gletscher die Felslagen stufig abgehobelt. Die Landschaft gleicht einem Modell, wie aus Pappeschichten aufgetürmt.

Unser Team gehört zur ersten Staffel. Der zweite Flug bringt prominenten Besuch: das Kronprinzenpaar der Niederlande, Willem Alexander und Maxima, in Begleitung von Bildungsminister Ronald Plasterk und dem Leiter der Organisation für wissenschaftliche Forschung Jos Engelen. Am Vorabend hatte sich die Delegation bereits über die Fischechsen im Gletscherland informiert, nun folgt die Besichtigung vor Ort. Dreieinhalb Stunden dauert der Aufenthalt, dann entschwindet der Scheinwerfer der Bell wieder hinter den Bergen.

Rückblick: Im Jahr 2003 hatten Glaziologen erstmals am Rand des Tyndall-Gletschers die Überreste eines Ichthyosauriers gefunden. Inzwischen sind dort zahlreiche Skelette oder Skelettreste dieser Fischechsen entdeckt worden, daneben unzählige Fossilien: etwa Belemniten (fossile Kopffüßer), Ammoniten, Muscheln und Fische sowie Pflanzenreste. In einer ersten DFG-geförderten Expedition wurde zunächst das Potenzial der neuen Fundstelle ausgelotet. Jetzt sind wir hier, das Geheimnis des Ichthyosaurierfriedhofs zu lüften. Wir wollen herausfinden und verstehen, was an diesem Ort vor etwa 120 Millionen Jahren, in der Unterkreidezeit, geschah.

Die Forscher vermessen die Flosse einer Fischechse, deren über 110 Millionen Jahre altes Skelett vom Tyndall-Gletscher freigelegt und poliert wurde. Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Die Forscher vermessen die Flosse einer Fischechse, deren über 110 Millionen
Jahre altes Skelett vom Tyndall-Gletscher freigelegt und poliert wurde.
Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Unsere Doktoranden Judith Pardo und Christian Salazar sowie die studentischen Helfer Lucho, Pato und Esteban von der Universidad de Concepción sind schon einige Tage vor Ort. Sie haben das Camp perfekt organisiert. Das Küchenzelt ist mit zwei Gaskochern ausgestattet. Es gibt ein Aufenthaltszelt mit Esstisch und Stühlen. Ein Generator liefert Strom für Licht, Akkuladegeräte und Laptops. Lebensmittel, Haushalts- und Waschzeug sind professionell in Plastikfässern verpackt. Gas- und Benzinvorräte stehen abseits des Lagers. Der fünf Grad kalte Rio Tyndall dient als Trinkwasserquelle, Spülmaschine, Dusche und nicht zuletzt als Kühlschrank für die Fleischvorräte.

Was während der ersten Geländetage an Fossilien entdeckt wird, übertrifft alle Erwartungen. Pechschwarz heben sich die versteinerten Knochen der ausgestorbenen Fischechsen von den glatten grauen Sandsteinflächen ab. Viele Saurier sind komplett erhalten - oder waren es zumindest, bis der Gletscher sein "Hobelwerk" begann. Der Schädel mit den Augenhöhlen und der langen schnabelförmigen Schnauze, der Brustkorb mit den langen und feinen Rippen, die mosaikartigen rundlichen Flossenskelette, schließlich die lange Wirbelsäule mit ihren Wirbeln und dem typischen Schwanzknick, der den Unterlappen der gegabelten Schwanzflosse stützte. Die meisten Knochen liegen noch genau da, wo sie einstmals anatomisch hingehörten.

Ein eindrucksvolles Fossil - die gut erhaltene Vorderhälfte eines Ichthyosauriers. Der Kopf mit der großen Augenhöhle und die Wirbelsäule sind plastisch sichtbar. Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Ein eindrucksvolles Fossil - die gut erhaltene Vorderhälfte eines
Ichthyosauriers. Der Kopf mit der großen Augenhöhle und die
Wirbelsäule sind plastisch sichtbar.
Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Je genauer und intensiver wir schauen, desto mehr Fossilien geben die Schichtflächen preis. Nicht zu übersehen sind die leuchtend weißen Donnerkeile: Belemniten, auch Teufelsfinger genannt, die weitläufig mit den heutigen Kalmaren verwandt sind. Massenhaft lugen die Kalkkegel aus dem dunklen Gestein. Ammoniten und Muscheln sind dagegen nur als flach gepresste Abdrücke ihrer Schalen überliefert. Trotz der schlechten Erhaltung sind schon im Gelände mit bloßem Auge mehrere Ammonitenarten zu unterscheiden. Gerade sie sind für die Alterseinstufung der Fundschichten von großer Bedeutung und belegen, dass es sich um früh-kreidezeitliche Sedimente handeln muss.

Bisher entdeckten wir am Tyndall-Gletscher 30 weitgehend vollständig erhaltene Ichthyosaurier-Skelette, dazu Fragmente wie isolierte Flossen und einzelne Knochen. Die größten Exemplare sind über vier Meter lang, aber einzelne Wirbel deuten auf die Existenz von mehr als fünf Meter langen Tieren hin. Seltener finden sich die Reste von Ichthyosaurier-Babys, die weniger als einen Meter maßen.

Diese Zahl von fossilen Skeletten in einem Fundareal von wenigen Quadratkilometern ist einzigartig für Chile und für Südamerika und deutet auf eine Fossilienfundstelle von internationaler Bedeutung hin. Räuber und Beute sind auf engstem Raum konzentriert: ein versteinertes Ökosystem, das schrittweise wieder ans Licht kommt.

Gerade angesichts dieser Bedeutung stellen sich Fragen über Fragen: Wie starben die Tyndall-Ichthyosaurier? Wie kam es zu einer solchen Konzentration von Skeletten in diesem Landstrich? Die Skelette liegen oft gemeinsam auf einer Schichtfläche. Weil jede Sandsteinschicht das Resultat einer Schlammlawine war, müssen die Tiere fast gleichzeitig ums Leben gekommen sein. Bei den Profilaufnahmen entdecken wir mehrere Schichten unterschiedlichen Alters mit solchen einstigen Leichenfeldern. Wie ist dieses Massensterben zu erklären? Und gewährt der Fundort vielleicht neue Einblicke in das Leben der Ichthyosaurier?

Die Suche nach Meeresreptilien aus der Unterkreidezeit bedeutet auch harte körperliche Arbeit: Eberhard 'Dino' Frey beim Heraussägen eines Skeletts. Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Die Suche nach Meeresreptilien aus der Unterkreidezeit bedeutet auch harte
körperliche Arbeit: Eberhard "Dino" Frey beim Heraussägen eines Skeletts.
Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Zunächst sind die geologischen Verhältnisse im Fundgebiet bedeutungsvoll: Die kreidezeitlichen Schichten des Tyndall-Gebiets bildeten sich am Fuße eines Kontinentalabhangs in einer Wassertiefe von vielleicht 1000 Metern. Sie entstanden aus untermeerischen Strömen aus Schlamm, Sand und Schutt. Ausgelöst von Erdbeben, vielleicht auch durch ihr Eigengewicht, lösten sich mächtige Sedimentpakete vom Schelfrand und rutschten in die Tiefe. Auf dem Weg nach unten "sortierten" sich die Lawinenbestandteile nach ihrer Schwere und Größe. Am Fuß des Ozeans blieb das grobe Geröll zuerst liegen, dann folgten nach und nach Sand und Schlamm. Derartig geschichtete Gesteine nennen Geologen "Turbidite". Die Gesteine des Tyndall-Gebiets liegen am Grund eines ehemaligen Canyons, der offenbar zur Todesfalle für Ichthyosaurier wurde. Tausende von Sedimentlawinen sind im Kreidemeer des Tyndall-Gebiets abgegangen und haben alles mitgerissen, was in ihren Sog geriet.

Wegen des Planktonreichtums wimmelte es am Rand des Schelfmeeres offenbar von Leben. Schwärme von Fischen und Belemniten-Tintenfischen jagten Jungfische und Kleinkrebse und wurden selbst gejagt von den großen Meeresreptilien, besonders den Ichthyosauriern. Wenn ein Erdbeben eine Schlammlawine auslöste, wurde alles in die Tiefe gerissen, auch die mächtigen Ichthyosaurier. Obwohl sie etwa 500 Meter tief tauchen konnten, hatten diese Augentiere in den Schlick- und Geröllmassen kaum eine Überlebenschance. In einer Tiefe von 1000 Metern kollabierten Brustkorb und Lunge. Am Fuß des Berghangs kam die Schlammlawine schließlich mit den in ihr eingebetteten verendeten Tieren zum Stillstand. Im Laufe der Zeit verfestigte sich der Schlamm zu Gestein und die Kadaver wurden von ungeheuren Sedimentlasten zusammengedrückt.

Jahrmillionen verstrichen. Der von Schlammlawinen aufgebaute unterkreidezeitliche Ozeanboden wurde am Ende der Kreidezeit zusammengeschoben, verfaltet, aus dem Ozean herausgehoben und teilweise wieder abgetragen. In der jüngeren Erdgeschichte drückte die pazifische Scholle die Gesteinsschichten nochmals zu Bergketten empor. Vulkanische Spalten brachen auf und füllten sich mit Magma. Dann kam das Eis. Gletscher hobelten die Felsen blank und legten schließlich die Skelette der Ichthyosaurier wieder frei.

Heute, nach dem Rückzug des Tyndall-Gletschers, liegen die Fossilien an der Oberfläche und sind Wind und Wetter ausgesetzt. Werden sie nicht geborgen, sind sie in wenigen Jahrzehnten wegerodiert. Umso wichtiger ist ihre Sicherung.

Auch der Witterung müssen die Forscher trotzen. Im Sturm können nur unter einer schützenden Plastikplane fossile Knochenfragmente zusammengeklebt werden. Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Auch der Witterung müssen die Forscher trotzen. Im Sturm können
nur unter einer schützenden Plastikplane fossile Knochen-
fragmente zusammengeklebt werden.
Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Nach anfangs besten Bedingungen schlägt das Wetter um. Sturm, Dauerregen, Graupel und Schneeschauer halten neun Tage an und verwandeln den Boden um unsere Zelte herum in eine Morastlandschaft. Kleine Bäche folgen den Drainagegräben, die die Zelte umgeben. An Geländearbeit ist nicht zu denken und selbst im Camp gerät jeder Schritt zur gefährlichen Rutschpartie. Dieses Wetter ist für den patagonischen Spätsommer ungewöhnlich. Erst in der letzen Woche kann wieder gearbeitet werden. Am letzten Tag entdecken wir an einer neuen Stelle zwei weitere Ichthyosaurier-Skelette, eins davon misst über fünf Meter. Bei Regen bauen wir ab und erwarten die Pferde, die uns schließlich nach einem fünfstündigen Ritt zurück in die Zivilisation bringen.

Aber das Team wird wiederkommen. Auch für das nächste Jahr planen wir eine Expedition ins Tyndall-Gebiet, mit besserem Gerät und mehr Helfern für die Bergung der Funde. Der Ichthyosaurier-Friedhof birgt noch viele Geheimnisse.

Reiter-Expedition im unwegsamen Tyndall-Gebiet am Südende des Patagonischen Eisfeldes. Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Reiter-Expedition im unwegsamen Tyndall-Gebiet am Südende des
Patagonischen Eisfeldes.
Foto: Arbeitsgruppe Stinnesbeck

Prof. Dr. Wolfgang Stinnesbeck forscht und lehrt an der Universität Heidelberg.
Prof. Dr. Eberhard Frey steht der Geowissenschaftlichen Abteilung am Staatlichen Museum für Naturkunde/Forschungsinstitut Karlsruhe vor.
Dr. Marcelo Leppe Cartes leitet die internationale Kooperation am Instituto Antárctico Chileno in Punta Arenas.

Adresse: Prof. Dr. Wolfgang Stinnesbeck, Im Neuenheimer Feld 234-236, 69120 Heidelberg

Die DFG fördert das Vorhaben im Normalverfahren.


*


Quelle:
forschung 3/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 20-23
mit freundlicher Genehmigung der Autoren
Herausgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Kennedyallee 40, 53175 Bonn
Telefon: 0228/885-1, Fax: 0228/885-21 80
E-Mail: postmaster@dfg.de
Internet: www.dfg.de

"forschung" erscheint vierteljährlich.
Jahresbezugspreis 2009: 59,92 Euro (print),
66,64 Euro (online), 70,06 Euro für (print und online)
jeweils inklusive Versandkosten und MwST.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. November 2009